Wesentliche Teile der Eliten propagieren ein einseitig negatives Geschichtsbild der westlichen Zivilisation. Die Verachtung für die Errungenschaften unserer Vorfahren ist zutiefst antihuman.
In meinem neuen Buch „The War Against the Past: Why the West Must Fight For Its History“ vertrete ich die Auffassung, dass wir zu einem Zustand kultureller Lähmung verdammt sind, wenn wir unser historisches Gedächtnis nicht zurückgewinnen.
Dieser Akt des Zurückholens wird kein einfacher sein. Unser historisches Gedächtnis wird von einem beträchtlichen Teil unserer kulturellen Eliten immer wieder unter Beschuss genommen. Während viele der an diesem Kulturkampf Beteiligten sich darauf zu konzentrieren scheinen, die Art unseres Sprechens und Denkens im Hier und Jetzt zu kontrollieren, besteht ihre eigentliche Aufgabe darin, das Erbe der westlichen Zivilisation zu vergiften. Dieser unaufhörliche Angriff auf unsere Geschichte droht, die Erinnerung der Gesellschaft an die Vergangenheit zu verzerren und einen Zustand der historischen Amnesie herbeizuführen.
Meine Hauptthese ist, dass eine der wesentlichen Triebkräfte dieses Elitenkulturkampfs, wie der Titel meines Buches andeutet, in einem unerklärten Krieg gegen die Vergangenheit besteht. Die Anhänger des Kulturkampfs gegen die westliche Zivilisation verhalten sich bisweilen so, als sei deren Erbe eine Bedrohung für die heutige Welt. Ihr frenetischer Angriff auf die Symbole, Werte und Errungenschaften der westlichen Zivilisation zielt darauf ab, dass die Menschen sich ihrer kulturellen Herkunft und ihrer selbst schämen. Sie glauben, dass sie, indem sie die Darstellung der Vergangenheit kontrollieren, die ideologische Vorherrschaft über die Gegenwart erlangen können.
Versuch, die Vergangenheit zu kontaminieren
Dieses Projekt geht über die Umschreibung der Geschichte hinaus. Es geht darum, direkt in die Erinnerung der Gesellschaft an die Vergangenheit einzugreifen, sie zu vergiften und ihre großen Errungenschaften zu delegitimieren. Nehmen wir die jüngste Entscheidung der National Gallery in London, John Constables ikonisches Gemälde „Der Heuwagen“ aus dem 19. Jahrhundert, als „umstrittene Landschaft“ zu präsentieren. Den Kuratoren geht es dabei nicht darum, ein großartiges Kunstwerk auszustellen, sondern darum, zu skizzieren, was Constable hätte malen sollen. Sie werfen Constable vor, dass er es versäumt hat, die sozialen Probleme anzusprechen, die das ländliche England im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert quälten. Die „Anfechtung“ dieses Kunstwerks bedeutet, seine Integrität in Frage zu stellen und den Betrachter zu ermutigen, eine zynische Haltung gegenüber Constables idyllischer Vision der ländlichen Vergangenheit einzunehmen.
Dieser Versuch, die Vergangenheit zu kontaminieren und große historische Persönlichkeiten zu unseren moralischen Untergebenen zu machen, ist oft vom Willen nach Rache geprägt. Shakespeare ist eine beliebte Zielscheibe. Er wird heute häufig als Prototyp eines Anhängers weißer Vorherrschaft angegriffen, obwohl es im England des 16. Jahrhunderts den Begriff der Ethnie noch gar nicht gab. Wie die Kuratoren der National Gallery – die Constable beschuldigen, soziale Ungerechtigkeit zu vertuschen – behaupten zahllose Wissenschaftler und Schriftsteller anachronistisch, Shakespeares große Stücke enthielten eine rassistische Botschaft.
Ein Theaterensemble änderte sogar die Sprache von „Titus Andronicus“ im Vorfeld einer Aufführung im Londoner Globe Theatre im Jahr 2022, um den angeblich impliziten rassistischen Charakter des Stücks zum Vorschein zu bringen. Dem Regisseur Jude Christian zufolge müsse die Sprache der Inszenierung deutlicher auf die Sichtweise des heutigen Publikums abgestimmt werden. „Der Rassismus im Stück wird durch Shakespeares Sprache verschleiert", so Christian. „Wir haben klar gemacht, was die Worte zu Shakespeares Zeiten bedeuteten."
Antirassistische Shakespeare-Webinare
Aber Christians Inszenierung hat die Bedeutung von Shakespeares Sprache in Wahrheit nicht zum Vorschein gebracht. Vielmehr legte er Shakespeare die Worte der Gegenwart in den Mund. In ihr wurden antiquierte Begriffe aus dem 16. Jahrhundert wie „Mohr“ und „rabenfarben“ durch zeitgenössische Ethno-Ausdrücke wie „schwarz“ ersetzt. Durch diese Neufassung werden die ideologischen Vorstellungen des 21. Jahrhunderts über ethnische Fragen in ein über vier Jahrhunderte altes Stück eingefügt.
Nach den Black-Lives-Matter-Protesten im Jahr 2020 organisierte das Globe sogar antirassistische Shakespeare-Webinare, um Rasse und soziale Themen in Shakespeares Werken zu diskutieren. An einer amerikanischen Universität wurden „Titus Adronicus“ und andere Shakespeare-Stücke „durch die Brille der Critical Race Theory diskutiert“.
Für die Kulturkämpfer von heute ist nicht die Schönheit und Kühnheit der Sprache Shakespeares wichtig, sondern die angeblich verborgene Bedeutung seines Werks. Denjenigen, die versuchen, die Texte des Dichters zu rassifizieren, ist viel mehr daran gelegen, was er nicht gesagt hat, als daran, was er gesagt hat. Sie gehen in ihrer Arroganz davon aus, dass ihre Versionen dieser Stücke, die auf dem basieren, was er „wirklich meinte“, dem überlegen sind, was Shakespeare tatsächlich geschrieben hat.
Es gibt einen Grund, warum gerade Shakespeare als Ideologe des „Weißseins“ hingestellt wird. Das liegt nämlich daran, dass er als die Schlüsselfigur des westlichen Kulturkanons gilt. Indem sie ihn als Verfechter der weißen Vorherrschaft darstellen, versuchen die Kulturkämpfer, den Ruf einer der grundlegenden Figuren unserer gesamten literarischen Tradition zu beschädigen. Sie wollen ihn von seinem Sockel stoßen, sein gesamtes Werk in Frage stellen und den gesamten Kulturkanon entwerten.
Geschichte unaufhörlich in den dunkelsten Farben malen
Kulturkämpferische Angriffe auf Persönlichkeiten wie Constable und Shakespeare sind heute an der Tagesordnung. Selten wurde so viel Energie darauf verwandt, historische Persönlichkeiten und Institutionen in Frage zu stellen und zu kritisieren. Aktivisten scheinen zu versuchen, zeitgenössische Probleme lösen zu wollen, indem sie unser gemeinsames historisches Erbe angreifen und kolonisieren. Auf diese Weise verwischen sie die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Der Kreuzzug gegen die Vergangenheit hat sich als besonders erfolgreich dabei erwiesen, die Gesellschaft in ihrer Breite von ihrer eigenen Geschichte zu entfremden. Öffentliche und private Institutionen malen die Geschichte unaufhörlich in den dunkelsten Farben und entschuldigen sich für so ziemlich alles Geschehene, egal wie lange es her ist. Selbst die spektakulärsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation, von der griechischen Philosophie über die Aufklärung bis hin zu den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritten der Moderne, werden heute regelmäßig wegen ihrer angeblichen Verbindung zu Ausbeutung und Unterdrückung angeklagt.
Es ist nicht nur eine kleine Clique von schlagzeilenträchtigen Historikern, die versuchen, die Aufmerksamkeit auf die bösartige, unterdrückerische, ausbeuterische und missbräuchliche Dimension der Vergangenheit zu lenken. In vielen Kulturbereichen hat die Geschichte heute den Status der „schlechten alten Zeit“.
Diejenigen, die die Geschichte auf diese Weise verdammen, fordern häufig einen Bruch mit der Vergangenheit und ihrem Erbe. Laut ihnen sei dies notwendig, weil die Gesellschaft im Allgemeinen nicht in der Lage sei, das von früheren Generationen begangene Unrecht einzugestehen. Sie behaupten, dass die negativen Aspekte der Vergangenheit die positiven bei weitem überwiegen, und sind skeptisch gegenüber dem Wert eines kulturellen Erbes, das Gemeinschaften über Jahrhunderte hinweg inspiriert hat.
Die geschichtliche Sicht der „schwarzen Armbinde“
Einen Großteil ihrer moralischen Verurteilung widmen sie den historischen Errungenschaften der europäischen Gesellschaften. In dieser Negativgeschichte werden inspirierende historische Erfahrungen und Leistungen heruntergespielt oder in Frage gestellt. Der australische Historiker Geoffrey Blainey bezeichnete dies während der Auseinandersetzungen um die Behandlung der australischen Ureinwohner in den 1990er Jahren als die geschichtliche Sicht der „schwarzen Armbinde“ – eine Geschichte, die vergangene Untaten beklagt.
Einer amerikanischen Vertreterin dieser negativen Geschichtsauffassung zufolge sollten die Vereinigten Staaten ihre eigene Gründung als eine Quelle der Schande betrachten. Sie haben „immer noch nicht den Mumm, über die Schulter zu schauen um direkt auf das Böse zu starren, auf dem dieses große Land beruht“, schreibt sie. Nach dieser Ansicht, die im „1619 Project“ der New York Times in Reinkultur vertreten wird, weist die Vergangenheit der Vereinigten Staaten nur wenige ehrenwerte Qualitäten auf.
In diesen negativen, anklagenden Geschichten ist eine Teleologie des Bösen am Werk. Sie reduzieren die Geschichte auf eine Geschichte der sich entfaltenden Bösartigkeit – eine Bösartigkeit, die sich auch heute noch in unterdrückerischem und ausbeuterischem Verhalten manifestiere. Für die Vertreter dieser Sichtweise ist es unerlässlich, die Gegenwart vom Einfluss der Vergangenheit zu bereinigen, die Gegenwart von der Geschichte loszureißen. In jüngster Zeit hat sich diese Sichtweise von einem Bedürfnis, mit der Geschichte zu brechen, zu einem Wunsch entwickelt, sich an ihr zu rächen.
Jahr-Null-Ideologie
Dies führt zu einem Paradoxon. Diejenigen, die die Gegenwart von der Vergangenheit losreißen wollen, sind gleichzeitig von ihr besessen. Dieses Paradoxon kommt bei den Verfechtern einer Ideologie zum Ausdruck, die ich als Jahr-Null-Ideologie bezeichne. Sie verfolgen ein doppeltes Ziel: die Vergangenheit auszulöschen und das mit ihr verbundene historische Gedächtnis zu brandmarken. Sie wollen die westliche Zivilisation verurteilen und gleichzeitig immer mehr Persönlichkeiten und Errungenschaften der Vergangenheit verdammen und bestrafen.
Die Jahr-Null-Aktivisten beurteilen die Vergangenheit nach den Normen und Werten von heute und sehen dabei auf alle herab, die uns vorausgegangen sind. Diese verächtliche Haltung gegenüber der Welt unserer Vorfahren lässt die besonderen historischen Umstände, unter denen sie lebten, außer Acht. Sie würdigt auch nicht den langen und schwierigen Weg, den die Menschheit vor Tausenden von Jahren eingeschlagen hat. Anstatt zu versuchen, die unterschiedlichen historischen Erfahrungen zu verstehen, durch die sich die Einstellungen und Verhaltensweisen von Einzelnen und Gemeinschaften entwickelt haben, ziehen es die Jahr-Null-Aktivisten vor, sie für ihr abergläubisches, traditionsgebundenes und unterdrückerisches Verhalten anzuklagen.
Dies bedeutet, die Geschichte rückwärts zu lesen. Es bedeutet, vergangene Gesellschaften nach den Erfahrungen und Werten der heutigen Welt zu behandeln. Menschen aus der Vergangenheit werden verächtlich als moralisch Unterlegene abgetan, denen das Bewusstsein ihrer Kritiker aus dem 21. Jahrhundert fehlt.
Dies läuft auf einen selbstschmeichlerischen Präsentismus hinaus. Er schwächt das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft und führt unweigerlich dazu, dass verschiedene historische Momente nicht in ihrem spezifischen Kontext erfasst werden. Die Integrität der kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit wird zunehmend mit Gleichgültigkeit behandelt. Deshalb setzen sich zeitgenössische Kritiker mit einem Gemälde von Constable auseinander, als ob es die ländliche Armut thematisieren sollte, oder mit einem Theaterstück von Shakespeare, als ob es eine politische Aussage des 21. Jahrhunderts sei.
Einer tiefe historischen Amnesie
Wir sind Zeugen der Auflösung jeglicher historischer Kontinuität und der Entwicklung einer tiefen historischen Amnesie. In den späten 1970er Jahren gehörte der amerikanische Historiker Christopher Lasch zu den ersten, die die kommende Krise erkannten. „Wir verlieren schnell den Sinn für historische Kontinuität“, schrieb er 1979 in „The Culture of Narcissism“, „das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Reihe von Generationen, die aus der Vergangenheit stammen und in die Zukunft reichen.“
Seit den 1970er Jahren ist dieser Verlust jeglichen Sinns für historische Kontinuität zu einer bewusst herbeigeführten Form der historischen Amnesie mutiert. So warnt der Historiker Tony Judt:
„Von allen unseren zeitgenössischen Illusionen ist die gefährlichste diejenige, die alle anderen untermauert und begründet. Und das ist die Vorstellung, dass wir in einer Zeit ohne Vorgeschichte leben: dass das, was uns widerfährt, neu und unumkehrbar ist und dass die Vergangenheit uns nichts zu lehren hat.“
Der Krieg gegen die Vergangenheit hat unser Geschichtsbewusstsein weiter geschwächt und unsere soziale Amnesie verstärkt. Dies stellt uns vor große Herausforderungen. Der Präsentismus schränkt das Verständnis der Gesellschaft für die historische Variabilität und den Wandel sowie für die Rolle des menschlichen Handelns bei der Gestaltung der Welt ein.
Die Verachtung für die Errungenschaften unserer Vorfahren ist zutiefst antihuman. Mit der Behauptung, dass die Menschen in der Vergangenheit so wenig erreicht haben, das sich zu bewahren und zu loben lohnt, stellen die heutigen Kulturkämpfer den moralischen Status der Menschheit selbst in Frage. Der Schaden, der durch die Vandalisierung der Vergangenheit angerichtet wird, liegt überall um uns herum. Die jungen Menschen wachsen heute mit einem schwachen Gefühl der Verbundenheit mit dem auf, was ihnen vorausging. Sie sind die menschlichen Opfer des Krieges gegen die Vergangenheit.
Dieser Angriff auf die Vergangenheit wirkt sich auch auf das Verhältnis der westlichen Gesellschaft zur Zukunft aus. Früher sahen wir sie vor allem als Chance, auf den Schultern unserer Vorfahren aufzubauen, als Chance, die Welt, die sie uns hinterlassen haben, fortzuführen und zu verbessern. Diese positive Einstellung und Zuversicht haben sich verflüchtigt. Heute ist der Westen in einem gegenwärtigen Sumpf gefangen und hat sich gegen sich selbst gewandt. Er ist voller Selbsthass. George Santayana, ein spanisch-amerikanischer Philosoph und Dichter, sagte einmal: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“. Eine Nation, die sich nicht an ihre eigene Geschichte erinnern kann, beraubt sich selbst einer Zukunft.
1984 und heute
Bei der erneuten Lektüre von Orwells 1984 fällt mir eine Passage auf, die vor dem Verlust des historischen Gedächtnisses warnt. Ein Kollege in der Archivabteilung des Wahrheitsministeriums warnt den Protagonisten des Romans, Winston Smith:
„Mit dem Jahr 2050 - aber vermutlich schon früher - wird jede wirkliche Kenntnis der Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neusprachfassungen vorhanden sein, und damit nicht einfach umgewandelt, sondern zu dem Gegenteil von dem verkehrt, was sie waren.“
Wir schreiben zwar noch nicht das Jahr 2050, aber der Kreuzzug zur Verfälschung des Verständnisses der Vergangenheit ist in vollem Gange. Die heutigen Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums berauben die Gesellschaft, insbesondere die jungen Menschen, systematisch ihres kulturellen Erbes. Ihr Ziel ist es, die Vergangenheit zu einem Objekt der Schande zu machen.
Eine Gesellschaft, die sich für ihr historisches Erbe schämt, verirrt sich unweigerlich. Ihre Fähigkeit, ihre Kinder zu sozialisieren, lässt schnell nach und stürzt sie in eine permanente Identitätskrise. Es ist unsere Verantwortung gegenüber den jungen Menschen, ihnen den Zugang zum Erbe der Vergangenheit zu ermöglichen. Es bildet die Grundlage für eine echte Solidarität in der Gesellschaft und zwischen den Generationen. Ohne sie wird die Gesellschaft enthistorisiert und verliert sich in einer zeitlosen Einöde.
Wie schon Shakespeare uns aus dem Munde des Earl of Warwick erinnerte: „Ein Hergang ist in aller Menschen Leben“. Der Mensch ist ein historisches Wesen, und die Vergangenheit lebt durch uns. Ein Gefühl für die Vergangenheit zu besitzen, ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschseins. Ohne sie sind wir alle niedrigere Wesen.
Dies sind gefährliche Zeiten. Aber der Krieg gegen die Vergangenheit ist noch nicht vorbei. Es gibt noch viel zu erkämpfen.
Dieser Beitrag ist zuerst auf spiked erschienen.
Frank Furedi @Furedibyte ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor von "The War Against the Past: Why the West Must Fight For Its History” und politischer Kommentator der Gegenwart.