Neulich lustwandelte ich in unserer vorweihnachtlich geschmückten Fußgängerzone des Jahres 2020, als mich's mit heller Stimme ansprach: „He, Sie, was machen Sie hier?“, wollte eine bezopfte und bemaskete junge Dame des örtlichen Sheriff-Schergen-Haufens – genannt Ordnungsamt – von mir wissen. „Ich laufe. Also, jetzt ja nicht mehr, jetzt stehe ich, warum?“, wollte ich zurück wissen. „Warum laufen Sie hier?“, fragte die junge Dame hinter ihrem Mundnasenschutz zurück.
„Weil dies hier eine Fußgängerzone ist. Da darf ich nicht mit dem Auto fahren“, stellte ich verkehrsordentlich korrekt fest. „Nein, ich meine, aus welchem Grund laufen Sie hier?“, hakte die Büttelin der Stadt unbarmherzig nach. Ich überlegte einen Moment. „Für Schwimmen ist hier zu wenig Wasser und fliegen kann ich nicht“, erklärte ich und streckte in Nachahmung einer segelnden Schwalbe die Arme aus: „Sehen Sie? Keinen Millimeter geht es nach oben!“
Bei meiner Gegenüberin wurde etwas Ungeduld bemerkbar: „Nun werden Sie mal nicht frech! Welches Ziel haben Sie?“ „Fett, reich und berühmt zu werden, den ersten und letzten Punkt habe ich aber schon abgehakt oder was meinen Sie?“, fragte ich vorsichtshalber nach. Die Ordnungsamtschikanöse rollte die Augen. „Sie finden sich wohl sehr witzig?“, wurde sie nun etwas persönlicher.
Ich nickte mit dem Kopf, und hätte ich die seltsame Maske nicht getragen, hätte sie mich lächeln sehen. Fand ich tatsächlich. „Wo gehen Sie hin?“, wollte sie jetzt wissen, im verzweifelten Versuch, ihre Frage konkret zu formulieren. „Sind Sie sich darüber im Klaren, dass Sie soeben diese eine Frage gestellt haben, die uns Menschen seit Anbeginn der Zeit beschäftigt? Wo kommen wir her und wo gehen wir hin?“, hob ich unsere kleine Plauderei auf eine philosophische Ebene.
„Verwarngeld wegen grundlosem Aufenthalt in einem Seuchengebiet“
„Sie kriegen jetzt ein Ordnungsgeld“, stellte meine Antipodin fest, „weil Sie mir nicht sagen können, auf welchem Weg Sie sich befinden.“ Dabei zückte sie aus ihrer Werkzeuggürteltasche ein Gerät im Format eines 90er-Jahre-Mobiltelefons. „Doch!“, protestierte ich, „das könnte ich, wenn Sie mich richtig fragen! Und ich habe auch schon eine Menge korrekter Antworten gegeben!“ Sie seufzte: „Okay. Letzte Chance“, sie war konziliant, „was ist Sinn und Zweck Ihres Ganges durch die Fußgängerzone? Gehen Sie zum Arzt, zum Einkaufen, zur Arbeit oder was ist sonst Ihr Grund?“ „Was wäre die korrekte Antwort?“, fragte ich zurück. „Das ist hier kein Quiz“, herrschte Sie mich an. „Muss ich mir eine Möglichkeit aussuchen, oder kann ich alles drei nehmen?“, versuchte ich ein weiteres Mal, die Spielregeln zu klären.
Ein Fahrradfahrer mit Kapuzenpulli, dem wir anscheinend im Weg standen, sauste an uns vorbei, nicht ohne uns beiden Hübschen ein „Ihr Wichser“ aus dem unbedeckten Mund entgegenzuschleudern. „Da, der hatte keine Maske auf“, insistierte ich empört, aber meine Stadtbedienstete mit Pferdeschwanz blieb gelassen. „Um den kümmere ich mich später!“, stellte sie trocken fest. „Aber dann ist er weg“, argumentierte ich aufgeregt, „und wo der hin fährt, wissen Sie auch nicht!“ „Es geht nicht um den Fahrradfahrer“, blieb meine Interviewerin hart, „sondern um Sie!“ Okay. Ich musste mich also konzentrieren. „Was waren die Auswahlmöglichkeiten?“, fragte ich nach und sah sie vor meinem geistigen Auge mit künstlich aufgeblasener Oberweite, überschminktem Mund und gebotoxter Stirn und hörte sie sagen: „Sänd sä: a) auf Wäg zo Arbrbeitt oderr bä) auf Weg zu Einkaufen oderr cä) auf Wäg zo Arrzzt“ und dann musste ich lachen.
„Was ist so witzig?“, wollte meine mutmaßliche Verwarnerin irritiert wissen. „Nichts“, behielt ich meine Gedanken bei mir, „aber keine der obigen Möglichkeiten ist zutreffend.“ „In diesem Fall“, sie schwenkte ihre Autotelefongerätschaft vor mir her, „muss ich Ihnen leider ein Verwarngeld wegen grundlosem und damit unerlaubtem Aufenthalt in einem Seuchengebiet ausstellen.“ Und ich hatte das Gefühl, dass das Wort „leider“ gelogen war und es ihr eine tiefe innere Befriedigung verschaffte, mir ein Ticket zu verpassen. „Nein, das müssen Sie nicht“, entgegnete ich, „es sei denn, Sie beherrschen das Tastaturschreiben!“
Sie wirkte irritiert. „Was meinen Sie damit“, wollte sie wissen. „Dass ich, wenn Sie mir eine Verwarnung geben, ich gegen Sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde in die Wege leiten werde, Frau …“, ich sah auf ihre Brust, auf der ihr Name stand, „… Frau Mesenkampp.“ „Das können Sie ruhig machen“, erwiderte sie kalt wie ein Eiswürfel auf Pluto, „aber das wird nichts bringen.“ „Vielleicht ja, vielleicht nein“, sagte ich, „aber in jedem Fall dürfen Sie dann im Büro hocken und eine Stellungnahme schreiben, was Sie im Zweifingersuchsystem jede Menge Zeit kostet und jede Menge Frust erzeugen wird!“
„Und warum sagen Sie das nicht gleich?“
Frau Mesenkampp mit Doppel-P legte den Pferdezopf und damit ihren Kopf schief und dachte nach: „Wissen Sie was? Wenn Sie mir den wahren Grund für Ihren Gang verraten, dann sehe ich von einer Anzeige ab und belasse es bei einer mündlichen Verwarnung …“ Das klang nach einem Angebot. „Der Grund meines Ganges auf den auch von meinen Steuergeldern bezahlten Gehwegplatten dieser so gut wie menschenleeren Flaniermeile ist folgender: Ich habe soeben beim Arzt Nahrungsergänzungsmittel für mein Geschäft gekauft, wodurch ich alle drei genannten Gründe für mein berechtigtes Wandeln hier erfüllt hätte, wäre ich auf dem Hinwege gewesen. Aber …“, ich hob die Stimme und den rechten Zeigefinger, um meinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, „es kommt noch besser:
Da es bei meinem Arzt kein Dimensionsportal gibt, erfülle ich nun keinen der genannten Gründe, denn ich befinde mich auf dem Weg zu meinem Kraftfahrzeug, um nach Hause zu gelangen, wo ich freudig die Türe hinter mir schließen und mit einer weiteren Person meines Haushalts traut zusammen sein werde.“
„Und warum sagen Sie das nicht gleich?“, fragte Frau Mesenkampp und ließ ihr Verwarngerät wieder im Gürtel verschwinden. „Weil, oh Angestellte der Stadt, Sie mich exakt dies nicht gefragt haben und ich tatsächlich der Meinung bin, dass das Sie oder den Staat in einer Fußgängerzone, in der ich mich trotz klirrender Kälte mit einer Gesichtsmaske, die meine Brille beschlagen lässt, aufhalte, schlicht nichts angeht. Deswegen! Weil wir nicht im Kindergarten sind! Ich wünsche frohe Weihnachten!“ Und dann ging ich, bevor sie es sich anders überlegen würde.
(Weitere frucht- und furchtlose Diskussionen des Autors auch unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.