Gunnar Heinsohn / 01.11.2022 / 10:00 / Foto: Achgut.com / 133 / Seite ausdrucken

Putinsturz durch heimkehrende Truppen?

Eroberungskriege aus einer demografisch so desolaten Nation wie Russland hat es bisher nicht gegeben. Das weiß auch Putin. Seine Fehlkalkulation, was die Motivation der eigenen Truppen und den ukrainischen Widerstandsgeist betrifft, könnte ihn die Macht kosten.

Wütend aus dem Ukrainekrieg zurückkehrende Soldaten könnten – wie 1917 in Sankt Petersburg – ihre Enttäuschung in eine Rebellion umsetzen, die zum Kollaps Russlands führt. Solche Überlegungen kennen wir nicht nur aus militärischen Analysen – etwa vom scharfsinnigen Ben Hodges –, sondern auch von russischen Soldaten, die in den Westen fliehen konnten und von dort ihre Kameraden für einen Aufstand gewinnen wollen. Doch wie wahrscheinlich ist ein solches Vorgehen?

Von 1800 bis 1900 verzeichnet Russland durchweg 45 bis 50 Neugeborene auf 1.000 Einwohner. Im Jahr 2000, als jetzt Kämpfende und Fallende zur Welt kommen, sind es 8,8 und auch 2021 erreicht das Land lediglich knapp 10, wobei ethnische Russinnen noch darunter liegen. 

Die militärische Pattsituation von 1917 zwischen Berlin und Petersburg, die im Februar die Abdankung des Zaren bringt, führt zu größten je erlebten Ansammlung von Soldaten und Matrosen in den Zentren russischer Macht. Das Zarenreich hatte zwischen 1870 und 1914 von 70 auf 142 Millionen Einwohner und damit stärker als die übrigen europäischen Mächte zugelegt. Die bäuerlichen Familien mit sechs bis zehn Kindern benötigen nur einen Bruchteil der noch nicht demobilisierten jungen Männer in der Landwirtschaft. Für deren Versorgung wird es zusätzlich eng, weil die erhofften Eroberungen für die Versorgung nichterbender Brüder ausgeblieben sind. Überdies gehen – mit Finnland, dem Baltikum und Polen – wichtige Territorien verloren, in denen Russen die attraktivsten Posten zu besetzen pflegten.

Das tangiert Karriereerwartungen der ebenfalls geburtenreichen Adels- und Bürgerfamilien. So verwundert nicht, dass durch Überläufer schließlich 90 Prozent der roten Kommandeure aus dem zaristischen Offizierskorps stammen. Die Lage ähnelt partiell der türkischen Oberschicht, die fast gleichzeitig das Osmanische Reich verliert und sich nach Anatolien rettet, wo sie Ländereien und Posten der dort heimischen Griechen und Armenier durch Ausrottung oder Vertreibung übernimmt.

Keine demografische Vitalität mehr

Das 1917er Brot-, also Arbeitsversprechen der Bolschewiken trifft mithin auf millionenfache und verzweifelte Zukunftserwartungen. Der daraus resultierende Umsturz bzw. Bürgerkrieg mit Ermordung der Zarenfamilie kostet bis 1923 rund 1,5 Millionen Gefallene und Hingerichtete. Zusätzlich sterben bis zu 5 Millionen Menschen durch Vertreibungen, Seuchen und Hunger. Die Opfer werden in den Familien betrauert, aber im Endeffekt wie eine leicht erhöhte und bald vorübergehende Kindersterblichkeit ertragen. Selbst die rund 800.000 Opfer von Stalins „Großer Säuberung“ in den Jahren 1936–38 bleiben demografisch undramatisch. Einzige Söhne sind so gut wie nie betroffen. Es sterben die enorm starken 1880er/1890er-Jahrgänge, die Familiengründung und Fortpflanzung hinter sich haben. Anders als Hitlerdeutschland, das auch die Kinder von Juden und polnischer Intelligenz ermordet, darf der Nachwuchs der von Stalin Exekutierten leben und durch ideologischen Eifer auch nach oben kommen. Noch 1937 bis 1939 erreicht Russland 40 Neugeborene auf 1.000 Einwohner. Die ungeheuren Menschenverluste durch Deutschlands Angriff im Jahre 1941 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sind bis 1955 ausgeglichen.

Nichts von dieser demografischen Vitalität existiert im heutigen Russland. Die zwischen 2010 und 2018 von 65 auf 73 Jahre gestiegene Lebenserwartung ist bis 2021 wieder auf 70 abgerutscht. Die zahlenmäßig schwächsten Alterskohorten überhaupt sind die momentan 15–29-Jährigen, aus denen aktive Soldaten und angehende Rekruten gewonnen werden müssen. Selbst in absoluten Zahlen hat das Land mindestens seit 1870 niemals weniger 15–29-Jährige zur Verfügung gehabt als heute.

Wer von ihnen umkommt, ist statistisch einziger Sohn oder gar einziges Kind seiner Mutter. Woher sollten ihre Rächer denn kommen? Und wie sollten Bewaffnete bis nach Moskau gelangen und dann ins Herz der Diktatur vordringen, das ja nicht von der Armee, sondern von der Elitedivision Dzerzhinsky des Innenministeriums bewacht wird?

Eine Aktion, die unblutig verläuft und Putin dennoch stürzt?

Konspiration ist auch von den seit September 2022 Zwangsrekrutierten kaum zu erwarten. Sie haben ein Durchschnittsalter von 35 Jahren und kommen aus den letzten Kohorten – 1987 gibt es 2,2 Kinder pro Frau – gerade noch oberhalb der Nettoreproduktion von 2,1 Kindern. Wer von ihnen fällt und sich noch nicht fortgepflanzt hat, löscht seine Familienlinie genauso aus wie die 90.000 bisher schon Gefallenen oder Invaliden. Übertragen auf die deutsche Bevölkerung mit noch etwas höherem Durchschnittsalter wären das 55.000, in Österreich oder der Schweiz ein Zehntel davon. Für die USA, die in allen Kriegen nach 1945 real 102.000 Gefallene zu beklagen hatten, betrügen die Ausfälle sogar 214.000 Tote und Verwundete.

Putins durchaus hohe – ab 2007 gezahlte – Gebärprämien steigern zwar in der kurzen Zeit von 2008 bis 2016 die Geburten auf 12 bis 13 pro 1.000 Einwohner. Es werden aber selbst damit nur 25 Prozent der zarenzeitlichen Volumina erreicht. Für die Armee sind die 2008 Geborenen 2022 ohnehin noch viel zu jung. Überdies studieren sie an mindestens 400.000 Rekrutierungsflüchtlingen, wie man sich beizeiten in Sicherheit bringt. Nun befinden sich gerade unter den jetzt entkommenen Talenten die Köpfe, die man nicht nur für das Organisieren einer Umwälzung, sondern auch für den Neubeginn benötigt. Kommt meine Heimat wieder nach oben, wenn ich bleibe oder zurückkehre? Diese fundamentale Frage potenzieller Auswanderer stellen sie sich in ihren Notdomizilen. Wird sie negativ beantwortet, gibt es für Russland nur noch permanenten Niedergang.

Eroberungskriege aus einer demografisch so desolaten Nation wie Russland hat es bisher nicht gegeben. Das weiß auch Putin. Geplant hatte er nur Invasion, Kapitulation und Ausrottung des ukrainischen Nationalismus. Auf Widerstand beim ja ebenfalls vergreisenden Gegner hatte er nicht gerechnet. Dass auch Alternde sich wehren, wenn man sie mit Genozid bedroht, war seine entscheidende Fehlkalkulation. 

Natürlich kennen auch Armee und Innenministerium, also die Geheimdienste, das demografische Fiasko Russlands und den immensen Kompetenzverlust durch Tod oder Abwanderung der raren Jugend. Eine gegen Moskau marschierende Bürgerkriegsarmee fürchten sie zwar nicht, den Ruin der Nation und damit den Verlust des eigenen Wohlstands aber schon. Sie dürften deshalb eine Aktion planen, die unblutig verläuft und Putin dennoch stürzt. In dieser Inszenierung wird so verfahren, dass er – aus gesundheitlichen Gründen – seinen Rücktritt persönlich ankündigen und auch seinen Nachfolger ins Amt einführen darf, diesen allerdings nicht selbst auswählt. Im Gegenzug bleiben ihm Vermögen, Paläste und Residenzen der Geliebten. Das wird ihn vor internationaler Strafverfolgung nicht bewahren, aber doch vor der Auslieferung an die zuständigen Instanzen schützen.

 

Gunnar Heinsohn (*1943) hat von 1993 bis 2009 an der Universität Bremen Europas erstes Institut für vergleichende Völkermordforschung geleitet. 2011 hat er am NATO Defense College (NDC Rom) das Fach Kriegsdemographie eingeführt und bis 2020 gelehrt. 

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Eugen Karl / 01.11.2022

Wir leben doch schon lange im real existierenden Feminismus. Des Autors Obsession der jungen Männer, allüberall ganz monokausal der einzige Faktor, der für Kriege infrage kommt, ist da doch längst ausgeträumt. Denn nach den jungen Männern kommen die jungen Frauen und weiter geht’s. Dann werden sich eben die Frauen abschlachten. Und jener amerikanische Senator, der das ungewollte Bonmot zum besten gab: “Wir kämpfen gegen Rußland bis zum letzten Ukrainer”, kann sich auf eine spannende Verlängerung freuen. Heil dem Kriege, für die gute Sache ist uns nichts zu teuer!

Sven Hoffmann / 01.11.2022

Gestern Thilo. Heute Gunnar. Morgen wahrscheinlich Henryk M. persönlich? Großoffensive bei der Achse? Und dass obwohl den Herrschaften die Reaktionen auf ihre Beiträge von vornherein klar sein dürften. Oder gerade weil das Feedback erwartbar ist, muss man wohl jetzt eine Art Dauerfeuer eröffnen? Eine gemeinsame Kraftanstrengung muss doch endlich mal Wirkung zeigen. Macht es aber nicht, wie die vielen guten Kommentare hier beweisen. Danke allen, die aus verständlichen Gründen standhaft bleiben und den üblen Moralaposteln unermüdlich und fundiert Paroli bieten. Danke aber auch an die Achse für die Veröffentlichung der Leserbriefe! Fällt bestimmt sauschwer. Respekt! Zur Glückseligkeit würde mal ein Gastbeitrag eines Relativierers beitragen. Trauen Sie sich?

S.Niemeyer / 01.11.2022

Lasse mich ungern für blöd verkaufen - warum, sehr geehrter Herr Heinsohn, berichten Sie als ehemaliger Nato-Mitarbeiter nicht von den traditionellen atlantischen Rezepten für Regime Change in anderen Ländern, von den Finanzierungen, den Trainings für Aktivisten,  den Aktivitäten der NGOs, von dem Gegeneinander-Hetzen ethnischer Gruppen, den getriggerten tribalistischen Führern, Warlords etc., von der gezielten Fütterung der MSM mit dementsprechenden Narrativen? Schmutzige Grüße aus Langley, D.C.,London und einschlägigen Administrationen sind doch nichts Neues, siehe auch Maidan 2014. Wenn Sie sagen würden, es ginge Ihnen um Regime Change mit allen Mitteln, wäre es wohl ehrlicher.

A. Buchholz / 01.11.2022

Jeden Tag ein neuer Achse-Erziehungs-Artikel. Bei soviel aufrechtem Gang, straffer Haltung und klarer Kante kann schon mal die Bodenhaftung verloren gehen.

Thomin Weller / 01.11.2022

Ach, nun wird die demografisch, historische Kriegskarte gezogen. Ein echter Joke “Keine demografische Vitalität mehr” In ganz Europa inklusive China ist die Bevölkerung überaltert. Vor Jahren gabs in ÖRR ArteTV eine ganze Woche das Thema über die gesamte Welt. Der Allianz Chef sagte “Die Überalterung ist schlimmer als der Klimawandel”. Klar, sie haben die Rentenkassen rechtswidrig geplündert. Aus dem Grund werden viele als Wirtschaftsflüchtlinge angelockt damit die Statistiken der Hochfinanz wieder funktionieren. 2011, Merkel und die FDP wollten das für Deutschland Werbung gemacht wird, das ausgebildete Fachkräfte kommen. Kulturrat u.a. warnten vor der Gleichschaltung….“Regierungsanbindung”. Artikel “Deutschlands Markenkern Entwicklung des Senders Deutsche Welle wird “mit Sorge” betrachtet”. Der Witz, England hat ganz gezielt Antiwerbung, gegen Migranten durchgeführt und begründet. Ich kann dieses monothematische Russlandbashing nicht mehr ernst nehmen. Erst recht nicht aus der Fakultät.

Markus Peter / 01.11.2022

Guter Artikel! Putin ist letztendlich der Schlächter seines eigenen Volkes. Letztendlich werden sich seine vermeintlichen Freunde die Chinesen freuen, die in das dann geschwächte und entvölkerte Russland seinen Bevölkerungsüberschuss einsickern lässt und den Osten, also Sibirien per „Volksabstimmung“ übernimmt.

Marco Mahlmann / 01.11.2022

Wenn Rußland in einer demographisch so desolaten Situation ist, daß es normalerweise keinen Eroberungskrieg führen kann, ist der Ukraine-Feldzug vielleicht kein Eroberungskrieg. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Ihre in Jahrzehnten ausgestaltete Demographietheorie robuster und realistischer ist als Ihre politische Einschätzung der derzeitigen Lage in Rußland und der Ukraine? Unterstützt Ihre Demographietheorie vielleicht all jene (Putin eingeschlossen), die andere Gründe für Rußlands Ukraine-Feldzug nennen?

Harald Unger / 01.11.2022

“Auf Widerstand beim ja ebenfalls vergreisenden Gegner hatte er nicht gerechnet.” - - - Auch nicht mit der Opposition der EU und des Biden-Regimes. Denen gar nichts übrigblieb, nachdem die US Democrats jahrelang Trump als “Agent Putins” gerahmt hatten, die EU und die gesamte westliche MSM Gleichschaltung im Gefolge. Was an der Paradoxie des amtierenden Merkelregimes zutage tritt. Wo man ‘eigentlich’, wie die Chefin, bedingungslos an der Seite Putins steht. Jetzt aber, widerwillig, mit dem Hegemon, d.h. den Feudal-Marxisten der US-Democrats heulen muss, die sich aus der selbst geschaufelten “Trump ist Agent Putins” Grube nicht mehr befreien konnten. Ohne dieses Eigentor hätte man sich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit Putin auf ein Remake des Molotov–Ribbentrop Pakts geeinigt. Diesmal mit der Ukraine als Opfer. - - -  Das nicht erkannt zu haben, ist der Cäsarenwahn des blutigen Narrs Putin.

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