Zum zweiten Mal seit Beginn des Krieges stellte sich Wladimir Putin bei seiner traditionellen Jahresabschlusskonferenz den Fragen der geneigten Presse und skizzierte seine Sicht der Dinge.
Es war eine provokante Aussage, mit der Wladimir Putin in der vergangenen Woche für Aufsehen sorgte: „Der Krieg in der Ukraine hat Russland viel stärker gemacht.“ Am 19. Dezember trat der russische Präsident zum 21. Mal in seiner Amtszeit vor ein internationales Publikum aus Journalisten. Die Inszenierung war bewusst gewählt: Im Hintergrund hing die Flagge der 155. Garde-Marineinfanterie-Brigade, der verschiedene Kriegsverbrechen angelastet werden.
Die Botschaft war unmissverständlich: Russland werde diesen Krieg gewinnen. Putin nutzte die Jahresabschlusskonferenz, um Stärke und Kontrolle zu demonstrieren – ein Signal sowohl an die eigene Bevölkerung als auch an den Westen. Der Kreml zeigt keinerlei Bereitschaft zu einer Kursänderung und setzt weiterhin auf eine kompromisslose Linie.
In einem Marathon von viereinhalb Stunden beantwortete er zahlreiche Fragen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine, den geopolitischen Entwicklungen in Syrien und der Lage im Inland. Der Ton seiner Aussagen schwankte zwischen der Rechtfertigung militärischer Entscheidungen, einer defensiven Haltung gegenüber internationaler Kritik und der Betonung vermeintlicher wirtschaftlicher Erfolge.
Fast der gesamte erste Teil der Konferenz widmete sich dem Ukraine-Krieg, der seit bald drei Jahren andauert. Putin hob hervor, dass Russland täglich Territorien zurückerobere, vermied jedoch konkrete Angaben zu militärischen Zielen. „Die Lage auf dem Schlachtfeld verändert sich drastisch, es gibt Bewegung entlang der gesamten Frontlinie [...] Unsere Kämpfer erobern täglich Territorien zurück, gemessen in Quadratkilometern“, äußerte Putin. Die ursprünglich formulierten Ziele der „Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine ließ er unerwähnt.
Keine Niederlage in Syrien?
Auf die Frage eines Journalisten nach möglichen Kompromissen zeigte sich Putin ambivalent. Einerseits betonte er, Russland sei „ohne Vorbedingungen“ zu Gesprächen bereit. Andererseits formulierte er Bedingungen, die von der Ukraine als inakzeptabel angesehen werden: den Verzicht auf einen NATO-Beitritt, den Rückzug ukrainischer Truppen aus den seit 2014 von Russland annektierten Gebieten sowie die Anerkennung dieser Territorien als russisch. Diese Forderungen sind strenger als die Bedingungen, die 2022 in Istanbul diskutiert wurden.
Putin lehnte zudem ein von China vorgeschlagenes Waffenstillstandsabkommen entlang der aktuellen Frontlinien ab. Ein solcher Schritt würde der Ukraine taktische Vorteile verschaffen, da sie Zeit zur Reorganisation erhielte. Stattdessen forderte er einen dauerhaften Frieden mit Garantien für Russland. „Wir brauchen keinen Waffenstillstand – wir brauchen Frieden: langfristig, stabil und mit Garantien für die Russische Föderation und ihre Bürger. Es ist eine schwierige Frage, wie man diese Garantien sicherstellen kann, aber grundsätzlich kann man danach suchen.“
Auch der Machtwechsel in Syrien und der Abgang von Baschar al-Assad waren ein Thema (Achgut berichtete). Spekulationen über eine geopolitische Niederlage Russlands wies Putin entschieden zurück. Das Hauptziel, die Verhinderung einer terroristischen Enklave, sei erreicht worden. Überraschend enthüllte er, dass Russland in den vergangenen Monaten 4.000 iranische Kämpfer aus Syrien nach Teheran ausgeflogen habe – eine bislang unbekannte Entwicklung.
Ob die russischen Militärstützpunkte in Tartus und Hmeimim erhalten bleiben, ließ Putin offen. Dennoch machte er eine erhellende Angabe: „Wir pflegen Beziehungen zu allen Gruppierungen, die dort die Situation kontrollieren, sowie zu allen Ländern der Region. Die überwältigende Mehrheit von ihnen teilt uns mit, dass sie daran interessiert wären, dass unsere Militärbasen in Syrien erhalten bleiben.“
Zugleich betonte Putin deren Bedeutung als strategische Infrastruktur für humanitäre und militärische Operationen. Kritik übte er an Israel, das er als Hauptprofiteur der Entwicklungen in Syrien bezeichnete, und verurteilte zugleich dessen Vorgehen im Gazastreifen.
Inflation und Migration
Ein weiteres Thema war die neue ballistische Rakete Oreschnik, die Putin als unbesiegbar präsentierte. Er schlug vor, einen „technologischen Test“ durchzuführen, bei dem die Rakete auf ein Ziel in Kiew abgefeuert würde, während NATO-Staaten ihre Abwehrsysteme testen könnten – eine provokative Aussage, die vermutlich auf internationale Kritik stoßen wird.
Zudem gab Wladimir Putin an, Oreschnik auch gegen NATO-Staaten einzusetzen, sollten weiterhin westliche Waffen in der Ukraine stationiert werden. „Wir werden entsprechend reagieren“, ließ er offen verlauten.
Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Landes (Achgut berichtete) zeigte sich Putin optimistisch und prognostizierte ein Wirtschaftswachstum von bis zu vier Prozent. Er lobte die geringe Arbeitslosigkeit von 2,3 Prozent, räumte jedoch ein, dass die Inflation von 9,2 bis 9,3 Prozent ein besorgniserregendes Signal sei. Besonders kritisch sei das Missverhältnis zwischen steigenden Löhnen und der langsamer wachsenden Produktion, das zu Preissteigerungen führe. Fachleute warnten, dass diese Dynamik im kommenden Jahr für Probleme sorgen könnte.
Auch das russische Finanzsystem stand im Fokus der Kritik. In Russland plädieren einige Experten dafür, die Inflation nicht durch eine Erhöhung der Leitzinsen zu bekämpfen, sondern alternative Maßnahmen zu ergreifen. Subventionierte Hypothekenprogramme für Familien und ländliche Regionen wurden ebenfalls diskutiert. Putin kritisierte die Begrenzungen, die Banken bei diesen Krediten setzen und betonte, dass es keine Einschränkungen geben dürfe, da der Staat die Differenz zwischen den subventionierten Zinssätzen und den Marktraten ausgleiche.
Innenpolitisch brisant war das Thema Migration. Putin hob hervor, dass Russland einen akuten Mangel an Arbeitskräften habe, insbesondere im Bau- und Industriesektor. Dennoch sollen neue Regelungen sicherstellen, dass Migrantenkinder nur dann Schulen besuchen dürfen, wenn sie ausreichende Russischkenntnisse haben. Um die Kontrolle über die Zuwanderung zu stärken, schlug Putin die Schaffung eines eigenständigen Migrationsamts vor.
Kein Wort zur Zahl der Gefallenen
Im informellen Teil der Veranstaltung gab Putin auch persönliche Einblicke. Auf die Frage, ob er die Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine bereue, antwortete er: „Wenn ich auf die Situation im Jahr 2022 zurückblicken könnte, mit dem Wissen von heute, worüber würde ich nachdenken? Darüber, dass eine solche Entscheidung, die Anfang 2022 getroffen wurde, eigentlich schon früher hätte getroffen werden müssen.“
Insgesamt präsentierte sich Wladimir Putin als starker Führer, der trotz internationaler Isolation und interner Spannungen eine souveräne und stabile Nation anstrebe. Kritiker bemängeln jedoch, dass die Veranstaltung zunehmend einer Inszenierung gleicht, bei der kritische Fragen konsequent umgangen werden. So ließ Putin die Frage nach der Zahl der gefallenen russischen Soldaten unbeantwortet.
Einen Hinweis auf die Dimension der Verluste liefern jedoch jüngste Aussagen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er bezifferte die russischen Verluste seit Beginn der groß angelegten Invasion auf 198.000 Tote und 550.000 Verletzte. Auf ukrainischer Seite seien 43.000 Soldaten gefallen, während es 370.000 Verwundete gebe, darunter auch mehrfach Verwundete und Leichtverletzte. Diese neuen Zahlen markieren einen deutlichen Anstieg der ukrainischen Verluste seit Jahresbeginn – noch im Februar hatte Selenskyj die Zahl der Toten auf 31.000 geschätzt.
Während beide Seiten regelmäßig die Verluste des Gegners öffentlich machen, bleiben sie bei den eigenen Zahlen zurückhaltend (Achgut berichtete). Hintergrund der aktuellen Offenlegung durch Selenskyj könnte eine provokante Aussage des designierten US-Präsidenten Donald Trump sein. Dieser hatte behauptet, die Ukraine habe bereits 400.000 Soldaten verloren, während Russland 600.000 Tote und Verwundete zu beklagen habe. Trump nannte keine Quellen, kritisierte jedoch, dass „viel zu viele Leben sinnlos verschwendet worden seien“.
Selenskyjs Angaben zu russischen Verlusten decken sich weitgehend mit westlichen Schätzungen. Laut britischen Geheimdiensten belaufen sich die russischen Verluste – Tote und Verletzte – auf etwa 800.000. Allein im November habe Russland 45.680 Verluste erlitten, der höchste Monatswert seit Beginn der Invasion im Februar 2022. Am 28. November seien erstmals über 2.000 russische Soldaten an einem einzigen Tag gefallen. Moskau bestreitet diese Zahlen und behauptet, die ukrainischen Verluste seien „um ein Vielfaches höher“.
Kein Signal zum Einlenken
Internationale Beobachter sind sich jedoch einig, dass die russischen Verluste aufgrund der als „Fleischwolf“ bezeichneten Taktik Moskaus besonders schwer wiegen. Gleichzeitig dauern die Kämpfe an der Ostfront unvermindert an. Russische Truppen haben seit Jahresbeginn rund 2.350 Quadratkilometer Gelände in der Ostukraine sowie in der westlichen russischen Region Kursk erobert. Die Ukraine wiederum hält weiterhin kleinere Gebiete in Russland, die sie während einer Überraschungsoffensive im August eingenommen hatte.
In einem Beitrag sprach Selenskyj auch über die Perspektiven eines möglichen Friedensabkommens. Er betonte, dass ein solcher Vertrag nur mit effektiven internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine möglich sei. Gegenüber Emmanuel Macron und Donald Trump hatte er erklärt, Kiew brauche eine „dauerhafte Friedenslösung“, die Moskau nicht „in wenigen Jahren wieder zerstören“ könne.
Westliche Hoffnungen, Putin könnte durch die hohen Verlustzahlen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Einlenken bewegt werden, wies der russische Präsident entschieden zurück. „Ja, ich glaube, dass ich Russland nicht nur bewahrt habe, sondern dass wir vom Rand des Abgrunds zurückgetreten sind. Alles, was vorher und danach mit Russland geschah, führte uns zu einem nahezu vollständigen Verlust unserer Souveränität. Aber ohne Souveränität kann Russland als unabhängiger Staat nicht existieren.“
Putin bekräftigte seine Haltung, dass die militärische Offensive unerlässlich sei, um Russlands langfristige Sicherheit zu gewährleisten – unabhängig von den erheblichen humanitären und wirtschaftlichen Belastungen des Konflikts. Es scheint wahrscheinlich, dass Moskau bis zum 20. Januar 2025 alles daransetzen wird, möglichst viele Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen, um in eine stärkere Verhandlungsposition einzutreten.
In Bezug auf einen möglichen Beginn von Gesprächen mit Washington erklärte Putin: „Ich weiß nicht, wann wir uns treffen werden, da er dazu nichts sagt. Ich habe seit über vier Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich bin jederzeit bereit und würde einem Treffen zustimmen, wenn er es wünscht.“
Schließlich wurde der russische Präsident auch persönlich. Auf die Frage eines Journalisten, was sich für ihn in den vergangenen drei Jahren verändert habe, antwortete Putin: „Ich sage Ihnen ehrlich: Wir machen hier Scherze und es ertönt Gelächter im Saal, aber ich selbst scherze weniger und habe fast aufgehört zu lachen.“ Ob dies ein Ausdruck von Nachdenklichkeit oder etwas anderes ist, wird die Zukunft zeigen
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.