Wladimir Putin hat die Fähigkeit, dem außenpolitischen Chaos noch Gewinn abzuringen. Wo Staaten kollabieren, entstehen regionale Machtvakuen, die er flexibel füllen kann. Vielleicht auch im Post-Mullah-Iran.
Wenn sich Ereignisse überschlagen, kommt nicht einfach das Chaos über alle, sondern es treten solche Menschen hervor, die aus Ereignissen der Unordnung das Gegebene herausgreifen und nutzbar machen. Es sind Menschen, die Chaos und Ordnung als Einheit begreifen. Im Grunde gibt es für sie diesen Unterschied nicht. Welch ein Vorteil.
Man könnte denken, Wladimir Putin kennt den Nahen Osten wie ein Börsenmakler die Signale des Marktes. Wenn im Persischen Golf Häuser einstürzen, schaukeln sich in Moskau die Rohstoffkurse nach oben auf – und genau darauf scheint Russlands Fiskalpolitik ausgerichtet zu sein, dem Chaos noch Gewinn abzuringen. Die zynische Logik lautet: Jeder israelische Sprengsatz, der in Natanz oder Isfahan eine iranische Zentrifuge zu Schrott zerreißt, treibt den Brent-Preis um Prozentpunkte hoch; wenige Stunden später klingelt es in der russischen Staatskasse: Zusatzgewinne aus Öl- und Gasexporten.
Es gibt keine direkten ökonomischen Zusammenhänge, aber marktpsychologische ganz sicher. Ein Börsenmakler weiß das. Es ist diese eigentümliche Ambivalenz russischer Außenpolitik, die sich im Nahen Osten schon seit Jahrzehnten beobachten lässt. Einerseits hält Moskau enge Beziehungen zu Staaten wie dem Iran, betreibt militärische Kooperation, wirtschaftliche Vernetzung und politische Abstimmung. Andererseits profitiert Russland als Rohstoffgroßmacht stets dann, wenn die Region ins Taumeln gerät. Als das Feuer zwischen Teheran und Tel Aviv Mitte Juni aufflammte, sprang die Ölsorte Brent binnen Tagen um sieben Prozent. Ein satter Aufschlag für den größten Nicht-OPEC-Förderer der Welt. Schlimme Ereignisse von Weltrang hinterlassen ihre kapitalistischen Signaturen. Ich meine das wertfrei.
Was will der westliche Voyeur mehr
Gleichzeitig holt der Kreml wieder den Diplomaten-Frack aus dem Schrank. Kaum waren die ersten Raketensalven abgeklungen, bot sich Putin in Washington ebenso wie in Teheran und Jerusalem als Vermittler an – gewissermaßen vom „Problem-Bär“ zum „Versöhn-Bär“, der anscheinend die entscheidenden Telefonnummern der Region im Handy hat. Moskau spielt die Karte des vermeintlich einzigen Staatschefs, der in allen drei Hauptstädten ein offenes Ohr findet, und reklamiert so die Rückkehr auf die Weltbühne: jetzt als selbst ernannter Friedensstifter, demnächst vielleicht als unverzichtbarer Partner bei Atomgesprächen. Putin hat überall in der Region seine Interventions-Signaturen hinterlassen und wird sicher kein neutraler Mediator sein wollen. Das meine ich wertend.
Dass dieser Vorstoß Putins genau dann kommt, wenn die Ukraine-Schlagzeilen von den Newstickern verschwinden, ist kein Zufall. Der Krieg Israels gegen Iran überschattet alles andere – auch den Abnutzungskrieg im Donbas, der Moskau sonst täglich negative Schlagzeilen beschert. Und die Medien haben ihren größten Anteil daran: Ein Stellungskrieg, in dem nach Ego-Shooter-Manier stereotyp „Menschen und Kriegsmaterial“ vor den Augen der Welt zur Hölle geschickt werden, ist auf Dauer auch langweilig.
Nun gibt es einen neuen Schauder, der nicht weniger böse und gute Protagonisten enthält, aber medial erfolgreich ausgeschlachtet werden kann, weil er frisch, unabgenutzt und irgendwie nuklear ist. Er entlädt sich wie ein Erdbeben an der tektonischen Spannung zweier Erdplatten. Echte „Hingucker“ hell am Himmel, gelb und rot an bröckelnden Fassaden, dazu präzise Militärchirurgie als Exempel gegen Schurken. Was will der westliche Voyeur mehr? Was danach kommt, kann er nicht denken.
Verschiebung der Interessenlage
Solche atavistischen Entladungen machen sich gut in der Aufmerksamkeitsökonomie, wenn sie eine Vorgeschichte haben, die diesen Kulminationspunkt schon lange vorher erahnbar machte. (Wie hat nicht der Westen auf den Iran eingeredet, das Anreichern für die Bombe endlich sein zu lassen. Wie renitent haben sich die Mullahs gezeigt... Das musste also schlimm enden und kann noch schlimmer kommen, wenn Trump jetzt die Bunkerknacker vom Typ GBU-57 fallen lässt, um auch noch die tiefsten Nuklearfabriken im Iran einzuebnen.) Und je länger die Kameras auf den Persischen Golf gerichtet bleiben, desto ungestörter kann der Kreml Meter für Meter seine Schützengräben in der Ostukraine ausheben, bis er sich nach Kiew durchgebuddelt hat.
Der Iran war für Moskau bislang ein willkommener Partner in dieser ganzen Rechnung. Nicht, weil man sich ideologisch nahe stehen würde – das russisch-iranische Bündnis ist keine Love-Story –, sondern weil es sich bis jetzt um eine Zweckgemeinschaft handelte. Teheran lieferte Drohnentechnik für den Krieg gegen die Ukraine, unterstützte Russlands Position in internationalen Gremien, teilte eine tiefe Skepsis gegenüber amerikanischer Hegemonie. Doch selbst wenn diese Allianz zu zerbrechen drohte, würde Moskau daraus keine grundsätzliche Schwächung erfahren – vielmehr eine Verschiebung der Interessenlage, vielleicht sogar eine neue Chance.
Die Möglichkeit eines iranischen Regimezusammenbruchs, wie er derzeit zunehmend diskutiert wird, führt viele direkt zu einem Vergleich mit Syrien. Auch dort hatten Russland und die USA – mit wechselnden Koalitionen – versucht, sich Einflusszonen zu sichern, politische Ordnungen zu stützen oder zu stürzen, strategische Partner zu etablieren. Doch was folgte, war kein rationaler Neuaufbau, keine Wiederherstellung eines Gleichgewichts. Der Sturz staatlicher Ordnung – ob durch innere Revolte oder äußeres Einwirken – hatte zur Folge, dass das Machtvakuum sofort von nichtstaatlichen, oft extremistischen Kräften gefüllt wurde. Und das mit einer Geschwindigkeit, die jede Diplomatie überforderte.
Regimewechsel-Wünsche von innen
Könnten jetzt Washington und Moskau einen iranischen Scherbenhaufen gemeinsam kitten, wie mancher gern glauben möchte? In Syrien scheiterte das Experiment „Großmacht-Gerangel plus Regime-Sturz“ spektakulär: Der Staat zerfiel, Warlords und Emire besetzten die Ruinen. Der Syrien-Historiker Joshua Landis erinnert daran, dass der Sturz fragiler arabischer Regime selten bis nie von außen gelingt, sondern schlicht „Fragmentierung und jede Menge Warlords und Emire“ hervorbringt.
Aber der Iran ist kein arabisches Regime. Und es gibt im Lande selbst offenbar durchaus ein weit verbreitetes Bedürfnis nach einem Regimewechsel, wie auch die Protestwellen in den letzten Jahren zeigten. Nach dem Bild, dass sich vom Iran aus den zugänglichen Informations- und Erfahrungs-Puzzleteilen zusammensetzen lässt, scheint die Führung der Islamischen Republik unter den Iranern in etwa so populär zu sein, wie die SED-Führung es unter DDR-Bewohnern kurz vor dem Ende des SED-Staats war.
Das Problem ist nur, dass die politischen Verantwortungsträger im Westen bestenfalls grob ahnen, welche Vorstellungen es unter den Iranern von einer politischen Ordnung nach einem etwaigen Zusammenbruch der Mullah-Herrschaft gibt. Wer kann die dort in Umbruchzeiten wirksam werdenden Kräfte einschätzen? Wer ist in der Lage, diese zu beeinflussen? Wie leider in einigen Konflikten und Kriegen der letzten Jahrzehnte scheint der Westen auf eine Mitgestaltung der Nachkriegsordnung konzeptionell kaum vorbereitet.
Das ist natürlich auch schwer. Wie will man die Entwicklung einer Gesellschaft voraussehen, nachdem die Fesseln einer Diktatur gesprengt sind? Leben die dortigen Akteure dann erst einmal ihre neue Meinungsfreiheit in exzessiven Debatten aus? Oder kann sich ein neues eher autoritäres Netzwerk kurzfristig in einer Interims-Führung des Landes etablieren, weil das Bedürfnis nach Ordnung dominiert? Welche politischen Kräfte sind eigentlich wie stark? Welche Einflüsse von außen können wirkmächtig werden und welche nicht?
Viel Nebel zum Stochern
Vor gut 35 Jahren konnten es alle Beteiligten in Mittel- und Osteuropa erleben: In Regimewechsel- und Umbruchzeiten lässt sich politisch nur auf Sicht fahren. Das ist umso schwieriger, wenn man schon grundsätzlich gar keinen klaren Kurs hat. Und wer hat den im Westen in Bezug auf den Iran?
In Russland werden Regimewechsel-Optionen und Einflussmöglichkeiten derzeit wahrscheinlich genauer analysiert und geplant. Den Mullahs würde Moskau sicher keine Träne nachweinen, aber die Kreml-Strategen wollen natürlich verhindern, dass aus dem Iran ein Staat wird, der die Nähe des Westens sucht. Der Westen wird seinerseits Einfluss nehmen wollen. Und auch Erdogan ist ein Mitspieler, den man nicht außer Acht lassen darf.
Niemand weiß derzeit, wie groß und wirkmächtig die politischen und vielleicht auch ethnischen Fliehkräfte in der iranischen Gesellschaft in einer Umbruchzeit werden können. Wir haben da also viel Nebel, in dem man stochern muss. Auch in dem Fall, dass sich das Teheraner Regime noch einmal durch ein Einlenken retten kann. Dann wird die Frage, wie stabil die Herrschaft der Mullahs, mit denen man gerade verhandelt, noch ist und wie lange sie voraussichtlich noch andauern wird, immer im Raum stehen. Das Thema „Regimewechsel“ wird nicht mehr einfach so verschwinden.
Wo Staaten kollabieren, entstehen Machtvakuen
Dass Russland in diesem „Spiel“ mit den USA plötzlich wieder Gesprächspartner sein kann – etwa bei Verhandlungen über Irans Nuklearprogramm oder bei der Eindämmung regionaler Eskalationen – verdeutlicht nur, wie schnell geopolitische Allianzen rotieren, wenn Chaos zur Konstante wird. Der Westen, allen voran die USA, sucht nach einem neuen Gleichgewicht im Nahen Osten. Und Moskau bietet sich, scheinbar großzügig, als Mitspieler an – obwohl es oft genug selbst auf jenem Schachbrett Figuren bewegt, die es zuvor in Stellung gebracht hat.
Genau deshalb reibt sich der Kreml die Hände: Wo Staaten kollabieren, entstehen regionale Machtvakuen, die kostengünstig ausgefüllt werden können – ein paar Militärpolizisten hier, ein Waffenliefervertrag dort, und schon sitzt Moskau wieder am Verhandlungstisch. Für Putins Reputation bestens geeignet: ökonomischer Auftrieb, diplomatisches Comeback, mediale Ablenkung – die Reihenfolge ist kein Zufall, sondern die Bauanleitung der russischen Krisenstrategie: eine russische Ordnung im gewollten Chaos. Die Rechnung zahlen andere: zuerst die Iraner, dann die Region, am Ende womöglich auch Europa, wenn der nächste Flüchtlingsstrom oder Dschihad-Spin-off ankommt.
Putin hat verstanden, dass Chaos eine Rendite abwirft, solange man nur weit genug davon entfernt sitzt und die Pipelines intakt bleiben. Der Westen dagegen scheint noch oder wie immer zu hoffen, dass sich aus Trümmern von selbst eine liberale Ordnung erhebt.
Dieser Text erschien zuerst im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.