Welch unglückliches Volk! Aus allem machen die Deutschen eine Ideologie, selbst aus dem Radeln. Seit innerstädtische Pedalritter im Combat-Dress mit Helm und Warnweste zu Helden der Klimakrise avanciert sind, seit handyfonierende Latte-Mamis mit Lastenfahrrad als Avantgarde der „Großen Transformation“ gelten und zweirädrig sich fortbewegende Hundehalter, ihre keuchenden Vierbeiner im Schlepptau, fossilen Automobilisten zeigen, wo der Hammer hängt, seit dieser Zeit hat Radeln seine Unschuld verloren.
Das ist schade, denn für mich verkörpert das Radfahren, neben der ganz normalen Fußläufigkeit, die simpelste, sanfteste, gesündeste und ökologischste Form der Fortbewegung überhaupt. Jedenfalls dann, wenn man damit anderen Menschen, die sich auf andere Weise fortbewegen, nicht den Krieg erklärt. Aber leider hat der eigentlich sympathische Boom der rein mit Körperkraft getriebenen Mobilität auf zwei, maximal drei Rädern den Charakter einer Machtübernahme angenommen.
Befeuert durch Corona wurden in vielen Großstädten überfallartig neue Fahrradwege markiert und massenweise Parkplätze dauerhaft zu Freischankflächen oder Fahrradstellplätzen umgewandelt (ich schrieb bereits darüber). Viele Menschen, die sich vor dem Virus fürchten, ob dies gerechtfertigt erscheint oder nicht, sind aufs Rad umgestiegen mit dem sie pandemisch unbeschadet zur Arbeit kommen und sich zudem die lästige Maskierung in öffentlichen Verkehrsmitteln ersparen.
Diese Entwicklung bescherte der Zweirad-Industrie einen markanten Umsatzsprung um 34 Prozent auf 4,23 Milliarden Euro, ein Anstieg, der aber den Einbruch in der Automobilindustrie wohl nicht wird kompensieren können. Dazu ist ein Fahrrad, wie die vielen herren-, damen- und kinderlosen Schrotträder am Straßenrand zeigen, doch eben kein Hightech-Produkt mit entsprechender Wertschöpfung. Wenn man einmal absieht von den ebenfalls mächtig boomenden E-Bikes, die streng genommen jedoch keine Fahrräder mehr sind, sondern Motorräder und behördlicherseits auch so behandelt werden sollten, inklusive Zulassung, Kennzeichen, Helmpflicht, Bußgeldkatalog und Verbot der Nutzung nicht eigens ausgewiesener Waldwege und Gebirgssteige. Dank Hilfsmotor kommen nämlich immer mehr Freizeit-Velozipedisten selbst im Hochgebirge Wanderern und Kletterern in die Quere, was schon zu Handgreiflichkeiten geführt haben soll. Doch das ist eine andere Geschichte.
Straßen als Radfahrern allein zustehendes Terrain
Die jahrelange Propagierung des Radverkehrs bei gleichzeitiger Verteufelung des Automobils in satt ergrünten Großstädten wie München hat unter anderem dazu geführt, dass Radfahrer unterdessen mit einem robusten Selbstvertrauen gesegnet sind und Automobilisten, die ihren Weg kreuzen, schon mal mit unflätigen Beschimpfungen überziehen. Dabei sehen sie nicht nur Straßen mit oder ohne Radstreifen als ihnen allein zustehendes Terrain an, sondern auch Bürgersteige, auf denen sich Eltern mit klobigen Cargo-Bike (Lukas und Lena inside), durchaus legal, zwischen Fußgängern mit und ohne Hund, Kinderwägen, Rollatoren, Skateboards und modischen Scootern mit und ohne Elektromotor den ihnen angeblich zustehenden Raum verschaffen, und jeder beherzte Tritt in die Pedale ein Statement für eine bessere Welt ist, das im Zweifelsfall auch verbal mit der gebotenen moralischen Rigorosität kommuniziert wird.
Ich bin selbst oft mit dem Fahrrad unterwegs, allerdings nur innerstädtisch. Vor kurzem habe ich sogar mein ÖPNV-Abo gekündigt, weil ich nur noch sporadisch in Bus, U- oder S-Bahn steige, nicht aus Furcht vor Ansteckung, sondern wegen Maskenpflicht, Überfüllung und Unpünktlichkeit. Außerdem macht es mir Spaß, gemächlich, auf dieses Wort lege ich besonderen Wert, durch die Gegend zu strampeln. Und zwar im Alltagsgewand – bei passenden Gelegenheiten auch in Abendgarderobe – ohne doofen Helm und spezielle Schutzkleidung. Bei Regen bleibe ich einfach zu Hause oder ich fahre mit Regenschirm, den es gilt, mal in der einen, mal der anderen Hand zu balancieren, um noch schalten, bremsen und abzeigen zu können.
Das schönste am Radfahren ist die Möglichkeit des kalkulierten und glücklicherweise meist gar nicht oder, wenn doch, eher milde sanktionierten Gesetzesbruches. Einmal fuhr ich nachts in München über eine leere Straßenkreuzung und missachtete gleich drei rote Ampeln. Leider war dies einer zufällig am Straßenrand parkenden Polizeistreife nicht entgangen. Durch ein rückhaltloses Schuldeingeständnis gelang es mir, die Beamten auf einen einzigen Rotlichtverstoß herunterzuhandeln. Das Bußgeld war ebenso überschaubar wie dessen individualpräventive Wirkung.
Mit zwanzig behelmten Radl-Rambos an der Ampel Schlange
Ich gebe unumwunden zu, dass ich als Radfahrer die Regeln der Straßenverkehrsordnung großzügig auslege. An roten Ampeln halte ich nur, wenn der Verkehr zu dicht ist oder ein Kind am Straßenrand wartet – man möchte ja kein schlechtes Vorbild sein, zumindest für die Jüngsten, die noch nicht wissen können, dass es völlig unsinnig wäre, an einer leeren Straße auf Grün zu warten, wenn einem im Fall des erwischt werdens kein Fahrverbot und Punkte in Flensburg drohen.
Das Schöne am Radeln ist doch, dass man sich ganz zwanglos im Verkehr bewegen kann, so zwanglos, wie es etwa die ständig hupenden und gestikulierenden Autofahrer in Neapel tun. Man mäandert über Straßen und Plätze, kann, bei gebotener Rücksichtnahme, rote Ampeln passieren, auch mal kurz auch auf den Bürgersteig ausweichen oder gegen die Einbahnstraße fahren, durch Parks und Grünanlagen sowieso. Wobei ich noch einmal betonen möchte, dass ich eben nicht zu denen gehöre, die meinen, ihnen müsse aus ideologischen Motiven heraus der gesamte öffentliche Straßenraum exklusiv zur Verfügung stehen. Ich nutze nur vorhandene Freiheitsgarde, wobei meine Freiheit da aufhört, wo andere in Ausübung ihrer Freiheit beschnitten, das heißt behindert oder gefährdet werden.
Die auch in München geplanten Fahrrad-Highways werde ich sicher nicht benutzen. Mit zwanzig behelmten Radl-Rambos an der Ampel Schlange stehen? Da kann ich gleich das Auto nehmen. Dass man als Radfahrer immer weiß, wohin mit seinem Gefährt, ist angesichts der von Klima bewegten Autohassern verursachten, sich ständig und absichtsvoll verschärfenden Parkplatznot vielleicht der größte Vorteil zweirädriger Mobilität. Wobei ich keine eigenen Stellplätze für meinen Drahtesel brauche. Eine Hausmauer, ein Baum oder ein Schaufenster, an die man das Rad lehnen, ein Straßenschild, an die man es festketten kann, finden sich überall. Und irgendwo müssen Autos ja auch stehen.