Manchmal überschneiden sich die Ereignisse, und mir wird erst an deren Schnittpunkt klar, dass ich ein wichtiges Detail übersehen habe. Das Detail heißt: Otschamtschire, ein kleines Seebad am schwarzen Meer.
Otschamtschire ist, wenn man YouTube und seinen eigenen Augen traut, ein nur an der Küste malerisches, ansonsten ziemlich heruntergekommenes Seebad an der Schwarzmeerküste. Einige schöne Häuser und Villen in Strandnähe werden gepflegt, viele andere verfallen; im Hinterland verlassene Plattenbauten, im Norden – zum alten Hafen hin – brachliegende Industriegelände, alles wirkt wie im Dornröschenschlaf.
Offiziell gehört Otschamtschire zu Georgien, genauer: zu dessen autonomer Region Abchasien. So verschlafen war es dort nicht immer. Nach 1945 arbeiteten in der Nähe der abchasischen Hauptstadt Suchumi deutsche Wissenschaftler an der Rekonstruktion und Weiterentwicklung von Paul Hartecks Ultrazentrifuge, die der Sowjetunion zum angereicherten Uran für ihre erste Atombombe verhelfen sollte, unter ihnen auch Manfred von Ardenne, Max Steenbeck und Gustav Hertz.
Danach geriet der Kaukasus für Jahrzehnte aus dem Blick des „Westens“, bis Georgien nach 1990 unabhängig wurde und bis Abchasien im Zuge des Kaukasuskrieges 2008 de facto von Georgien unabhängig wurde, allerdings gleichzeitig abhängig von Russland. Während nach einer im Dezember 1990 praktisch sofort erklärten Wirtschaftsblockade durch Russland sich Georgien allmählich wieder erholte, gerieten weite Teile Abchasiens wirtschaftlich weiter in die Krise, und so fiel auch der Industrie- und Kohlehafen von Otschamtschire in den genannten Dornröschenschlaf. Der Prinz, der es vor einem Jahr vorsichtig wachküsste, heißt höchstwahrscheinlich Wladimir Putin.
Abchasischer Traum oder doch ein Prinz aus dem Kreml?
Erste Meldungen gab es schon vor einem Jahr, dass nämlich die immer wieder von empfindlichen Nadelstichen der Ukraine getroffene russische Schwarzmeerflotte sich auf mittlere Sicht von der Krim zumindest teilweise nach Otschamtschire zurückziehen könnte. Allerdings gab es noch im Frühjahr 2024 auch ernstzunehmende Analysten, die diese Nachricht bezweifelten; es sei wohl eher der abchasische Wunsch nach wirtschaftlichem Aufschwung durch einen russischen Marinestützpunkt der Vater dieses Gedankens. Dennoch verdichten sich seit zwei Monaten die Indizien dafür wieder, dass es sich bei den Plänen in Otschamtschire nicht nur um einen abchasischen Traum handelt. Am Ostzipfel der Hafeneinfahrt waren zuletzt auch Gebäude ziemlich eindeutig militärischer Nutzung sichtbar, und verfallen sind sie nicht. Also doch kein abchasischer Traum?
„Georgischer Traum“ hingegen heißt jene Partei, die sich nach den jüngsten Parlamentswahlen zum Wahlsieger in Georgien erklärt hat, was wiederum weder die Opposition noch die aus dem „Georgischen Traum“ hervorgegangene Staatspräsidentin Georgiens anerkennt. Dazu muss ich anmerken, dass der „Georgische Traum“ seit Monaten zunehmend die Annäherung an Russland sucht, während die Opposition der EU zuneigt. So wirkt es pikant, dass die weitaus meisten EU-Außenminister die Wahlen in der Ukraine als mindestens stark von Russland beeinflusst bis gefälscht kritisieren, während Viktor Orban einmal mehr die Gelegenheit nutzt, die EU zu ärgern, indem er die Wahlen als demokratisch und rechtmäßig bezeichnete, und das als gegenwärtiger Ratspräsident der EU.
Okay, bislang alles Geplänkel. Die Schwarzmeerflotte sucht also einigermaßen sicheren Abstand zur Ukraine, eine Wahl ist umstritten, und Viktor Orban brüskiert gezielt die EU. Nichts Neues unter der Sonne, vor allem jener des Kaukasus? Vielleicht nicht ganz, kommen doch ein paar weitere Nachrichten dazu: Erstens droht der Kreml in der Ukraine mit dem Einsatz nordkoreanischer Hilfstruppen. Zweitens, was wahrscheinlich wichtiger ist, geben ukrainische Militärs erstmals zu, dass die Front im Donbas nicht mehr zu halten ist, vielmehr bereits praktisch zusammengebrochen. Drittens bemüht sich der türkische Präsident Erdoğan um eine Aufnahme in die BRICS+-Gruppe.
Deutschland auf dem linken Fuss
Mit einem Schlag ändert sich das Bild. Russland scheint darauf zu setzen, im Ukraine-Krieg trotz massiver westlicher Finanzhilfen für die Ukraine militärisch die Oberhand zu gewinnen, und zwar sogar ohne den ganz großen Einsatz seiner Schwarzmeerflotte; zweitens zeichnet sich eine engere Bindung Georgiens an Russland zwar ab, ist aber noch keine sicher beschlossene Sache; drittens wird ein Bewerber um die BRICS+-Mitgliedschaft wie die Türkei – als südlicher Nachbar Georgiens – Russland kaum in den Arm fallen wollen bei seinem Wunsch nach größerem Einfluss im Kaukasus und im Osten des Schwarzen Meers.
Dass Russland im Zweifel sogar durch Wegsehen, Teilen und Herrschen seine Karten in der Region im Ärmel behält, mussten die Armenier in Berg-Karabach zuletzt schmerzlich erfahren, als sie ihre Interessen nicht gegen den Gas- und Ölstaat Aserbaidschan behaupten konnten, sie selbst vertrieben wurden und die von ihnen erhoffte russische Unterstützung für Armenien schlicht ausblieb.
So bekommt die mögliche Verlegung auch nur von Teilen der Schwarzmeerflotte in das nach wie vor verschlafene Otschamtschire ein ganz anderes Gewicht. Sie wäre kein Rückzug, sondern vielmehr ein sehr geschickter Schachzug Russlands bei der von Wladimir Putin angestrebten Zielsetzung, den Einfluss Russlands erneut so weit auszudehnen wie zu Zeiten der Sowjetunion.
Deutschlands Interessen im Schwarzmeerraum, sie existierten einst. Und wie man immer noch wenig realistisch beteuert, der Türkei – nach aktuellem Frontverlauf nunmehr längster Anrainer des Schwarzen Meeres – den Weg in die EU bahnen zu wollen, so hält man auch an ähnlichen Bekenntnissen zu zum Beispiel. Moldau, aber auch zu Georgien offiziell fest. Derweil bewegt sich nichts in dieser Richtung, fließen stattdessen Milliarden in die Ukraine, für Infrastruktur, die höchstwahrscheinlich wieder zerstört wird, und für Waffen, für deren Verwendung es immer weniger wehrfähige und wehrwillige junge Leute gibt. Gleichzeitig schrumpft das einstige Zugpferd der EU, die deutsche Wirtschaft, stagnieren ihre Exporte und wird das eigene, deutsche Militär vernachlässigt.
Das Spiel Putins: Schach in Otschamtschire
Das alles weiß der Herr im Kreml besser als ich, nur macht er sich darüber im Gegensatz zu unserer Führungsschicht keine Illusionen: Die Weltretter, Globalisierer und Transformierer betreiben das Spiel Putins, indem sie den Westen ideologisch, wirtschaftlich und militärisch schwächen; und während sie im berechtigten Sinne der Ukraine das Gegenteil beteuern, bluten sie selbst langsam aus; das ist es, was Putin längst erkannt hat und mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen dürfte. Fast sehne ich mich zurück nach Zeiten, in denen ein Herfried Münkler unwidersprochen tönen konnte „Wir sind der Hegemon“.
Allerdings schenkte ich seiner – heute hinter der Bezahlschranke nahezu verschwundenen – Einschätzung schon vor neun Jahren nicht den geringsten Glauben. Ein Land in der „Energiewende“ und am Beginn der Migrationskrise, das bereits von Lippenbekenntnissen lebte und meinte, damit ein Gleichgewicht und gar eine Führungsrolle in Europa beanspruchen oder gar behaupten zu können, musste schon damals an Größenwahn leiden oder mindestens an nostalgischer Selbstüberschätzung.
Doch zurück zum Kaukasus: In dieser Situation des Schachspiels wäre das Positionieren auch nur eines „Springers“ in Otschamtschire ein sehr kluger Zug. Georgien hat russischem Militär auf Dauer nichts entgegenzusetzen; das zeigte sich schon im Kaukasuskrieg 2008. Deutschland aber ist schon jetzt gezwungen, den Ausgleich mit Aserbaidschan zu suchen, um seine angeblich ökologische „Energiewende“ mit Erdgas abzusichern. Entsprechendes Geld kann daher nicht mehr sehr lange in die Ukraine wandern, nach Georgien schon gar nicht.
Und anstatt sich in einem weiteren Krieg zuerst den baltischen Staaten zuzuwenden, hätte der Kreml im Kaukasus, vornehmlich in Georgien, verhältnismäßig leichtes Spiel und einen gut möglichen Achtungserfolg bei der Wiederherstellung des russischen Imperiums. Ich selbst befürchte inzwischen, dass der „Westen“ in Sachen Ukraine auf die falsche Strategie gesetzt hat. Anstatt sich auf die eigene Stärkung zu besinnen und zu konzentrieren, dürfte dieser Westen dadurch auch noch seine Glaubwürdigkeit, seinen Einfluss und seine Handelsbeziehungen in der Türkei und im Kaukasus verlieren. Der kleine, verschlafene abchasische Schwarzmeerhafen Otschamtschire könnte da ein flexibler Stein auf dem Brett sein. Einer, der sich auf einmal bestens ins Bild fügt.
Dr. med. Jesko Matthes war Alumnus der Studienstiftung des Deutschen Volkes, immunologische Promotion über Tumornekrosefaktor- und Lymphotoxin-Messung, auch in virustransfizierten Zelllinien maligner Lymphome. Notarzt mit LNA-Qualifikation. Er ist Arzt und lebt in Deutsch-Evern.