Am Wochenende wurde Wladimir Putin zum fünften Mal zum Präsidenten gewählt. Was bedeutet das für die Zukunft Russlands? Und die Politik des Westens?
Es gibt Unvereinbarkeiten, die sich einfach nicht überbrücken lassen. Dies trifft sowohl auf die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik zu als auch auf Russland und die Demokratie – egal, wie sehr man es versucht, das Ergebnis bleibt unbefriedigend.
Als die Sowjetunion am 31. Dezember 1991 zu existieren aufhörte, verfiel die westliche Staatengemeinschaft in einem Rausch kollektiver Euphorie. Die Abkehr Moskaus vom Staatssozialismus und die Forderungen nach Reformen wurden als Signal für den Aufstieg der Demokratie interpretiert.
Kaum jemand hat diese Überzeugung so prägnant formuliert wie Francis Fukuyamas in seinem Buch „The End of History and the Last Man“, das 1992 erschien. Fukuyama argumentierte darin, dass die Geschichte als evolutionärer Prozess betrachtet werden sollte und dass das Ende der Geschichte bedeute, dass die liberale Demokratie die ultimative Form der Regierung für alle Nationen sei.
Im Rückblick erscheint diese Idee nicht nur weltfremd, sondern wurde auch vielfach widerlegt. Mit Ausnahme der baltischen Staaten hat sich in keiner ehemaligen Sowjetrepublik eine funktionierende Demokratie etabliert. Stattdessen haben sich autokratische Diktaturen gebildet, deren Eliten den Staat zur persönlichen Bereicherung nutzen.
Das Scheitern des demokratischen Projekts in Russland
Diese Entwicklung war absehbar, da ehemalige Spitzenfunktionäre der KPdSU plötzlich als Oberhäupter der neu entstandenen demokratischen Nachfolgestaaten agierten. Vor seiner Amtszeit als russischer Präsident war Boris Jelzin Vorsitzender des Obersten Sowjets der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik und somit einer der einflussreichsten sozialistischen Politiker neben Gorbatschow gewesen.
Auch Leonid Krawtschuk, der 1991 zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, hatte eine lange Karriere in der sowjetischen Politik hinter sich. Er war über Jahrzehnte Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewesen und hatte zuletzt als Vorsitzender des Obersten Sowjets der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik fungiert. Wie Jelzin war auch Krawtschuk Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU.
Die Annahme, dass Politiker einer solchen Prägung dazu in der Lage sein würden, demokratische Strukturen in ihren Ländern aufzubauen, erscheint bis heute nicht plausibel. Aus diesem Grund wurden nach der Wiedervereinigung praktisch alle Angehörigen der vormaligen SED-Eliten aus ihren Ämtern entfernt. Niemand in der Bundesrepublik hätte SED-Kadern noch politische Verantwortung zugebilligt.
In dieser Optik erscheint das Scheitern des demokratischen Projekts in Russland weit weniger tragisch, als man es im Westen zuweilen gern sehen mag. Nach dem Rücktritt Boris Jelzins zum 31. Dezember 1999 rückte mit Wladimir Putin ein Mann an die Spitze der russischen Politik, der sich in einem Punkt von seinen Amtskollegen in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken unterschied.
Im Gegensatz zu Jelzin, Krawtschuk, Lukaschenko oder Nasarbajew – beide waren Erster Sekretär des ZK der KP in Belarus und Kasachstan gewesen – war Putin nicht nur Mitglied der KPdSU gewesen, sondern hatte die Demokratien des Westens als KGB-Offizier auch aktiv bekämpft. Seine Aufgabe in der DDR bestand hauptsächlich darin, Informationen zu sammeln, um die Interessen der Sowjetunion zu schützen.
"Die Gefahr liegt in der Mentalität von uns selbst"
Als Teil des sowjetischen Geheimdienstes war er damit beschäftigt, politische, militärische und wirtschaftliche Entwicklungen in der DDR zu beobachten, potenzielle Bedrohungen für die Sowjetunion zu identifizieren und Informationen über die politische Stimmung und Aktivitäten in der DDR zu beschaffen.
Im Rahmen seiner Tätigkeit für den KGB war er zudem wahrscheinlich an der Überwachung oppositioneller Gruppen beteiligt und sammelte Informationen über politische und wirtschaftliche Angelegenheiten für die sowjetischen Behörden.
Obwohl, oder vielleicht gerade, weil Wladimir Putin auf eine derartige Vergangenheit zurückblickte, machte er nach dem Zerfall der UdSSR wiederholt mit affirmativen Aussagen zur Demokratie auf sich aufmerksam.
Das zeigt auch folgendes Interview aus dem Jahr 1996. Damals erklärte der kurz zuvor aus dem Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von St. Petersburg geschiedene Politiker, warum nur die Demokratie Russland eine Zukunft bieten könne.
„So bedauerlich es auch sein mag, ist in unserem Land vorübergehend eine Wendung zum Totalitarismus möglich. Die Gefahr liegt aber nicht bei den Rechtsdurchsetzungsbehörden, sondern in der Mentalität von uns selbst, in der Mentalität unseres Volkes.
Wir alle glauben, dass ein strenges Regime mit harter Hand allen ein besseres, komfortableres und sichereres Leben bringen wird. In Wirklichkeit wird dieser Komfort aber sehr schnell verschwinden, denn diese harte Hand wird uns ersticken, und das werden wir sofort an uns selbst und unseren Familien spüren.
Nur in einem demokratischen System, in dem die Strafverfolgungsbehörden, wie auch immer wir sie nennen mögen, wissen, dass morgen ein Wechsel der politischen Macht stattfinden kann, werden sie gefragt werden: ‚Wie haben Sie die Gesetze des Landes, in dem Sie leben, umgesetzt, und was haben Sie mit den Bürgern getan, in Bezug auf die Sie Machtbefugnisse haben?‘“
Den Menschen erzählen, was sie hören wollen
Achtundzwanzig Jahre später wirken diese Worte wie zynischer Hohn. Putin hat nicht nur während seiner Präsidentschaft genau das umgesetzt, wovor er damals warnte, sondern die Öffentlichkeit auch belogen. Dies ist kein Zufall. Das Zitat stammt aus einer Zeit, als Putin noch seinen politischen Aufstieg vorantrieb. Daher erschien es ihm opportun, den Menschen das zu erzählen, was sie hören wollten.
Unter diesem Motto stand auch seine Rede im Deutschen Bundestag vom 25. September 2001, in der er behauptete, das Hauptziel der Innenpolitik Russlands bestehe vor allem in der Gewährleistung der demokratischen Rechte, der Freiheit sowie in der Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit.
Ferner hatte Putin auch eine plausible Erklärung für das Scheitern des Staatssozialismus in Russland parat. Mit Blick auf die Auflösung der UdSSR erklärte er:
„Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden. Der Geist dieser Ideen ergriff die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger […] Diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus, sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann.“
Die Bundestagsrede von Wladimir Putin bietet ein anschauliches Beispiel für die geschickt inszenierte Manipulation von Menschen. Ein russischer Präsident, der den Sieg der Demokratie als Naturgesetz beschreibt und sich von der sozialistischen Vergangenheit distanziert – das klang zu schön, um wahr zu sein.
Obwohl Wladimir Putin in seiner Rede die Werte der Demokratie und des Humanismus betonte, war bereits damals offensichtlich, dass diese für die russischen Machteliten von geringem Interesse waren. Insbesondere die Besatzung Tschetscheniens verdeutlichte die Missachtung der Menschenrechte, während die Bürgerfreiheit im Wesentlichen darauf beschränkt war, politische Kritik für sich zu behalten.
Ein gewisses Fremdschämen
Dennoch lösten Putins Worte im Bundestag einen Sturm der Begeisterung aus. Die Abgeordneten erhoben sich wie Konzertbesucher von ihren Sitzen, um ihrem Gast aus Moskau zu applaudieren. Beim Betrachten dieser Bilder kommt man nicht umhin, ein gewisses Fremdschämen zu verspüren.
Dies liegt nicht an der Bereitschaft, einem ausländischen Staatschef offen und unvoreingenommen zu begegnen, sondern an der naiven und weitgehend unkritischen Gutgläubigkeit, die insbesondere Gerhard Schröder verkörperte – ein Bundeskanzler, der öffentlich zugab, persönlich mit Wladimir Putin befreundet zu sein und nach seinem politischen Rückzug einen gut dotierten Posten als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG.
Wladimir Putin war zu keinem Zeitpunkt seines Lebens ein (lupenreiner) Demokrat. Sein Verständnis von Demokratie blieb stets funktional. Dies entspricht exakt jener Haltung, die Walter Ulbricht einst mit den Worten „Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben!“ zum Ausdruck brachte.
Kaum ein Zitat verdeutlicht das Herrschaftsverständnis der russischen Eliten so prägnant wie dieser berühmte Satz. Er zeigt, dass Demokratie in Russland nicht als Grundlage staatlicher Entscheidungen betrachtet wird, sondern lediglich als Fassade, die auf autoritäre Politik aufgesetzt wird, um sie vor der Öffentlichkeit zu legitimieren.
Um die politische Entwicklung Russlands seit 1991 zu verstehen, sollte man sich dieser Erkenntnis bewusst sein. Aus jeder Perspektive betrachtet führt die Analyse der postsowjetischen Phase immer zur selben Wahrheit: Das Land hatte niemals eine realistische Chance, eine vitale und funktionsfähige Demokratie zu etablieren. Stattdessen hat Russland gezeigt, dass freie Wahlen keineswegs automatisch zu demokratischen Strukturen führen.
In eine Art kollektiver Agonie verfallen
Jede Nation wird von ihren historischen Erfahrungen geprägt, insbesondere in Bezug auf ihre politische Kultur. Während die Deutschen als Reaktion auf sich verändernde Herrschaftsverhältnisse eine opportunistische Unterwürfigkeit ausgeprägt haben, die es ihnen nicht nur ermöglicht, sich mit jedem System zu arrangieren, sondern sich auch als deren glühende Anhänger zu gerieren, sind die Russen in eine Art kollektiver Agonie verfallen.
Das bedeutet, dass in der Bevölkerung wenig Interesse an der Beteiligung an politischen Prozessen besteht. Nach den traumatischen Erfahrungen in der Sowjetunion, die bis zu Stalins Tod 1953 von Gewaltexzessen unvorstellbaren Ausmaßes geprägt gewesen waren, sind die Menschen heute zufrieden, wenn sich die Obrigkeit möglichst stark aus ihren Angelegenheiten heraushält.
Dieser pragmatische Ansatz, der sich nach 1991 im ganzen Land etabliert hat – das Bewusstsein, der Willkür der Eliten schutzlos ausgesetzt zu sein, die Furcht vor Bestrafung und der Wunsch nach Anerkennung – ist dafür verantwortlich, dass Wladimir Putins Politik heute von den meisten Menschen in Russland unterstützt wird.
Trotz der Opfer des Krieges ist diese Akzeptanz nicht schwächer geworden. Wie in früheren Zeiten ertragen die Menschen stoisch Übergriffigkeit des Staates und flüchten sich in Ablenkung und Selbsttäuschung. Dazu gehört die Entscheidung, den Bekenntnissen der Herrschenden zu Menschenrechten, Völkerverständigung und einem Interesse am Gemeinwohl zu glauben.
Deshalb ist Wladimir Putins Wiederwahl weit weniger Ausdruck von Manipulation, als westliche Kommentatoren oft vermuten. Sie ist vielmehr die logische Konsequenz des Zusammenspiels der genannten Faktoren. Die Mehrheit der Menschen unterstützt Putin und lehnt die parlamentarischen Demokratien des Westens ab. Obwohl dies möglicherweise nicht dem Weltbild deutscher Journalisten entspricht, ist es Realität.
Russland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen
Es gibt verschiedene universelle Wahrheiten über Russland, die im Laufe der Geschichte formuliert wurden. Eine davon stammt aus der Feder des großen Philosophen Fjodor Tjuttschew und besagt, dass Russland mit dem Verstand nicht zu begreifen ist. Eine weitere könnte lauten, dass das Land gegenüber tiefgreifenden Veränderungen immun ist.
Um das zu verstehen, muss man nur lesen, was Autoren wie Alexander Puschkin und Peter Tschaadajew in ihren kritischen Werken aus dem frühen 19. Jahrhundert über das autoritäre Herrschaftsregime und die Unterdrückung des russischen Volkes schrieb. Der Kern dieser Zustände hat sich bis heute nicht geändert.
Für Russland bedeutet Putins Wiederwahl eine Fortsetzung des bisherigen Kurses, der in allen wichtigen Politikbereichen durch eine grundlegende Abkehr vom Westen geprägt ist und das Verhältnis zu diesem über Jahrzehnte hinweg beeinflussen wird.
Die westlichen Staatschefs sollten sich dieser ernüchternden Realität stellen: Es ist ausgeschlossen, dass in Russland jemals eine Demokratie nach westlichem Vorbild möglich sein wird. Dies zeigt sich auch am Schicksal der Oppositionsbewegung unter der Führung von Alexej Nawalny. Trotz ihrer großen Reichweite in den sozialen Medien war sie nicht stark genug, um sich dauerhaft als einflussreiche Kraft in der russischen Politik zu etablieren.
Rückkehr in die Vergangenheit
Mit einer meisterhaften Ironie hat Wladimir Putin Russland genau dorthin geführt, wohin er gemäß seiner Rede im Deutschen Bundestag nie mehr zurückkehren wollte – in die Vergangenheit. Russlands Politik auf dem europäischen Kontinent ist heute wieder so aggressiv wie im Jahr 1939, als die UdSSR Finnland überfiel.
In seinem Interview mit Dmitrij Kisiljow am 13. März 2024 machte der russische Präsident zudem deutlich, dass Russland jederzeit in der Lage sei, einen Atomkrieg gegen den Westen zu führen. Obwohl er sich zunächst auf die Einsatzbereitschaft der Nuklearstreitkräfte bezog, wirft diese Aussage düstere Schatten auf die Zukunft.
Zu Beginn von Putins fünfter Amtszeit, die ihm einen Verbleib bis zum Jahr 2030 garantiert, bleibt somit kaum mehr zu tun, als sich in Bezug auf Russland von sämtlichen naiven Vorstellungen zu trennen und zu einer nüchternen Realpolitik zu finden. Dies beinhaltet auch die Erkenntnis, dass das Tor nach Russland vorerst verschlossen bleiben wird.
Über ihm könnte jene Inschrift stehen, die bereits Dante in seiner Göttlichen Komödie über dem Eingang zur Hölle prangen ließ. Sie lautet: „Ihr, die Ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden.