Mit dem Überfall auf die Ukraine hat Wladimir Putin den verhängnisvollsten Fehler seiner Karriere begangen. Innerhalb weniger Wochen ist Russland zu einem Paria-Staat geworden, dessen Wirtschaft unter beispiellosen Sanktionen ächzt.
Wladimir Putin ist davon überzeugt, dass Ukrainer eigentlich Russen sind. In seinem Aufsatz zur historischen Einheit beider Völker vom 12. Juli 2021 schreibt er:
„Wir sehen sie als die Unsrigen an […] Unsere Verwandtschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie liegt in den Herzen, in der Erinnerung der Menschen, die im modernen Russland und in der Ukraine leben. Sie lebt in den Blutsbanden, die Millionen unserer Familien vereinen.“
Der russische Präsident glaubte, diese Auffassung mit Gewalt in politische Realität übersetzen zu können und drohte dem Westen:
„Wir verstehen alle Tricks, die mit dem Projekt ‚Anti-Russland‘ verbunden sind. Und wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Gebiete und Menschen, die uns nahestehen, gegen Russland eingesetzt werden. All jenen, die einen solchen Versuch unternehmen, möchte ich sagen, dass sie auf diese Weise ihr Land zerstören werden.“
In den vergangenen dreizehn Wochen haben sich diese Worte in der Ukraine materialisiert. Höchste Zeit also, die Ergebnisse der russischen Außenpolitik gegenüber Kiew einmal näher zu betrachten und eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Ein neues ukrainisches Nationalbewusstsein
Obwohl Putin seit dem 24. Februar 2022 kübelweise jenes Blut vergießt, das ihm nach eigener Erklärung heilig ist, erwartet er, dass die Ukrainer in den Russen ihre Brüder erkennen. Am 8. Mai wünschte er ihnen sogar eine „friedliche und gerechte Zukunft“. Für den russischen Präsidenten ist das kein Widerspruch. Die Invasion der Ukraine will er nämlich nicht als feindlichen Akt, sondern als Wiederherstellung dessen verstanden wissen, was er als „historische Einheit“ bezeichnet. Doch anstatt dies Ziel zu erreichen, hat Putin dafür gesorgt, dass die engen Bindungen zwischen Russen und Ukrainern unwiderruflich gelöst sind.
So hat Moskaus Überfall zur Entstehung eines neuen ukrainischen Nationalbewusstseins geführt, dessen konstitutives Merkmal auf der dezidierten Abgrenzung gegenüber Russland basiert. In zwanzig Jahren wird man in dem Bewusstsein Ukrainer sein, 2022 die Russen vor Kiew zurückgeschlagen zu haben. Die Wirkmächtigkeit dieses Effekts ist bereits aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bekannt und hat ausgerechnet die Nationalidentität Russlands nachhaltig geprägt.
Vor dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 hatte der Gründungsmythos der Sowjetunion auf der Oktoberrevolution von 1917 basiert. Diese Erzählung war zwar allseits bekannt, konnte bei den bäuerlich geprägten Bevölkerungsmassen aber nicht verfangen. Folglich hatte die Sowjetmacht erhebliche Probleme, jene plebiszitäre Legitimität zu erlangen, die sie gebraucht hätte, um ihre drastischen Pläne zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ohne das Mittel exzessiver Gewalt umzusetzen. Im Ergebnis stand eine Terrorpolitik von präzedenzlosem Ausmaß.
Dieses Problem wurde durch den deutschen Angriff gelöst. Seit Leonid Breschnew den 9. Mai 1965 als offiziellen Feiertag eingeführt hatte, basierte das nationale Selbstverständnis sowjetischer Bürger auf der Erinnerung an den Sieg über Hitler. Die Tatsache, dass dieser Triumph mit 27 Millionen Toten einen historisch beispiellosen Preis gekostet hatte, trat plötzlich in den Hintergrund. Die daran anknüpfende Erzählung, wonach alle sowjetischen Bürger Sieger und die von Stalin begangenen Verbrechen vergessen waren, ist bis heute in Russland lebendig.
Im Ergebnis sehen wir jedes Jahr die mit mythischem Pathos inszenierte Siegesparade auf dem Roten Platz. In der Ukraine wird mittelfristig etwas Ähnliches entstehen. Putins romantischer Traum von der russisch-ukrainischen Einheit indes ist bereits heute in unerreichbare Ferne gerückt.
Die Westbindung der Ukraine
Aus seiner historisch konstruierten Delegitimierung der Ukraine als souveräner Staat leitet Wladimir Putin den Anspruch ab, das Land dauerhaft in der russischen Einflusssphäre zu halten. Obwohl Moskau immer wieder behauptet, die Integrität der Ukraine in Zukunft respektieren zu wollen, lassen die in Putins Rede vom 24. Februar 2022 aufscheinenden Extreme von Hass und Hohn keinen Zweifel daran, dass er die Ukraine am liebsten zu einem Subjekt der Russischen Föderation und ihre Bevölkerung zu russischen Bürgern machen würde.
Mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden soll, zeigt die Oblast Cherson. Nach ihrer Besetzung begann die russische Militärverwaltung, Flugblätter zu verteilen, führte den Rubel als Zahlungsmittel ein und schloss Fernsehen, Mobilfunk und Internet an Russland an. Wie in Donezk und Luhansk wird man auch hier bald dazu übergehen, russische Pässe auszugeben. In einem letzten Schritt wird die von Moskau installierte politische Führung schließlich die Integration in die Russische Föderation fordern.
Trotz dieser Maßnahmen hat der russische Angriffskrieg den Plan Putins, eine Westbindung der Ukraine zu verhindern, endgültig zunichte gemacht. Obwohl sich die Zukunft des Landes gegenwärtig noch nicht absehen lässt, scheint doch festzustehen: Die Ukraine wird sich künftig in ein westliches Bündnis integrieren. Einen Aufnahmeantrag für die EU hat Präsident Selenski bereits im Februar 2022 gestellt. Dabei handelt es sich um ein Szenario, das Putin um jeden Preis hatte verhindern wollen und das gleichsam sein persönlicher Albtraum ist. Nicht zufällig hat er eine westgebundene Ukraine immer wieder als „Anti-Russland“ bezeichnet, dessen Existenz Moskau niemals akzeptieren werde.
Ebenso ist klar, dass der russische Angriffskrieg zu einem Umdenken in der EU geführt hat. Selbst das ansonsten radikal-pazifistische Deutschland hat am 27. Februar 2022 beschlossen, die Bundeswehr bis Jahresende mit insgesamt 100 Milliarden Euro auszustatten und sie künftig als moderne und schlagkräftige Armee aufzustellen. Diese Zuwendungen gehen weit über den Jahresetat der russischen Armee in Höhe von 65,7 Milliarden US-Dollar hinaus. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in weiteren NATO-Staaten ab.
Darüber hinaus haben unlängst auch Finnland und Schweden einen Aufnahmeantrag in die nordatlantische Allianz gestellt. Ihre Armeen gelten als hochmodern und stellen eine schlagkräftige Erweiterung des Bündnisses dar. Damit hat Putin ein neues militärisches Potenzial in Nordeuropa geschaffen, das den Einfluss seines Landes im Nordseeraum erheblich schwächt, wenn nicht sogar gegen Null tendieren lässt.
Die Konsolidierung der Europäischen Union
Obwohl der russische Präsident eigentlich über einen untrüglichen Instinkt für die Schwächen seiner Gegner verfügt, hat er die westlichen Staatschefs im wohl entscheidendsten Moment seiner Karriere unterschätzt. Anstatt einer zerstrittenen EU, deren 27 Mitgliedstaaten völlig verschiedene Partikularinteressen verfolgen, hat er dem vielfach infrage gestellten Bündnis die einmalige Gelegenheit gegeben, sich in einer Weise politisch zu konsolidieren, die zu Jahresbeginn wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte.
Insofern hat sich die EU seit Kriegsbeginn wie ein Phönix aus der Asche erhoben. Und sollte auf europäischer Ebene jener identitätsstiftende Effekt wirksam werden, den ich soeben für die Ukraine prognostizierte habe, könnte Putin den Fortbestand der Union sogar dauerhaft sichergestellt und ihrem Motto „In Vielfalt geeint“ erstmals einen lebendigen Geist eingehaucht haben. All das wird die Position Russlands sowohl im europäischen als auch im globalen Konzert der Mächte nachhaltig schwächen und sämtliche russische Großmachtträume unwiderruflich begraben.
Russland kann den Krieg militärisch nur verlieren
Dass Moskau in der Ukraine wenig erfolgreich ist, hat einen Grund: Der russische Angriffsplan basierte auf der arroganten Prämisse, man könne den ukrainischen Staat mit einem Enthauptungsschlag zum Einsturz bringen. Wie wir wissen, kam es anders. Anstatt mit wehenden Fahnen auf dem Maidan einzuziehen und die Regierung Selenskis zu verhaften, schlug Moskaus Truppen der fanatische Widerstand der ukrainischen Verteidiger entgegen. Rasch wurde klar, dass Russland unter diesen Umständen nicht dazu fähig sein würde, die Ukraine dauerhaft zu besetzen. Dass Moskau bis heute kein entscheidender Durchbruch gelungen ist, verwundert also nicht.
Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Die Waffenlieferungen westlicher Staaten, die bereits vor Kriegsbeginn begonnen hatten und bis heute anhalten, haben die technologische Überlegenheit des russischen Militärs ausgeglichen. Die Solidarität der NATO leitet der Ukraine einen schier unerschöpflichen Strom finanzieller und materieller Ressourcen zu. Immer mehr zeichnet sich ab, dass Russland in der Ukraine eine militärische Niederlage ereilen wird. Der Verlust des Flaggschiffs „Moskau“ im Schwarzen Meer sowie die immensen Ausfälle an Menschen und Material sind Vorboten der heraufziehenden Katastrophe.
Putin trägt die alleinige Verantwortung
Fassen wir das Gesagte noch einmal zusammen: Putins Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, hat Russland in den Abgrund politischer und wirtschaftlicher Isolation gestürzt. Sie hat die Ukraine ideell und politisch vollständig von Moskau getrennt sowie NATO und EU konsolidiert. Angesichts dieser Bilanz, die das exakte Gegenteil dessen darstellt, was Moskau ursprünglich intendiert hatte, stellt sich folgende Frage: Wie ist es möglich, dass ein erfahrener Staatsmann wie Wladimir Putin einen solch schwerwiegenden Fehler begeht?
Wer Putins Aufsatz zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern gelesen hat, kennt die Antwort. Sie besagt, dass die Invasion der Ukraine das Projekt eines einzigen Mannes ist. Sie ist nicht die Utopie der politischen Elite in Moskau; sie ist kein Komplott der Geheimdienste; und sie ist auch nicht das Planspiel des Generalstabs – sie ist einzig und allein die persönliche Obsession des russischen Präsidenten. Seine ideologischen Scheuklappen zeichnen für die größte Katastrophe verantwortlich, die Russland seit 1945 erlebt hat. Und nur Wladimir Putin hat die Macht, diese Krise zu beenden.
Unglücklicherweise würde eine radikale Kehrtwende aus Sicht des Kremls einen Gesichtsverlust bedeuten. Die daraus resultierenden Folgen würden sehr wahrscheinlich das Ende von Putins Herrschaft einläuten. Aus diesem Grund will man den Krieg unbedingt am Laufen halten und ihn notfalls auch weiter eskalieren. Dies wiederum verschlimmert die ohnehin schon ausweglose Situation, in der sich Russland gegenwärtig befindet. Der wirtschaftliche Kollaps, den die bislang verhängten Sanktionen mit mathematischer Gewissheit herbeiführen werden, lässt sogar das Auseinanderbrechen der Russischen Föderation möglich erscheinen.
Dies gilt umso mehr, als Putin bei seinem historischen Exkurs zur Ukraine ganz offensichtlich übersehen zu haben scheint, dass das Staatsgebiet seines Landes ganz überwiegend aus Territorien besteht, die die Zaren im Laufe vieler Jahrhunderte gewaltsam unterworfen hatten. Machten sich nun etwa die Völker des Kaukasus oder die Tataren an der Mittleren Wolga Putins Doktrin zu eigen, würde der größte Flächenstaat der Erde so zusammenfallen, wie es sich der russische Präsident für die Ukraine gewünscht hat.
Dabei handelt es sich um ein Szenario, das katastrophale Folgen für die internationale Sicherheit hätte. Sollte es tatsächlich dazu kommen, würde Putin in seiner Heimat als Erzfeind Russlands in die Geschichte eingehen und damit eben jene Rolle einnehmen, die er bis heute dem „kollektiven Westen“ zuschreibt.
Christian Osthold ist Historiker und hat in russischer Geschichte promoviert. Seit 2001 hat er Russland mehr als 30 mal bereist sowie Archivaufenthalte in Moskau und Grosny absolviert. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten hat Osthold 2015 als einziger deutscher Historiker für mehrere Monate in einem tschetschenischen Dorf gelebt. Aus dieser Tätigkeit ist 2019 die erste vollumfängliche Gesamtdarstellung zum Tschetschenien-Konflikt hervorgegangen. Als intimer Russlandkenner schreibt Osthold für verschiedene Zeitungen und Journale, darunter Focus Online, NZZ, Cicero etc. Darüber hinaus ist er regelmäßig in Fernsehsendungen zu sehen, zuletzt bei der Deutschen Welle. Christian Osthold spricht fließend Russisch und ist mit einer Russin verheiratet.