Am 8. Dezember 2022 hat Wladimir Putin im Rahmen einer feierlichen Zeremonie Soldaten für ihre Verdienste im Ukraine-Krieg geehrt. Nach einer zwanzigminütigen Ansprache suchte der russische Präsident das Gespräch mit den Männern – ein Blick in den Kreml und Putins Befindlichkeit.
Seit dem 26. Januar 2007 wird der 9. Dezember in der Russischen Föderation jedes Jahr als „Heldentag der Heimat“ begangen. Seine Einführung war auf Initiative der Partei „Einiges Russland“ erfolgt und sollte einen in vorrevolutionärer Zeit gepflegten Feiertag zurück ins Leben rufen – den Tag der Georgschen Kavalliere. Den nach ihnen benannten Orden hatte einst Katharina die Große gestiftet. Indem sich der russländische Staat auf diese Tradition beruft, möchte er Soldaten ehren, die sich durch herausragende Leistungen im Einsatz hervorgetan haben.
Bei der am 8. Dezember ausgerichteten Veranstaltung wurde den zwölf Preisträgern die Medaille „Goldener Stern“ verliehen. Dabei handelt es sich um eine Auszeichnung, die nach offiziösen Angaben ausschließlich Helden Russlands zusteht. Ihre Ursprünge wiederum gehen unmittelbar auf die Initiative Stalins zurück. Dieser hatte die Medaille per Dekret zum 1. August 1939 gemeinsam mit dem Leninorden einführen lassen.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR dauerte es nicht lange, bis der Goldene Stern auch am Himmel der Russischen Föderation zu altem Glanz erstrahlte. Seit dem 20. März 1992 wird er vom Präsidenten persönlich an Personen vergeben, die sich in besonderer Weise für den Staat und das Volk verdient gemacht haben. Die skizzierten Hintergründe nachzuvollziehen, mag müßig sein, jedoch lässt sich dadurch gut veranschaulichen, in welcher Weise im heutigen Russland Elemente der Kultur von Zarenreich und Sowjetunion zu einem neuen Stoff verwoben werden.
Die Bedeutung von Ritual und Mythos
Das ist kein Zufall. Im Kreml weiß man um die Bedeutung von Ritual und Mythos. In Zeiten des Krieges, da Russland sowohl politisch als auch wirtschaftlich mit starken Pressionen zu kämpfen hat, soll die Binnenkohäsion der Bevölkerung gestärkt werden. Das Staatsfernsehen inszeniert Wladimir Putin dabei als entschlossenen, aber gerechten Herrscher, der sich aufmerksam seiner Untertanen annimmt. Dass das Regime ausgerechnet jetzt solchen Wert auf integrative Riten legt, dürfte mit der Sorge vor einem Kippen der Stimmung im Land zu tun haben. Längst zeichnet sich ab, dass es in Teilen der Bevölkerung wachsenden Unmut gegen den Krieg gibt.
Eine Umfrage der als unabhängig geltenden Zeitung „Moscow Times“ hat ergeben, dass am 17. November 2022 nur noch 60 Prozent der Befragten den Angriff auf die Ukraine für gerechtfertigt halten. Von dem überbordenden Hurra-Patriotismus der letzten Jahre ist nicht mehr viel übrig. Zwar scheint nach wie vor eine Mehrheit den Kurs Putins zu unterstützen. Gleichwohl hatte die Zustimmungsrate im April 2022 noch bei 70 Prozent gelegen.
In seiner feierlichen Rede stellt Putin fest, Russland habe sich in seiner Geschichte immer wieder verschiedenen Herausforderungen stellen müssen, um die eigene Sicherheit und Einigkeit zu verteidigen. Dieser Satz ist mittlerweile so oft aus dem Mund Putins zu hören gewesen, dass er mittlerweile regelrecht verbraucht wirkt. Trotzdem appelliert er mit großem Pathos an die geladenen Gäste, sich vor dem Heldenmut der Vorfahren zu verneigen und der tapfer kämpfenden Truppe in der Ukraine zu gedenken.
Während Putin dieser Worte spricht, herrscht absolute Stille. Die Anwesenden, deren Gesichter immer wieder von den Kameras eingefangen werden, wirken überwiegend ergriffen. Die Masse der Gäste scheint dadurch mit der im Saal geschürten Atmosphäre verschmelzen. Der Ort des Geschehens ist geschichtsträchtig, war hier doch bereits der Anschluss der vier ukrainischen Oblaste in die Russische Föderation gefeiert worden. Nach nur wenigen Minuten von Putins Rede ist klar: Russlands Überfall auf die Ukraine mag militärisch ins Stocken geraten sein. Das Regime aber hat nichts von seiner Fähigkeit zur Selbstinszenierung verloren. Und es ist noch immer für Überraschungen gut.
Helden des Vaterlandes
So belässt es Putin nicht dabei, nur die Preisträger zu beglückwünschen, bei denen es sich um zwölf Militärangehörige handelt, von denen manche sogar nur im Rang eines Gefreiten stehen. Indem er kurzerhand alle Soldaten an der Front als Helden bezeichnet, schließt er den Bogen und versöhnt sich dadurch mit einer Bevölkerungsgruppe, die seit 10 Monaten in einem Krieg stirbt, den er selbst vom Zaun gebrochen hat. Für Putin ist der Heroismus, den er den betreffenden Männern zuschreibt, nicht Ausdruck ihrer Verzweiflung, sondern Symptom ihrer Liebe zu Russland.
Diese Überzeugung fasst er mit folgenden Worten zusammen: „Ich bin sicher, dass die Schicksale und Taten der Helden des Vaterlandes als wichtigste moralische Leitlinie für die Mehrheit der Bürger unseres riesigen Landes dienen – sie dazu inspirieren, immer mehr zu erreichen, vorwärtszugehen, zum Wohle der Menschen zu wirken und unser Land gemeinsam stärker und erfolgreicher zu machen.“
Als wenige Augenblicke später der erste Preisträger von Putin den Goldenen Stern erhält, spricht er ihn nicht als Präsident, sondern als „verehrten Oberkommandieren“ an. Damit ist klar, dass Wladimir Putin hier nicht als Politiker, sondern vor allem als Oberbefehlshaber der Streitkräfte agiert. Er schlüpft in dieselbe Rolle, in der sich bereits der militärische Laie Stalin gefallen hatte.
Trotz seiner verheerenden Fehlentscheidungen, die besonders in den ersten Jahren des Krieges mit Deutschland für Millionen Tote gesorgt hatten, ließ sich der Diktator am 27. Juni 1945 den Titel „Generalissimus der Sowjetunion“ verleihen. Stalin beanspruchte den Sieg über Hitler vollumfänglich für sich. Und diesen Anspruch sollten ihm die Geschichtsbücher später zusprechen.
Voller Stolz und Dankbarkeit
Obwohl Putin von den großen Siegen der Roten Armee nicht nur Jahrzehnte, sondern vermutlich auch Welten entfernt ist, kann er seine Sehnsucht nach den ruhmreichen Tagen der Vorväter nicht verhehlen. Zeitweise hat man den Eindruck, dass sich die gesamte Inszenierung in Wahrheit nur um Putin selbst dreht. In dieser Sichtweise sind die Soldaten lediglich Statisten – und die ihnen verliehenen Preise kein Symbol der Wertschätzung, sondern Ausdruck von Putins Größe als russischer Herrscher. Er allein bestimmt über Leben und Tod – natürlich darüber, wen er dafür auszeichnet.
An diesem Tag erhalten insgesamt zwölf Personen den Goldenen Stern. Alle von ihnen spielen die ihnen zugewiesene Rolle überzeugend. Sie sind voller Stolz und Dankbarkeit, der Heimat mit ihrem Fronteinsatz dienen zu dürfen. Und sie haben keine Sekunde gezögert, gegenüber Staat und Volk ihre Pflicht zu tun. Auffällig ist, dass immer wieder auf die reibungslose Funktionsfähigkeit und die vollständige Einsatzbereitschaft der Armee hingewiesen wird. Wer das Kriegsgeschehen der letzten Monate aufmerksam verfolgt hat, weiß, dass es sich bei den hier geäußerten Darstellungen mitunter um starke Übertreibungen handelt.
Gleiches gilt für den in Russland dieser Tage häufig gezogenen Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg. Einer der Ausgezeichneten sagt: „Vor 80 Jahren haben unsere Groß- und Urgroßväter die Unabhängigkeit unseres Heimatlandes verteidigt, indem sie einen kompromisslosen Kampf für die gesamte russische Welt führten.“ Diese Aussage ist so falsch, dass es schwerfällt, sie unkommentiert zu lassen.
Im Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion von Deutschland überfallen worden, als die Wehrmacht ohne vorherige Kriegserklärung am 22. Juni 1941 einmarschierte. Der Kampf der Sowjets hatte damit zunächst also einen rein defensiven Charakter. Er verfolgte das Ziel, den deutschen Aggressor aus dem Land zu werfen. Die Rote Armee führte den ihr aufgezwungen Krieg aber nicht, um das Russentum oder eine russische Welt zu verteidigen, sondern um das stalinistische Regime zu retten, das bis dahin nahezu zwanzig Jahre lang in der Sowjetunion gewütet und Millionen von Opfern produziert hatte.
Putin ist selbst nie im Krieg gewesen
Noch bedeutender ist das Folgende: Russland hat die Ukraine am 24. Februar 2022 gemäß den international geltenden Regularien zum Landkrieg mustergültig überfallen. Damit steht es in der Tradition des Dritten Reichs. Während Hitler 1941 seinem damaligen Verbündeten in den Rücken fiel, hat Putin die Existenz eines Staates zur Disposition gestellt, zu dessen Schutz sich die Russische Föderation im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 selbst verpflichtet hatte. All das Gerede von der Fortsetzung des Heldenkampfes sowjetischer Soldaten ist nichts weiter als die billige Propaganda eines Regimes, dem in Wahrheit nichts heilig ist.
Das hält Putin jedoch nicht davon ab, über den Sinn von Leben und Tod, von Krieg und Frieden zu philosophieren. Ebenso feierlich wie staatsmännisch konstatiert er: „Unter dem Eindruck der Kampfhandlungen möchte jeder Mensch gesund und am Leben bleiben. Er möchte sich mit seinen Freunden, Verwandten, mit Kindern, Ehefrauen, Eltern treffen. Aber dieses Gefühl der Selbsterhaltung, das jedem Menschen eigen ist, ist für Menschen zweitrangig, die ihr Leben an den höchsten Ideen und Idealen der Hingabe an ihr Volk ausrichten.“ Diesen Worten liegt keine eigene Erfahrung zugrunde. Putin ist selbst nie im Krieg gewesen und hat demnach auch keine Situationen erlebt, in denen es um Leben und Tod ging.
Die im Anschluss an Putins Rede erfolgte Unterredung stand ebenfalls im Kontext der skizzierten propagandistischen Inszenierung. Es ging dabei nicht um die Schicksale der Preisträger oder ihre Leistungen im Krieg, sondern um die mit diesen Bildern erzielte Wirkung. Im Kreise der Soldaten stehend, sprach Putin ihnen seine Dankbarkeit aus und stellte einige Fragen. Dabei wirkte der russische Präsident allerdings nicht wie ein Fachmann. Wohl aber wie jemand, der es gewohnt ist, im Mittelpunkt zu stehen und seiner Sicht der Dinge Ausdruck zu verleihen.
Wieder einmal mündete dies in einen Monolog und ehrfürchtigen Zuhörern, die Putins Ausführungen sichtlich angestrengt folgten. Ob ihnen in den Sinn kam, dass den Worten ihres Präsidenten womöglich gar kein tieferer Sinn innewohnte, bleibt fraglich. Klar hingegen war nur, dass Putin etwas zu viel getrunken hatte und mit ungewöhnlich gelöster Zunge sprach.
Im neuen Jahr eine umfassende Winteroffensive
So eifrig der Kreml auch damit befasst sein mag, sich selbst zu inszenieren, ändert das nichts an den Gegebenheiten der Realität, wonach Russland heute meilenweit von einem Sieg in der Ukraine entfernt ist. Trotz der bis zu 300.000 mobilisierten Reservisten ist sein Ausgang völlig unklar. Sollten die USA Kiew tatsächlich Luftabwehrsysteme des Typs Patriot zur Verfügung stellen, dürfte die Wirksamkeit russischer Luftangriffe weitgehend neutralisiert sein. Für die Ukraine wäre das lebenswichtig, ist doch bereits ein bedeutender Teil ihrer kritischen Infrastruktur zerstört worden.
Putin hat sich unterdessen am 17. Dezember 2022 zum ersten Mal seit Kriegsbeginn mit dem Generalstab getroffen, nachdem er am 14. und 16. Dezember bereits zwei Sitzungen mit den ständigen Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates absolviert hatte. Im Generalstab traf Putin auf Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Walerij Gerassimov sowie auf Sergej Surowikin. Die Ukraine vermutet, dass Russland im neuen Jahr eine umfassende Winteroffensive vorbereitet. Bis zu 200.000 Soldaten könnten eingesetzt werden, um Kiew zu erobern. Inwieweit dieser Befürchtung zutreffend ist, lässt nicht sagen.
Klar ist hingegen, dass das Regime zum Jahresende um starke Gesten bemüht ist. Am 18. Dezember brach Schoigu aus dem Generalstab zu einem Frontbesuch auf, der ihn in den südlichen Militärbezirk führte. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, Schoigu habe das Aufmarschgebiet der Truppe überflogen und die vorgeschobenen Stellungen der Truppe inspiziert. Ferner habe er auch mit den Soldaten gesprochen und sich von den Kommandeuren über die aktuelle Lage ins Bild setzen lassen. Das klingt wenig spektakulär, zumal Russland an der Südfront mit der Räumung von Cherson die bislang größte Niederlage des gesamten Krieges erlitten hat.
Putins Besuch des Generalstabs ist allerdings nicht die einzige erwähnenswerte Neuigkeit. Eine weitere besteht darin, dass es in diesem Jahr keinen Neujahrsempfang im Kreml geben wird. Neben der obligatorischen jährlichen Pressekonferenz, die Putin seit 2001 abhält, ist damit bereits eine zweite wichtige Veranstaltung abgesagt worden. Was auch immer der Grund für diese Entscheidung sein mag: Kaum ein Jahr dürfte aus russischer Sicht in der Vorausschau ungewisser gewesen sein als 2023.