Trumps Russlandpolitik scheiterte an einer Fehleinschätzung: Er hielt Putin für berechenbar. Tatsächlich treibt der Kremlchef ein System voran, das auf Eskalation, Repression und Machtkonzentration gründet.
Einen Monat nach dem Gipfeltreffen zwischen Donald Trump und Wladimir Putin in Anchorage steht die Russlandpolitik des amerikanischen Präsidenten unter massivem Druck. Anstatt Schritte zur Deeskalation einzuleiten, hat Moskau seine Angriffe ausgeweitet und die Nato mit gezielten Zwischenfällen provoziert.
Zunächst verletzten Drohnenschwärme den polnischen Luftraum und versetzten Warschau in höchste Alarmbereitschaft. Am 19. September folgte im Baltikum der nächste Vorfall: Drei russische Kampfjets drangen nahe der estnischen Ostseeinsel Vaindloo in den Luftraum des Nato-Staates ein und hielten sich dort dreizehn Minuten auf. Tallinn schlug Alarm. Am Sonntag schließlich kam es zu einem weiteren Zwischenfall, bei dem ein russisches Aufklärungsflugzeug mit deaktiviertem Transponder von Nato-Jets abgefangen wurde – ein weiteres Signal, dass Moskau die Grenzen des Bündnisses systematisch testet.
Für den amerikanischen Präsidenten wird dies zur Bewährungsprobe. Noch in Anchorage hatte sich Trump als Staatsmann inszeniert, der auf Dialog setzt. Er vertraute darauf, dass sein Gegenüber ein kalkulierender Machtpolitiker sei, der taktisch abwäge und im Zweifel Kompromisse nicht scheue. Diese Annahme hat sich als Illusion erwiesen. Die Realität zeigt einen Kremlchef, der weder an Verständigung interessiert ist noch an internationaler Stabilität. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie Trump in seiner Einschätzung des russischen Präsidenten zu einer derartigen Fehleinschätzung gelangen konnte.
Ein Blick auf Putins Entwicklung liefert die Erklärung. Aus dem nüchtern kalkulierenden Machtpolitiker der frühen 2000er Jahre ist ein Herrscher geworden, der ideologisch verhärtet, im eigenen Machtzirkel isoliert und von Misstrauen getrieben agiert. Loyalität gilt ihm mehr als Kompetenz, und die Interessen des Landes treten zunehmend hinter persönliche Ambitionen zurück.
Diese autoritäre Zuspitzung verstärkte zugleich seine Isolation. Hatte Putin zu Beginn seiner Amtszeit noch auf die Expertise liberaler Ökonomen wie Alexei Kudrin oder Herman Gref gehört, so stützte er sich im Laufe der Jahre fast ausschließlich auf den Sicherheitsapparat. Spätestens während der Pandemie wurde diese Abschottung sichtbar: Selbst engste Mitarbeiter mussten wochenlange Quarantänen überstehen, um Zugang zum Präsidenten zu erhalten. Entscheidungen wurden nicht mehr in pluralen Beratungsprozessen getroffen, sondern in einem engen Kreis alter KGB-Vertrauter – ohne Rückbindung an gesellschaftliche Realitäten.
Mit Ehrgeiz in die Diktatur
In diesem Klima von Misstrauen, Selbstüberschätzung und ideologischer Verhärtung fiel schließlich die Entscheidung zur Invasion der Ukraine. Putin, der jahrzehntelang von günstigen Umständen und taktischem Kalkül profitiert hatte, unterschätzte sowohl die Widerstandskraft der Ukraine als auch die Reaktionsfähigkeit des Westens. Die zunehmende Autokratisierung hatte ihn nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von verlässlicher Information abgeschnitten – und so die Grundlage seiner größten strategischen Fehlentscheidung geschaffen.
Getrieben von dem Ehrgeiz, als russischer Präsident in die Geschichte einzugehen, der den „Makel“ des territorialen Verlustes nach 1991 tilgt, stellte Putin persönliche Ambitionen über das objektive Interesse der Russischen Föderation an stabilen Beziehungen zu Europa. Aus seiner Sicht existierte ein Konflikt mit dem Westen ohnehin nicht: Der Angriffsbefehl beruhte nicht auf der Erwartung eines langwierigen Krieges, sondern auf der Annahme einer zeitlich begrenzten „militärischen Spezialoperation“, die binnen weniger Wochen ihre Ziele erreichen würde.
Seitdem hat sich Russland endgültig in eine Diktatur verwandelt. Aus der „harten Autokratie“ ist ein System totaler Unterordnung geworden, in dem Staat und Gesellschaft zunehmend totalitäre Züge tragen. Die Grundlagen dafür wurden bereits in den frühen 2000er-Jahren gelegt, als Putin die Macht der Gouverneure brach, Oligarchen entmachtete und die großen Fernsehsender unter staatliche Kontrolle brachte.
Mit den Verfassungsänderungen von 2020, die ihm eine faktische Präsidentschaft auf Lebenszeit ermöglichen, wurde die Machtvertikale vollends auf seine Person zugeschnitten. Parallel dazu wurden unabhängige Medien und oppositionelle Strukturen systematisch ausgeschaltet – von der Zerschlagung der Navalny-Organisationen bis zur Blockade von Echo Moskwy, TV Dozhd und Novaya Gazeta.
Der Angriff auf die Ukraine wirkte schließlich wie ein Katalysator: Kriegszensur verbietet Begriffe wie „Krieg“ oder „Invasion“, drakonische Gesetze bedrohen Kritiker mit bis zu 15 Jahren Haft, und das Propagandazeichen „Z“ prägt den öffentlichen Raum. Die inszenierte Sitzung des russischen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022, bei der Putin isoliert am Kopf eines überlangen Tisches saß und die Mitglieder zur Loyalitätsbekundung zwang, machte die Logik der absoluten Personalisierung sichtbar. Gewaltenteilung und gesellschaftliche Gegengewichte existieren nicht mehr; Stabilität wird nur noch durch Repression, Angst und das allgegenwärtige Feindbild des Westens gesichert.
Die Zeit der Säuberungen
Die Folgen dieser Entwicklung zeigen sich im Inneren des Machtapparats. Seit 2024 erschüttern beispiellose Säuberungen das Verteidigungsministerium. Den Auftakt markierte die Festnahme von Vizeminister Timur Iwanow, dem Schmiergeldzahlungen von 1,2 Milliarden Rubel, milliardenschwere Veruntreuungen und Betrug bei Rüstungsprojekten vorgeworfen werden; beschlagnahmt wurden Dutzende Oldtimer, Luxusimmobilien und 43 Bankkonten. Kurz darauf wurde Personalchef Juri Kusnezow verhaftet, der für 30,5 Millionen Rubel in Form von Immobilien bestochen worden sein soll.
Im Sommer folgten weitere Spitzenfunktionäre: Vizeminister Dmitri Bulgakow wegen minderwertiger Lebensmittellieferungen, Pawel Popow mit einem Immobilienvermögen von über 500 Millionen Rubel, General Iwan Popow wegen des illegalen Verkaufs von 2.000 Tonnen Metall (Schaden fast 100 Millionen Rubel), Kommunikationschef Wadim Schamarin wegen Schmiergeldern von 36 Millionen Rubel und Ex-Vizekommandeur Walerij Muminjanow wegen Großkorruption.
Auch die administrativen Ebenen blieben nicht verschont: Ministerialdirektor Juri Sadovenko, Pressesprecherin Rossijana Markowskaja, Kommandeur Suchrab Achmedow sowie mehrere Vizeminister – darunter Ruslan Zalikow, Tatjana Schewzowa und Nikolaj Pankow – verloren ihre Ämter. Gegen Generalmajor Alexander Ogloblin läuft ein Verfahren wegen Bestechung, Bauaufsichtsleiter Juri Koschewnikow sitzt seit April 2025 in Untersuchungshaft.
Die Vielzahl dieser Fälle, die von Bestechung über Betrug bis hin zu systematischer Veruntreuung reichen, verdeutlicht zweierlei: Zum einen dokumentieren sie das Ausmaß struktureller Korruption im russischen Verteidigungsapparat. Zum anderen erfüllen sie eine politische Funktion. Unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung werden rivalisierende Netzwerke zerschlagen, die Armee ihrer institutionellen Eigenständigkeit beraubt und das Offizierskorps noch enger an den Kreml gebunden.
Zurück bleibt eine Führung, deren Schicksal weniger vom individuellen Fehlverhalten als von der Loyalität gegenüber dem Präsidenten abhängt. Damit hat auch das Militär endgültig jene Logik verinnerlicht, die das gesamte System kennzeichnet: Stabilität beruht nicht mehr auf Institutionen, sondern auf Furcht und der Personalisierung der Macht.
Noch deutlicher tritt die Schere zwischen Herrschaft und Gesellschaft in den jüngsten Umfragen zutage. Einer Erhebung des Lewada-Zentrums zufolge unterstützen zwar weiterhin rund drei Viertel der Befragten den Einsatz der russischen Armee in der Ukraine, doch zugleich spricht sich eine stabile Mehrheit von 61 Prozent für Friedensverhandlungen aus, während nur knapp ein Drittel eine Fortsetzung der Kämpfe befürwortet. Auch die Bilanz des Krieges fällt gespalten aus: Vier von zehn Russen sehen mehr Schaden als Nutzen, nur ein Drittel glaubt an positive Effekte – wobei als „Nutzen“ fast ausschließlich die Rückgewinnung von Territorien genannt wird, während der „Schaden“ vor allem mit den hohen Opferzahlen verbunden ist.
Hinzu kommt ein wachsender Ermüdungseffekt: Nur noch die Hälfte der Bevölkerung verfolgt die Entwicklungen in der Ukraine aufmerksam, fast jeder Fünfte gar nicht mehr. Damit wird sichtbar, wie sehr die Kriegspolitik des Kremls vom gesellschaftlichen Stimmungsbild entkoppelt ist – ein Kurs, der nicht im Konsens, sondern allein durch Repression, Propaganda und die Personalisierung der Macht aufrechterhalten wird.
Für Wladimir Putin spielen solche Entwicklungen indes keine Rolle. Weder die innere Transformation des Staates noch die Stimmungslage der Bevölkerung besitzen für ihn Priorität. Entscheidend ist allein, den im Februar 2022 eingeschlagenen Kurs bis zum Ende durchzusetzen – unabhängig von Kosten und Folgen. Möglich wird dies durch die Struktur des Systems: In Russland existieren keine wirksamen Checks and Balances, keine Instanz, die den Präsidenten zur Rechenschaft ziehen könnte. Parlament, Justiz und Medien sind ihrer Kontrollfunktion beraubt; geblieben ist ein Gefüge, in dem sich die Macht vollständig in der Person des Präsidenten konzentriert.
Der Politologe Fabian Burkhardt hat dieses Arrangement als „doppelten Staat“ beschrieben – ein System, das zwischen routiniertem Verwaltungsbetrieb und direkter Steuerung durch den Präsidenten oszilliert, wobei der Raum für eigenständiges Handeln der Institutionen stetig schrumpft. Die Folge ist eine allgegenwärtige Personalisierung, in der selbst formale Verfahren nur noch Kulisse für Entscheidungen sind, die letztlich im Kreml fallen. Russlands Politik kreist damit vollständig um die Person des Präsidenten – ein Ausdruck der Selbstentmachtung institutioneller Prozesse.
Warum Trumps Annäherungsversuche ins Leere laufen mussten
Damit sind jene Zusammenhänge skizziert, die Donald Trump bei der Konzeption seiner Russlandpolitik offenbar ignorierte. Sein Bild von Wladimir Putin stammte im Wesentlichen aus seiner ersten Amtszeit. Damals sah er im Kremlchef einen rationalen Machtpolitiker, kalkulierend und einschätzbar – einen Mann, mit dem sich verhandeln lasse. In Hamburg 2017 präsentierte er das Zustandekommen eines begrenzten Waffenstillstands in Syrien als Beleg dafür, dass mit Putin Abkommen möglich seien. In Da Nang stellte er sich öffentlich hinter Putins Dementi zur Wahlbeeinflussung und erklärte, er „glaube ihm“.
Der Gipfel von Helsinki 2018 brachte diesen Vertrauensvorschuss auf die Spitze: Trump stellte Putins Worte über die Einschätzungen der eigenen Geheimdienste. Noch 2019 sprach er nach einem Treffen in Japan von einer „sehr, sehr guten Beziehung“ und zeigte sich überzeugt, seine persönliche Nähe könne der Schlüssel zu einem Ausgleich sein. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Weißen Haus hielt Trump an dieser Wahrnehmung fest. Selbst während des laufenden Krieges erklärte er, allein er könne Putin an den Verhandlungstisch bringen und den Konflikt beenden. Sein Mantra, unter seiner Führung hätte es den Krieg nie gegeben, wurde zum geflügelten Wort dieser Legende.
Erst nach seiner Rückkehr ins Präsidentenamt wich Trumps Optimismus einer spürbaren Ernüchterung. Angesichts der anhaltenden Eskalation durch Russland musste der US-Präsident einräumen, dass von seinem langjährigen Gegenüber inzwischen „eine Menge Bullshit“ komme – ein spätes Eingeständnis, dass die Illusion einer besonderen Verständigung nicht mehr zu halten ist.
Trump und Putin eint zwar der persönliche Machtanspruch, doch ihre politischen Grundlagen könnten unterschiedlicher kaum sein: Trump denkt wie ein Geschäftsmann, der auf Deals und persönliche Beziehungen setzt, Putin dagegen wie ein Geheimdienstoffizier, der Schwächen analysiert und gnadenlos ausnutzt. Genau diese Asymmetrie erklärt, warum Trumps Annäherungsversuche ins Leere laufen mussten.
Die jüngsten Provokationen haben diesen Lernprozess beschleunigt. Statt eines schnellen Friedens muss Trump erkennen, dass sein persönliches Verhältnis zu Putin keinerlei Hebelwirkung entfaltet. Nach dem Gipfel in Alaska im August, bei dem er ein direktes Treffen zwischen Putin und Selenskyj in Aussicht stellte, sprach er offen von Enttäuschung: Putin habe ihn „hängenlassen“. In Interviews und bei gemeinsamen Auftritten – zuletzt mit dem britischen Premierminister Keir Starmer in London – räumte er ein, seine Geduld gehe „schnell zur Neige“.
Handlungsfähigkeit zurück gewinnen
Im Kreml sorgt dies offenbar für wenig Beunruhigung. Nach Informationen von Bloomberg, die sich auf Quellen aus dem Umfeld der russischen Regierung stützen, ist Putin zu der Überzeugung gelangt, dass Eskalation das wirksamste Mittel zur Durchsetzung seiner Kriegsziele ist. Mit einer substanziellen Verstärkung der US-Unterstützung für die Ukraine rechne er nicht.
Als Reaktion auf die jüngsten Provokationen deutete Trump härtere Sanktionen an und forderte die europäischen Partner auf, ihre Ölimporte aus Russland zu beenden, da Putin bei sinkenden Einnahmen „keine andere Wahl“ hätte, als den Krieg abzubrechen. Während der US-Präsident so versucht, verlorene Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen, verschärft auch die EU den Druck: Mit dem inzwischen 19. Sanktionspaket wird die ökonomische und politische Isolation Russlands weiter vorangetrieben – ein deutlicher Kontrast zu Trumps einstiger Überzeugung, seine persönliche Nähe zu Putin könne den Schlüssel zur Lösung des Konflikts bieten.
Die Analyse der politischen Verhältnisse in Russland sowie der Wandlung Wladimir Putins legt nahe, dass eine politische Einigung im Ukraine-Krieg, wie sie das Weiße Haus anstrebt, derzeit nicht realistisch ist. Der Kremlchef hat sich festgelegt, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen und die Nachkriegsordnung nicht durch Verhandlungen, sondern durch militärische Fakten zu bestimmen.
Möglich wird diese Strategie durch mehrere Faktoren: die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit der russischen Wirtschaft an Sanktionen, neue außenpolitische Spielräume durch BRICS, die enge Partnerschaft mit China und eine weit verbreitete politische Apathie in der russischen Gesellschaft, die dem Krieg nur begrenzte Aufmerksamkeit schenkt.
In der Geschichte Russlands ist die enge Bindung der Geschicke des Staates an eine Einzelperson keine Seltenheit. Mit seiner autokratischen Herrschaft steht Wladimir Putin in der Tradition der Zaren wie auch des sowjetischen Diktators Josef Stalins. Ob sein politisches Vermächtnis in einer Stärkung Russlands oder in einer strategischen Niederlage enden wird, ist offen.
Fest steht lediglich: Trumps Fehleinschätzung Putins hat nicht nur seine Russlandpolitik entzaubert, sondern zugleich die Grenzen einer Strategie offengelegt, die auf persönliche Nähe statt auf strukturelle Analyse setzt. Für den Westen heißt das: Solange Putins Herrschaft auf Personalisierung, Repression und militärischer Eskalation beruht, lassen sich Konflikte nicht durch individuelle Beziehungen entschärfen – sondern nur durch langfristige Abschreckung, Resilienz und Geschlossenheit.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.