Gunnar Heinsohn / 09.04.2022 / 12:00 / Foto: Achgut.com / 93 / Seite ausdrucken

Putins zweiter Völkermord?

Putin ist der erste Völkermörder der Geschichte – 1999 bis 2009 in Tschetschenien –, der unter dem an sich noblen Vorwand der Unterbindung eines vermeintlichen Völkermordes – an Russen in der Ostukraine – seinen zweiten Völkermord in Angriff nimmt.

Putin fragt seine Juristen, ob es einen legalen Grund für einen Angriffskrieg gibt. Sie können ihm nur die UNO-Völkermordkonvention nennen, deren Unterzeichnerstaaten – mit Russland sind es sind 147 – gemäß Artikel 1 verpflichtet sind, einen Völkermord zu unterbinden, also nicht nur zu bestrafen. Schon für die Verhinderung etwa eines konventionellen Bürgerkrieges gibt es kein Recht. Putins absurder Genozidvorwurf gegen die Ukraine sowie das strikte Vermeiden der Begriffe Krieg oder Invasion erklären sich aus seiner Suche nach einem Angriffsvorwand.

Völkermord benötigt wie jeder Mord Absicht und Planung. Ein ungeplantes Massaker kann 1.000 Menschen töten, ist aber juristisch ein massenhafter Totschlag. Ein geplanter Völkermord kann nach 100 Toten gestoppt werden, und dennoch sind diese 100 Völkermordopfer. Es kann sie nicht trösten, kein Massaker-Opfer zu sein, aber juristisch ist der Unterschied wichtig. 

Völkermord liegt auch dann vor, wenn lediglich ein Teil der betroffenen Gruppe getötet werden soll. Rafael Lemkin, ein Pole jüdischer Herkunft, hat als Verfasser der Völkermordkonvention bewusst den „Teil“ ins Gesetz geschrieben, weil er zwei Beispiele persönlich erlebt hat. Die Ermordung – 22 Monate vor dem Beginn des Holocaust – der polnischen Bildungsschichten („Intelligenzaktion“) durch Deutsche ab September 1939 und die Ermordung der polnischen Offiziere und Beamten durch Russen im Jahre 1940 (Katyn). Beide Mordaktionen sollen die Kultur vernichten, damit die Restbevölkerung versklavt oder germanisiert beziehungsweise russifiziert werden kann. Im Ergebnis ist das Volk verschwunden. Einen der Unterzeichner des Mordbefehls von Katyn, Michail Kalinin, ehrt Russland bis heute als Namensgeber des einst deutschen Königsberg.

Warum diese gescheiterten Reichsrettungsversuche?

Warum und wie betreibt Putin seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg Völkermord? Er will dem Russischen Imperium das Schicksal der westlichen Reiche ersparen. Spanier, Niederländer, Belgier, Franzosen und Briten hatten ebenfalls versucht, ihre Reiche durch Gewalt zu erhalten, haben nach 1945 in den Kolonien aber alle Kriege verloren. Auch sie begehen Massaker und zerstören Kulturgüter. 1974 sind sie mit dem Fall der portugiesischen Reiches erledigt.

Warum diese gescheiterten Reichsrettungsversuche? Die Europäer verstehen nicht, warum sie zuerst 90 Prozent der Erde unterwerfen und weshalb sie jetzt verlieren. Durch Bestrafung der Geburtenkontrolle haben sie 450 Jahre lang bei 6 bis 8 Kindern pro Frau permanent mehr Menschen zur Verfügung, als sie beim Erobern und Besiedeln auf anderen Kontinenten verlieren. Ab den 1960er Jahren jedoch haben sie nur noch zwei Kinder pro Frau, die Unterworfenen hingegen 6 bis 8. Ab 1970 – zuerst in Deutschland – fällt Europa unter zwei Kinder pro Frauenleben.

Russland erlebt dasselbe Schicksal und macht im 1. Tschetschenienkrieg (1994 bis 1996) denselben Fehler. Jelzin verliert viele Soldaten und den Krieg, weil die tschetschenischen Frauen bei 3 bis 4 Söhnen wenigstens zwei in der Schlacht verlieren und die Familien dennoch weiterleben können.

Jelzins Nachfolger Putin kombiniert ab 1999 zwei Völkermordmethoden. Er tötet weiterhin die tschetschenischen Bildungsschichten und Politiker, folgt also dem sowjetrussischen Vorbild der Ausrottung von Polen. Zugleich lernt er von der Guerra sucia (Schmutziger Krieg) der argentinischen Junta der Jahre 1976 bis 1983. Die entführt mindestens 9.000 Aktivisten der linken Revolte und ermordet sie. Das beendet die militante Studentenbewegung. 

Gewaltsames Festhalten an zaristischen Eroberungen 

Putin entführt rund 5.000 tschetschenische Jünglinge, die noch gar nicht kämpfen, ermordet sie und versteckt die Leichen. Auf die Bevölkerung Österreichs und der Schweiz umgerechnet, wären das 40.000, auf Deutschland 400.000 Jünglinge. Der Geburtenvorteil der Unabhängigkeitskämpfer wird so ausgeschaltet. Ein derart durchdachter und exekutierter Völkermord ist im 21. Jahrhundert einmalig und macht Putin zum ersten europäischen Sieger in den Dekolonisierungskriegen nach 1945. Seine Argumente von angeblicher NATO-Bedrohlichkeit oder slawischen Brüdern spielen keinerlei Rolle. Es geht ganz unverstellt um das gewaltsame Festhalten zaristischer Eroberungen. 

Der genozidale Doppelschlag im Kaukasus beschert dem Diktator in Moskau einen Wettlauf fast aller westlichen Politiker von Rang um seine Gunst. Das russische Nationalgefühl, nicht nur unbesiegbar, sondern auch unbestrafbar zu sein, erreicht einen neuen Höhepunkt.

In der Ukraine – wie Russland eine vergreisende Nation – zielt Putins Genozid – ungeachtet der Massaker und Vergewaltigungen durch seine Soldateska – vor allem auf die Bildungsschichten. Er wiederholt die Hitler-Stalin-Varianten von 1939 und 1940. Deshalb werden Bürgermeister und ihre Familien verschleppt und getötet. Wiederum ist nicht die Zahl der Ermordeten Kriterium für Genozid, sondern die erklärte Absicht, die ukrainischen Kulturträger zu beseitigen, um so das übrige Volk einer Diktatur unterwerfen und russifizieren, also auslöschen zu können.

 

Gunnar Heinsohn (*1943; emer. Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol.) hat 1993 an der Universität Bremen das Rafael-Lemkin-Institut als Europas erste Einrichtung für vergleichende Völkermordforschung gegründet und bis 2009 geleitet. 

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Arne Ausländer / 09.04.2022

@Leo Hohensee: Beim Gazprom-Artikel kann ich Ihnen leider nicht mehr antworten, aber das Thema ist wichtig und paßt auch bestens hierhin: Ich stellte der allseits als rechtsextrem beschriebenen Asow-Truppe nicht das russische private Sölnerunternehmen Wagner gegenüber (eher analog zu Blackwater, aber sehr wohl auch mit faschistischen Symbolen versehen), sondern die zum offiziellen russischen Militär gehörenden KADYROW-Truppen. Die posieren selbst in zahllosen Videos auf eigenen Kanälen (z.B. Grozny.tv), und ihr Boss Ramzan Kadyrow wurde gerade erst von Putin zum General-Leutnant befördert. Gegenüber diesen islamistischen Großverbänden sind Asow und Aidar fast zu vernachlässigen. Und bei deren Darstellung eben auch durch den West-Mainstream muß man doch an dessen Diffamierung der Coronaproteste erinnern. Obwohl ich diese Verbände auch nur medial vermittelt kenne, so habe ich doch immerhin selbst nicht wenige in Rußland und auch in der Ukraine getroffen, die mit ähnlicher Symbolik posieren und dennoch kaum mit echten deutschen Nazis (wie sie meist vom VS finanziert werden) gleichzusetzen sind. Gefährliches faschistisches Gedankengut ist häufiger in oft kremlnahen russischen Kreisen zu finden als in der Ukraine. Da wäre z.B. das Thema NOD (Nationale Befreiungsbewegung), was bislang gar nicht beachtet wurde.

Jürg Sand / 09.04.2022

Dirk Jungnickel, die Frage beantwortet sich im Grunde von selbst. Nichts was unsere „etablierte Presse“ an Bildern und Worten abliefert ist mehr als Meinungsmüll. Im schlechteren (aber nicht selteneren) Fall, verlogene Propaganda. Da ich nur von dem reden kann, was ich (bis zum Überdruss) kenne, verbietet es sich mir das selbe von der russischen Seite zu behaupten, kann aber kaum schlimmer sein. Was Sie von den „befreiten“ Ländern schreiben hatte tatsächlich einmal seine historische Richtigkeit, nur, mittlerweile wird dem ehemals freien Bürgern (hier!] sanft die Zwangsjacke übergestreift, wo leichter Widerstand spürbar, etwas unsanfter, im allgemeinen aber so, dass der (unbemerkt) Gefesselte noch an einen einen grosszügig geschenkten Schutz-Anzug glaubt. Es sind 30 Jahre vergangen und es hat sich zwischenzeitlich viel verändert! Ich bin kein „Putinversteher“ (weshalb und wofür auch) aber was unsere Politik-Medien-Truppe vor Ort anbelangt halte ich mich wissensmässig für kompetent. Alleine aus diesem Grund ist mir Parteinahme in diesem Konflikt unmöglich, ganz abgesehen von den unübersehbaren Fakten, die das Zündeln der USA/NATO (seit Jahrzenten) glasklar belegen.

Jean Vernier / 09.04.2022

So weit ein Teilausschnitt nur einer Medaillenseite; und nun bitte auch nach und nach die anderen “Global-Player” mit ihren Interessen, Machenschaften, Methoden, Leichen im Keller, völkermörderischen Aktivitäten offen und verdeckt medial anprangern

RMPetersen / 09.04.2022

Neulich wurde von einer Grünlinken die Bombardierung Dresdens als Tat der Nazis dargestellt. Als nächste Stufe wird das sicherlich Völkermord. Schwierig wird dann allerdings, an wen die Wiedergutmachungs-Milliarden für den Völkermord “Dresden-Bombardierung”  überwiesen werden. Beim Herero-Fall ist es ja klar: Das Meiste bekommen die Ovambo, Kavango und Damara, die ehemaligen Feinde der Hereros.  (Warum ich das schreibe? Dazu hat mich die Logik des Beitrages von Herrn Heinsohn inspiriert.)

Hans-Peter Dollhopf / 09.04.2022

Qualifizieren sich der Genozid über Tötung bereits Geborener? Oder auch durch absichtlich praktizierte Maßnahmen zwecks Eindämmung weiterer Vermehrung einer Population? Und hat der dem eigenen Gewissen entsprungene Anlass für Genozid-Handlungen Relevanz? “Eine FDP-Abgeordnete möchte die Abschaffung des Paragrafen 291a vorantreiben. Sie postet ein Video, das sie und Kollegen tanzend mit Sonnenbrillen und Musikanlage im Bundestag zeigt. ‘Wir auf dem Weg zur Abstimmung’. ” (WeLT, 8.2.22)

Friedrich Richter / 09.04.2022

Durch diese Morde haben sich die Russen mit einem untilgbaren Schandmal bedeckt. Jetzt gilt für Putin: Vae victis! Deshalb wird er weitermachen, mit immer mörderischen Methoden. Nur der Sieger wird nicht zur Rechenschaft gezogen.

Boris Kotchoubey / 09.04.2022

Die offizielle russische Presseagentur “RIA Novosti” hat vor wenigen Tagen ein Programm der Vernichtung des gesamten ukrainischen Volkes publiziert. Nur diejenigen Bewohner dieser Region der Erde dürfen laut dem Programm an Leben bleiben, die die Wörter “Ukraine” und “Ukrainer” sowie ihre Sprache vollständig vergessen und sich als Russen identifizieren. So wie ich weiß ist es das erste offizielle formell deklarierte Regierungsprogramm eines Volkermordes in der Geschichte. Die Beschlüsse der Wannseekonferenz wurden nicht veröffentlicht.

Peter Zinga / 09.04.2022

O.K., und jetz erzälen Sie uns die von Rottkäpchen… Warum, wenn es um Ruusland geht, verlieren auch sonst vernunftige Leute Ihre Niveau?!

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