Derselbe unberechenbare, womöglich irre Mann, dem man umstandslos zutraut, wegen des Misserfolgs seiner „Spezialoperation“ einen weltweiten Atomkrieg vom Zaun zu brechen, soll ein verlässlicher Verhandlungspartner sein, mit dem man einen dauerhaften Waffenstillstand oder gar eine Friedenslösung vereinbaren will?
Niemand weiß, was Putin und seinen beliebig austauschbaren Schergen, Spitzname „Bluthunde“, noch alles einfallen wird, um die Niederlage zu verzögern und das mutwillig angerichtete Desaster zu verlängern, bevor der Untergang der russischen Despotie, der Höllenritt in den Abgrund, perfekt ist: Bombenterror auf große Städte, die Zerstörung der verbliebenen ukrainischen Infrastruktur, Cyberattacken auf westliche Einrichtungen, Mord und Folter frei Haus.
Doch eines steht jetzt schon fest: Putins stärkste – und letzte – Waffe ist die Angst, genauer: die Angst der Deutschen. Eine Angst, die zuweilen an Unterwerfungssehnsucht grenzt. Die Offenen Briefe von Alice Schwarzer, Richard David Precht & Co. repräsentieren diese Haltung, die sich moralisch stets auf der richtigen Seite wähnt und dabei größenwahnsinnig und feige zugleich ist, überheblich und kapitulationsaffin.
Dass es so etwas wie die tödliche Bedrohung unserer Freiheit gibt, ja, dass der Kampf um Freiheit, ob im Iran, in Russland, der Ukraine oder hierzulande, sogar das eigene Leben kosten kann, ist aus dem Bewusstsein jener verbannt, deren natürlicher Lebensraum das Talkshow-Studio ist. Was würde TV-Philosoph Precht wohl den todesmutigen iranischen Frauen raten, die ihre Kopftücher verbrennen und drauf und dran sind, das islamistische Terrorregime zu stürzen? Gespräche mit dem obersten Menschenschlächter Ajatollah Chameini am Runden Tisch? Geschlechtersensible Verhandlungen über die Länge des Tschadors?
Ein Totschlagsargument aus intellektueller Verlegenheit
Die immer wieder herbeigerufene Angst vor dem Einsatz von Atomwaffen, deren erste Opfer allerdings Ukrainer wären, wirkt wie ein ultimatives Passepartout, ein handliches Totschlagsargument aus intellektueller Verlegenheit. In Wahrheit meldet sich hier die urdeutsche Angst vor dem Weltuntergang zu Wort, der noch etwas früher einträte als das Armageddon der Klimakatastrophe. Die „letzte Generation“ müsste sich in diesem Fall beeilen, ihre festgeklebten Hände vom Asphalt auf der Avus zu befreien und den nächsten Schutzbunker aufzusuchen, der noch nicht im Namen der Friedensliebe gesprengt worden ist.
Friedrich Sieburg spottete über diese deutsche „Lust am Untergang“ einst mit der lakonischen Formulierung „Gedränge unterm Fallbeil“: Er schrieb: „Es ist unglaublich, was man mit einem gut gepflegten Katastrophengefühl alles anfangen kann.“
Dass ein eskalierender Atomkrieg ein unbeschreibliches Unheil für die ganze Welt wäre, liegt auf der Hand. Doch es ist eine deutsche Spezialität, sich stets als dessen erstes Opfer zu imaginieren und ihn als abstrakte Drohkulisse aufzubauen, gegenüber der das alltägliche Kriegselend samt Gräueltaten wie eine vernachlässigbare Banalität wirkt.
Der Talkshow-Experte Harald Welzer, der inzwischen die legitime Erbschaft altgermanischer Rechthaberei angetreten hat, verwies neulich sündenstolz auf das deutsche Fachwissen, wenn es um Blitz- und Vernichtungskrieg geht. Klare Sache: Da macht uns keiner was vor, auch kein ukrainischer Botschafter mit chronischem Bluthochdruck. Bei Anne Will dozierte Welzer im Mai dieses Jahres: „Wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung, die sich durch die Generationen durchgezogen hat.“
Das Privileg der Untergangspropheten
So bleibt es dabei: Von der Anti-Atomtod-Bewegung der fünfziger Jahre über die Proteste gegen die „Nachrüstung“ in den achtziger Jahren bis zur endemischen Atomkraft-Phobie der Grünen, die auch in einer akuten Notsituation nicht von ihrem Glaubensbekenntnis ablassen wollen – stets beanspruchen die Deutschen das Privileg der Untergangspropheten, das Ende der Welt unmittelbar vor Augen zu haben. Andere Völker haben offenbar nicht so feine Antennen.
Unvergessen ist mir die Begegnung mit einem Reporter der linken französischen Zeitung „Libération“ im „Friedenscamp Mutlangen“ 1983, in dessen Nähe ein Depot mit amerikanischen Pershing II-Raketen entstehen sollte – die Antwort der NATO auf die sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen. Kopfschüttelnd verfolgte er die teils gymnastischen Übungen der Friedenskämpfer in der schwäbischen Spätsommersonne, mit der sie ihre Angst vor dem drohenden Atomkrieg bändigen und zugleich ihre „gewaltfreien Aktionen“ vorbereiten wollten.
Der Franzose verstand das alles nicht, lief es doch auf die Forderung nach einseitiger Abrüstung des Westens hinaus. Die Logik dahinter war nicht nur pazifistisch, sondern eben auch naiv: Wenn wir den Kopf senken, wird die andere Seite schon nicht zuschlagen. In Umkehrung der berühmten Protest-Parole „Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt“ lautete die Friedensbotschaft aus dem Geiste des Pietismus: Wer sich wehrt, lebt verkehrt!
Angst essen Seele auf
Warum? Weil er die andere Seite provoziert, wenn er sich wehrt. Schon damals wurde jene Gleichung formuliert, die heute Dampfplauderer wie Precht und Welzer aufwärmen: Mehr Waffen führen nur zu mehr Krieg. Also führen weniger Waffen zu weniger Krieg. Und gar keine Waffen? Nicht nur Franzosen erinnern sich dunkel daran, dass sie 1940 der deutschen Wehrmacht schon nach wenigen Wochen unterlagen, weil sie auf den bevorstehenden Krieg nicht vorbereitet waren und nicht glauben wollten, dass Hitler ihr Land ebenso grund- wie skrupellos angreifen würde - wie 82 Jahre später Putin die Ukraine.
„Angst essen Seele auf“ war der programmatische Titel eines frühen Films von Rainer Werner Fassbinder. Er stimmt bis heute. Angst, und sei sie nur ein verquerer oder kalkulierter Ausdruck fortgeschrittener Realitätsverweigerung, nagt aber auch schwer am Verstand – von der Vernunft zu schweigen.
Sagen wir es so:
Das ewige Mantra der Warner vor dem Atomkrieg, man müsse „mit Putin reden“ und über Verhandlungen eine für ihn „gesichtswahrende“ (!) diplomatische Lösung finden, verkörpert das, was man einen „performativen Widerspruch“ nennt: Derselbe unberechenbare, womöglich irre Mann also, dem man umstandslos zutraut, wegen des Misserfolgs seiner „Spezialoperation“ einen weltweiten Atomkrieg vom Zaun zu brechen, soll ein verlässlicher Verhandlungspartner sein, mit dem man einen dauerhaften Waffenstillstand oder gar eine Friedenslösung vereinbaren will?
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr.
Aber bei Markus Lanz ist einfach alles möglich.