Stefan Frank / 09.05.2023 / 12:00 / Foto: Pixabay / 49 / Seite ausdrucken

Prozessbericht: Der Oldenburger Messerstecher

Im Januar 2023 wurde in Steinfeld in einem russischen Lebensmittelmarkt ein Mann mit einem Filetiermesser niedergestochen. Am 25. April hat das Landgericht Oldenburg das Urteil gegen Gennadi F. verkündet. Stefan Frank hat den Prozess verfolgt und berichtet ausführlich. 

In Deutschland gibt es nicht nur eine Epidemie von Messerangriffen, sondern eine sie begleitende Epidemie milder Gerichtsurteile gegen die Täter. Diese werden oft bloß ermahnt. Selbst wegen versuchten Totschlags verhängen Richter häufig Bewährungsstrafen. Wie im Januar in Düsseldorf, wo das Opfer nach einem Stich in den Bauch fünf Liter Blut verloren hatte und bis heute traumatisiert ist. Der WDR berichtete:

„Neun Monate nach einer Messer-Attacke in der Düsseldorfer Straßenbahn U79 hat das Landgericht die beiden Täter am Mittwoch zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Das Opfer hatte nach Messerstichen jede Menge Blut verloren. Die 17 und 18 Jahre alten Männer waren im April 2022 mit dem späteren Opfer in der U-Bahn 79 Richtung Hauptbahnhof aneinandergeraten. Dabei soll der Ältere das Opfer festgehalten und der Jüngere mit einem Klappmesser auf ihn eingestochen haben. Dabei wurde die Bauchschlagader getroffen. Die Staatsanwältin hatte Haftstrafen gefordert. Die Angeklagten reagierten erleichtert, als die Richter den beiden Jugendlichen anrechneten, dass sie ihre Tat gestanden und bereut hatten sowie sich beim Opfer entschuldigt hatten. Daher verhängten sie eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung.“

Die Messerstecher seien „auf einem guten Weg“, befand Richterin Karin Michalek. „Da hat es keinen Sinn, sie ins Gefängnis zu stecken.“

Fast alltäglich sind Schlagzeilen wie: „Exfreundin (23) fast getötet, trotzdem mildes Urteil“:

„Elfmal stach ihr Ex-Freund Karim F. (24) auf sie ein, fügte ihr so schwere Verletzungen zu, dass nur eine Not-OP ihr Leben rettete. Seitdem ist der Körper der 23-jährigen Anna (Namen geändert) entstellt – für immer.“

Das Landgericht Bonn sah in diesem Fall keinen versuchten Totschlag, da Karim F. nach den elf Messerstichen aufgehört habe, auf die Frau einzustechen. „Er entschied sich, nicht weiter zuzustechen“, so die Kammervorsitzende Anke Klatte in der Urteilsbegründung. Trotz Tötungsvorsatz war die Kammer daher der Meinung, dass Karim F. „freiwillig von dem Entschluss zurückgetreten“ sei.

Auch Ibrahim A., der mutmaßliche Messermörder von Brokstedt, war in der Vergangenheit wegen eines Messerangriffs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Woraus er ja dann auch für sich die entsprechende Lehre zog.

Siebeneinhalb Jahre Haft für Angriff mit Filetiermesser

Ein weniger günstiges Urteil erhielt ein Messerstecher letzte Woche – am 25. April – vor dem Landgericht Oldenburg. Der 41-jährige Gennadi F., der im Januar 2023 in einem russischen Lebensmittelmarkt in Steinfeld (Landkreis Vechta) bei Oldenburg einen Kunden durch einen Stich mit einem Filetiermesser bzw. Ausbeinmesser lebensbedrohlich verletzt hatte, wurde wegen versuchten Totschlags zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. 

Trotz einer anfänglich klaren Sachlage hatte der Täter bis zuletzt versucht, die Tat als Notwehr darzustellen. Dabei gelang es ihm offenbar, die einzige Augenzeugin dazu zu bringen, ihre Aussage entscheidend abzuändern, um seine Version des Tathergangs wahrheitswidrig zu stützen. Zudem plädierte seine Pflichtverteidigerin auf verminderte Schuldfähigkeit, da der Täter zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille hatte und außerdem Cannabis konsumiert hatte. Nebenbei warf der Prozess ein Licht auf die erschreckende Inkompetenz des Mitarbeiters der Polizeileitstelle, der den 110-Anruf der Ehefrau des lebensgefährlich verletzten Opfers nicht mit dem notwendigen Ernst behandelte und die Verständigung des Notarztes unnötig lang hinauszögerte.

Am 23. Januar 2023 hatte der NDR berichtet:

„In Steinfeld im Landkreis Vechta ist ein Mann in einem Lebensmittelgeschäft durch einen Messerstich lebensgefährlich verletzt worden. Laut Polizei kam es am Samstag zwischen einem 41 Jahre alten Mann und dem 39 Jahre alten Opfer zunächst zu einer Auseinandersetzung. Der 41-Jährige griff daraufhin zu einem Messer, das hinter einer Kühltheke lag. Die Geschäftsinhaberin habe sich zwar schützend zwischen beide Männer gestellt, der 41-Jährige soll aber an der Frau vorbei auf den 39-Jährigen eingestochen haben. Das Opfer kam mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus. Der mutmaßliche Täter wurde nach kurzer Flucht von der Polizei gefasst und festgenommen.“

Diese Darstellung des Tathergangs wurde im Prozess bestätigt. Bei dem Täter F., handelt es sich um einen vielfach vorbestraften Alkohol- und Cannabissüchtigen, der in Steinfeld „bekannt ist wie ein bunter Hund“, wie Oberstaatsanwalt Thomas Sander es in seinem Plädoyer ausdrückte. Als Kind war F., wie er selbst zu Protokoll gab, mit seiner Familie als Spätaussiedler von Kasachstan nach Steinfeld gekommen. Er spricht fehlerfreies Deutsch mit russischem Akzent. Eine Ausbildung hat er nicht abgeschlossen, versuchte zweimal vergeblich, sich selbstständig zu machen, einmal als Stukkateur, einmal als Umzugsunternehmer. Mehrere Entzugstherapien scheiterten.

Für das Verlesen der Vorstrafen benötigt der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann trotz höchsten Lesetempos etliche Minuten. Anfangs erhielt F. Jugend- und Bewährungsstrafen, später Haftstrafen. Die häufigste von F. verübte Straftat ist Fahren ohne Fahrerlaubnis, oft betrunken, oft in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung, einmal in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr. Hinzu kommen jeweils eine Verurteilung wegen Diebstahls und wegen gemeinschaftlichen Betrugs sowie vier Fälle von Körperverletzung.

Der Tathergang: „Doch, wir kennen uns“

Steinfeld, Samstag, 21. Januar 2023. Gennadi F. war bereits am Mittag Anlass eines Polizeieinsatzes. Der Besitzer des gegenüber dem russischen Lebensmittelgeschäfts liegenden Kebab-Imbisses hatte die Polizei gerufen, weil F. Streit mit einem Gast angefangen hatte. Schon da war F. alkoholisiert. Ein Polizeibeamter hatte F. geraten: „Gehen Sie nach Hause.“

Am Nachmittag betrat F. den russischen Lebensmittelmarkt, wo sich nur wenige Kunden aufhielten. Einer von ihnen war das spätere Opfer, Herr H. 

H. wartete an der Fleischtheke, wo die Inhaberin, Frau S., bediente. F. wollte mit Frau S. sprechen, mit der er in der Vergangenheit eine Beziehung geführt hatte. (Letzteres verschwieg Frau S. der Polizei, sie gab es erst auf Nachfrage vor Gericht zu.) F. ging schnell auf den wartenden H. zu und fragte: „Kennen wir uns?“ Obwohl H. dies verneinte, beharrte F. darauf, dass die beiden einander kennten. Immer wieder sagte F.: „Doch, wir kennen uns.“

Es kam zum Streit, weil H. genervt war und F. nicht von ihm abließ. Frau S. stellte sich zwischen die Männer und forderte sie auf, sie sollten ihren Konflikt „vor der Tür klären“. H. war dazu bereit. F. sah in diesem Moment wohl, dass eine etwaige Schlägerei mit dem ihm körperlich überlegenen H. (der zudem nüchtern war) schlecht für ihn ausgehen würde, schnappte sich ein hinter der Theke liegendes Filetiermesser und stach in einer schwingenden Bewegung, die um Frau S. herumführte, von unten nach oben in die linke Achselhöhle von H. 

Daraufhin ergriff H. ebenfalls ein Messer. F. bewegte sich rückwärts aus dem Geschäft und rannte davon. H. warf das Messer weg und wollte F. unbewaffnet verfolgen, brach aber vor dem Eingang des Geschäfts zusammen. Bevor er bewusstlos wurde, rief er noch seine Ehefrau an und sagte ihr, ein Mann habe ihn im russischen Lebensmittelgeschäft mit einem Messer angegriffen und verletzt. Die Frau wählte den Polizeinotruf 110.

F. vergrub unterdessen das Messer auf einem Spielplatz im Sand, wo es von einem Spaziergänger gefunden wurde. Kurz nach der Tat wurde F. von der Polizei gefunden und verhaftet.

Gennadi F. schildert den Tathergang so, dass H. ihn mit einem Messer bedroht habe, das er in der linken Hand gehalten haben soll. F. will mit der linken Hand das linke Handgelenk von H. gepackt und ihm das Messer mit der rechten Hand entwunden haben. F. demonstriert dies vor Gericht, seine Verteidigerin übernimmt dabei den Part von H. 

Beim Entwinden des Messers will F. Herrn H. im „Streifen“ die Verletzung beigebracht haben. Er bedaure das sehr, entschuldige sich und sei froh, dass es H. wieder gut gehe.

Die Darstellung des Nebenklägers H. entspricht der oben wiedergegebenen Anklageschrift, und auch Frau S. hatte die Tat bei ihrer Aussage bei der Polizei so beschrieben. Vor Gericht schwenkt sie um und stützt nun die Darstellung des Angeklagten. Gefragt, warum sie vor Gericht eine ganz andere Aussage macht als gegenüber der Polizei, gibt Frau S. an, dass sie ursprünglich Rache an F. habe nehmen wollen, weil der die Beziehung mit ihr beendet habe. Darum habe sie zunächst etwas gesagt, das F. belastete. Ihre neue Aussage sei die korrekte. Was das Beenden der Beziehung betrifft, widerspricht sie sich; ein anderes Mal sagt sie, sie sei einvernehmlich beendet worden, weil sie so viel Zeit im Geschäft verbringen müsse.

Leitstelle nahm Notruf nicht ernst

Bevor die Aufzeichnung des 110-Notrufs der Frau des Opfers über Lautsprecher abgespielt wird, warnt der Richter alle Versammelten, dass sie auf etwas Merkwürdiges gefasst sein müssten.

Man hört die Ehefrau des Opfers am Telefon. Es meldet sich ein Beamter. Sie sagt, dass ihr Mann sie gerade vom russischen Lebensmittelmarkt in Steinfeld angerufen habe, er sei mit einem Messer angegriffen worden, es gehe ihm „sehr schlecht". Man hört ein langandauerndes Tippen auf einer Computertastatur. Die Frau will wissen, ob sie selbst den Notarzt rufen solle oder ob der Mitarbeiter der Leitstelle dies erledige. Keine Antwort. Nur Tippen auf der Tastatur. Der Beamte scheint alle Zeit der Welt zu haben. Er fragt gemächlich nach Namen, Vornamen und einer Telefonnummer. Macht der Anruferin subtile Vorwürfe, weil sie nicht selbst am Tatort ist („Um drei Ecken ist immer schlecht“). Zweifelt an, ob überhaupt ein Notfall vorliegt; es sei ja verwunderlich, dass es aus „dieser Ecke“ keine weiteren Anrufe gebe. „Mein Mann kann vielleicht nicht telefonieren“, sagt die Frau mit angsterfüllter Stimme. Der Beamte gelangweilt: „Hier haben wir noch was in Steinfeld… hmm… Das ist aber ein Unfall.“ Pause. Dann: „Ah, hier, das dürfte das Gleiche sein. Da ist jemand mit einem Messer angegriffen worden.“ Der Beamte verabschiedet sich mit einem „Tschüssi!“ (sic!) und verbindet die Frau des Opfers mit dem Notruf 112, wo sie von einem Tonband begrüßt wird: „Herzlich willkommen bei der Leitstelle der Einsatzkräfte Vechta.“ An dieser Stelle wird die Wiedergabe des Tonbandes gestoppt. Staatsanwalt Sander schlägt buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen, Richter Bührmann sagt: „Ein Beispiel, wie eine Leitstelle es nicht machen sollte.“

Polizist: F. wünschte sich den Tod von H.

Ein junger Polizeibeamter, 26 Jahre alt, wird als Zeuge befragt. Er hatte in den Akten vermerkt, dass F. auf der Wache gesagt habe: „Es gibt nur einen einzigen Zeugen.“ Daran habe F. offenbar die Hoffnung auf einen für ihn günstigen Ausgang des Verfahrens geknüpft. Zudem habe F. sich das „Ableben“ von H. gewünscht. Diese Äußerung sei gefallen, als F. von ihm und weiteren Beamten zur Toilette begleitet worden sei, sagt der Polizist. Der Richter will wissen, was F. wörtlich gesagt hat. „Er wird ja nicht ‚Ableben‘ gesagt haben.“ Der Polizist kann sich an den Wortlaut nicht erinnern. Fünf Beamte aber hätten F. zur Toilette begleitet, drei hätten die Aussage gehört. Nach der Aussage des Beamten wird der Angeklagte zum einzigen Mal während dieses Prozesses merklich ungehalten. „Machen Sie das öfter, dass Sie solche Vermerke schreiben?“, fragt er den Polizisten. Sei es nicht so, dass der Polizist ihn von verschiedenen Verkehrskontrollen her kenne und ihn nicht leiden könne? Die beiden hätten ja „kein gutes Verhältnis“. Er spielte dabei darauf an, dass der Beamte F. in der Vergangenheit bei dessen Trunkenheitsfahrten gestoppt hatte und dann von F. beleidigt worden war. Der Polizist antwortet, dass er bei einem Fall von versuchtem Totschlag wichtige Beobachtungen notiere. Und er handle dabei „objektiv, nicht subjektiv“.

Die Ermittlungsleiterin wird befragt. Der Richter lobt sie für die von ihr erstellten umfangreichen Aussagenprotokolle, man merke, dass sie viel Mühe darein gesteckt habe. Was, will der Richter wissen, hat die Zeugin Frau S. über eine etwaige Waffe gesagt, die der Nebenkläger gehabt habe? Sie habe ausgesagt, dass H. „nach irgendwas“ gegriffen habe, nachdem er mit dem Messer angegriffen worden war. Aber zu keinem Zeitpunkt habe sie gesagt, dass F. dem H. das Messer entwendet habe. Das Messer, zu dem H. dann griff, sei ein anderes gewesen.

„So kann man mit einem Alkoholisierten nicht umgehen“

Von der Verteidigung als Zeugin geladen wird Alina F., die Schwester des Angeklagten. Sie ist von Beruf Rechtsanwaltsfachangestellte und hat im Namen der Familie F. eine schriftliche Erklärung verfasst, die von zahlreichen Verwandten unterschrieben wurde. Darin heißt es, die Familie halte zu Gennadi F. und habe große Hoffnungen gehabt, als dieser im Dezember eine Zeitlang keinen Alkohol getrunken habe. Er brauche Therapie, keine Bestrafung. 

Der Polizei macht Alina F. vor Gericht Vorwürfe, dass sie bei der Verhaftung ihres Bruders zu rüde gewesen sei. So könne man „mit einem Alkoholisierten“ nicht umgehen, das sei „nicht menschlich“. Der Richter widerspricht: „Die Polizeibeamten schlagen den Ton an, der ihnen selbst entgegenschlägt. Da muss man schon Ross und Reiter in der richtigen Reihenfolge nennen.“

Dann sagt Alina F.: Die Situation hätte für ihren Bruder ja „auch ganz anders ausgehen können“, dieser hätte doch in einem Kampf mit H. „keine Chance“ gehabt. Richter Bührmann erwidert: Er finde es gut, wenn eine Familie „ohne wenn und aber zusammensteht“ und sich hinter den Angeklagten stellt. Doch mit ihrer Sichtweise tue Alina F. sich und der Familie „keinen Gefallen“. Herr H., so der Richter, wäre „um ein Haar gestorben“; es sei allein der „ärztlichen Kunst zu verdanken“, dass er noch am Leben sei. Alina F.s Bruder hingegen sei überhaupt nicht verletzt worden.

Das ärztliche Protokoll, das über F. nach seiner Verhaftung erstellt wurde, wird verlesen. Der Arzt beschreibt F. als „äußerst aggressiv“, in seiner Blutprobe finden sich neben Alkohol Cannabinoide und Methadon. 

Die Vorstrafen aus dem Bundeszentralregister werden verlesen, wie oben erwähnt. Eine Kuriosität: Bei einem noch nicht lange zurückliegenden Fall hatte F. zwei Türsteher einer Diskothek mit einer Druckluftwaffe bedroht. Die Türsteher entwaffneten ihn und verdroschen ihn anschließend. 

Aussage der Rechtsmedizinerin

Dann sagt die Rechtsmedizinerin, Frau Dr. Preuss, aus. Bei der Tatwaffe, mit der H. verletzt wurde, handle es sich um ein Ausbeinmesser mit 17 cm Länge und 2 cm Breite. Der Stich in den Brustkorb in Höhe der siebten Rippe habe die Lunge verletzt und dazu geführt, dass diese kollabierte. Auch das Rippenfell war „durchsetzt“.

Es entstand ein lebensgefährlicher Spannungspneumothorax: Luft gelangte in den Pleuraspalt, ohne wieder entweichen zu können. Herz und Mittelfell wurden dadurch zur rechten Körperseite gedrückt. Im OP zeigte das Opfer bereits Anzeichen von Sauerstoffmangel. Der Chirurg maß mit dem Finger eine Einstichtiefe von mindestens sieben Zentimetern. Bei der Notfalloperation wurde eine Thoraxdrainage durchgeführt.

Weil der Notarzt schnell eintraf und das Opfer schnell habe operiert werden können, habe keine akute Lebensgefahr bestanden, sagt Frau Dr. Preuss, das hätte sich aber schnell ändern können: „Mit jedem Atemzug hätte sich die Lage verschlimmern können“, so die Rechtsmedizinerin. Allgemein könne ein Messerstich auf den Oberkörper leicht lebensgefährliche Verletzungen nach sich ziehen, da große Gefäße oder lebenswichtige Organe verletzt werden können, neben Herz und Lunge etwa auch die Milz. Es könne zu einem tödlichen Blutverlust kommen. Bei einem Messerstich in den Oberkörper sei es zufällig, ob er tödlich ende oder nicht. Der Geschädigte hätte versterben können. 

Frau Dr. Preuss wird dazu befragt, ob es möglich sei, dass sich die Verletzung so zugetragen habe, wie der Angeklagte es behauptet – beim Entwinden des Messers. Sie hält das für möglich, da sich die Verletzungen dann ähnlich darstellen würden. Aus der Biomechanik gebe es eine ältere Studie darüber, welche Kräfte notwendig seien, um einen Menschen mit einem Messer zu durchbohren. Allein für das Durchdringen der menschlichen Haut sei eine Kraft von 5,8 Kilogramm nötig. Trage das Opfer Kleidung, seien es zehn bis zwanzig Kilogramm. Der Anwalt des Nebenklägers möchte wissen, welche Textilien bei der Studie zugrundegelegt wurden. Der dickste Stoff sei Mantelstoff gewesen, antwortet die Rechtsmedizinerin. Bei einer Lederjacke, wie der Geschädigte sie getragen habe, sei sicherlich ein deutlich höherer Kraftaufwand vonnöten. 

Psychologisches Gutachten

Frau Dr. Perschke ist Psychiaterin und Rechtsmedizinerin. Sie hat mit dem Angeklagten gesprochen und ein Gutachten über ihn erstellt. Das Gespräch habe sich „unkompliziert“ gestaltet. Er sei „friedlich und höflich“ gewesen, habe keine Konzentrationsschwierigkeiten gehabt und auch sonst keine Auffälligkeiten gezeigt; kein wahnhaftes Erleben und keine Erinnerungslücken.

Frau Dr. Perschke beginnt mit einer ausführlichen Schilderung des Lebenslaufs des Angeklagten. Er hat vier Kinder aus verschiedenen Beziehungen. Erwähnenswert: Bevor er 2011 eine Haftstrafe antreten sollte, setzte er sich nach Russland ab, nach Sankt Petersburg. 2013 wurde er bei seiner Wiedereinreise an der deutsch-polnischen Grenze verhaftet. 

Alkohol und Cannabis spielen eine große Rolle im Leben des Angeklagten. Daneben hat er Erfahrung mit Opioiden, Kokain und Ecstasy. Die Drogen würden ihn beruhigen und ihm helfen, seine Probleme zu vergessen, habe er gesagt. Er rauche täglich etwa 3,5 Gramm Cannabis und verspüre bei Entzug ein drängendes Verlangen. 

Entzugstherapien – auch Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach Paragraph 64 StGB – sind in der Vergangenheit gescheitert. Eine Therapie im Maßregelvollzugszentrum Brauel, die F. 2015 angefangen hatte, wurde wegen fehlender Erfolgsaussichten abgebrochen. Das habe „nicht an mangelnder Intelligenz“ des Angeklagten gelegen, sagt Frau Dr. Perschke, sondern an fehlender Disziplin. Er lehne das Erlernen von Strategien gegen Rückfall in die Sucht ab („Ich halte nichts von Notfallkoffern“, habe er zu ihr gesagt; er habe stattdessen ein Netz von „Freunden“). Frau Dr. Perschke sagt, dass F. bei Gesprächen mit Therapeuten das gesagt habe, von dem er sich Aussicht auf eine schnelle Entlassung versprochen habe. Über eine Selbsthilfegruppe, an der er einmal hatte teilnehmen müssen, sagte er ihr selbst, diese habe, statt ihrem eigentlichen Zweck nachzugehen, Freizeitaktivitäten unternommen. 

Zum Tatzeitpunkt habe F. eine hohe THC-Konzentration im Blut gehabt, was auf einen kurz zuvor erfolgten Konsum von Cannabis hindeute. Die Blutalkoholkonzentration betrug zum Zeitpunkt der Blutentnahme 2,1 Promille, woraus man 2,3 Promille beim Tatzeitpunkt errechnen könne. Mit einem Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille gelange man auf einen Wert von 2,5 Promille. Bei diesem Wert hätten Menschen, die Alkohol nicht gewöhnt seien, Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Sie könnten sogar sterben. F. sei dies aber gewöhnt.

F. sei sicherlich in seinen grobmotorischen Fähigkeiten eingeschränkt und enthemmt gewesen, habe aber gewusst, was er tue. Im Rückwärtsgang den Laden zu verlassen, wie er es getan habe, zeige das Vorhandensein eines gewissen Steuerungsvermögens. 

Die psychologische Gutachterin rät nicht zu einem weiteren Maßregelvollzug nach Paragraph 64, denn dessen Erfolgschancen seien „mehr als zweifelhaft“. Ein Psychopath sei F. „knapp nicht“, Alkohol und Drogen stellten bei ihm ein „hohes Risiko“ dar. Sie halte F. für voll einsichts- und schuldfähig; zu einer regelgeleiteten Verhaltenskontrolle sei er trotz seiner Alkoholisierung in der Lage gewesen.

Der dritte und letzte Verhandlungstag beginnt mit einem Antrag der Verteidigerin. Sie möchte ein zweites psychologisches Gutachten. Durch den Blutalkoholgehalt von 2,5 Promille sei ihr Mandant sehr wohl eingeschränkt einsichts- und schuldfähig gewesen. Die Kammer zieht sich zur Beratung zurück. Danach verliest der Vorsitzende Richter die Ablehnung des Antrags. Frau Dr. Perschke sei eine erfahrene Gutachterin. Ihr Gutachten sei sehr ausführlich, gut begründet und fuße auf zutreffenden Anknüpfungspunkten. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass ein zweiter Gutachter über Instrumente verfüge, die denen von Frau Dr. Perschke überlegen seien. Zudem sei zu betonen, dass die Frage der Schuldfähigkeit von der Kammer entschieden werde, nicht von einem Gutachter.

Anklage: „Tod des Opfers billigend in Kauf genommen“

Oberstaatsanwalt Sander sieht die Anklage wegen versuchten Totschlags bestätigt. In seinem Plädoyer schildert er noch einmal ausführlich den Tathergang. Die Zeugenaussage von H. und die bei der Polizei gemachte Aussage von Frau S. seien deckungsgleich. Die später abgeänderte Aussage von Frau S. sei „gelogen“. Er deutet an, dass Frau S. deshalb mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen habe.

F. habe den Tod des Opfers „billigend in Kauf genommen“, so der Staatsanwalt. Dass H. überlebt habe, „ist nicht Ihr Verdienst“, sagt er an die Adresse des Angeklagten. Es gebe „nicht viel“, das man F. strafmindernd anrechnen könne. Er habe eine „erstaunliche Liste von Verurteilungen“, wie sie „nur wenige in Ihrem Alter haben“. Er sei „unbelehrbar“. Immer wieder werde er auch gewalttätig. „Jeder in Steinfeld“ kenne F. Nüchtern erscheine er „freundlich“, doch unter Alkoholeinfluss sei er „nicht zu bändigen“. Im Prozess habe er „falsche Verdächtigungen“ gestreut. Ein Angeklagter dürfe zwar lügen, er dürfe auch versuchen zu täuschen, aber er dürfe nicht andere wahrheitswidrig beschuldigen. Das habe F. getan. Der Staatsanwalt plädiert auf eine Freiheitsstrafe von acht Jahren wegen versuchten Totschlags. 

Verteidigung: „Nicht vorverurteilen“

Die Verteidigung betont, dass man ihren Mandanten nicht wegen seiner Vorstrafen „vorverurteilen“ dürfe. Die konkrete Tat müsse völlig unabhängig von der Vergangenheit ihres Mandanten bewertet werden, diese müsse man „ausblenden“. Wie der „Sachverhalt“ wirklich gewesen sei, lasse sich „nicht aufklären“. Die Aussage von Frau S. sei „unbrauchbar“. Anders als die Staatsanwaltschaft sehe sie sehr wohl vieles, was für ihren Mandanten spreche. Von Anfang an habe er ihr gegenüber „konstant“ und glaubwürdig dargestellt, dass er in Notwehr gehandelt habe, weil er von H. mit einem Messer angegriffen worden sei. Als er gehört habe, dass H. schwer verletzt worden sei, sei ihr Mandant „erschüttert“, „schockiert“ und „betroffen“ gewesen. Es tue ihm leid, er habe sich entschuldigt und sei froh gewesen, dass H. nach wenigen Tagen aus dem Krankenhaus habe entlassen werden können. Er habe überhaupt nicht die Absicht gehabt, H. zu verletzen. Es sei „kein gezielter Stich“ gewesen, es habe auch „keine akute Lebensgefahr“ bestanden. Da ein versuchter Totschlag sich nicht beweisen lasse, habe die „Unschuldsvermutung“ zu gelten. Sie plädiert auf Freispruch. 

Der Angeklagte selbst beklagt sich in seinem Schlusswort, „die Uhren“ seien nicht „auf null gestellt“ worden, wie der Richter es zu Beginn des Prozesses versprochen habe; er fühle sich wegen seiner Vorstrafen vorverurteilt. „Ich habe Angst um mein Leben gehabt“, sagt er mit Hinblick auf das Tatgeschehen. Frau S. habe gegenüber der Polizei gelogen, als sie ihn belastete. Dass H. zunächst ein Messer genommen, dieses dann aber weggeworfen habe, sei nicht plausibel. „Wer macht so was?“ Er habe H. nicht verletzen wollen und entschuldige sich für dessen Verletzung.

„Durchgehender Bewährungsversager“

Nach einer Pause verkündet der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann das Urteil. Wegen versuchten Totschlags wird der Angeklagte zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. 

In seiner Begründung sagt der Richter, dieser Urteilsspruch erfolge ohne jegliche Voreingenommenheit. Es gebe zwei Versionen des Tathergangs. Die eine, die von H., sei „lebensnah und plausibel“, die von F. sei voller Merkwürdigkeiten und werde von niemandem bestätigt. 

Die Aussage von H. sei deckungsgleich mit der, die Frau S. gegenüber der Polizei gemacht habe. Dabei hätten, betont der Richter, H. und Frau S. keine Möglichkeit gehabt, sich abzusprechen. Die Aussage von H. sei glaubwürdig. Dass er ein Messer ergriffen habe, nachdem er selbst mit einem Messer angegriffen worden war, habe H. gar nicht verschwiegen. Auch, wie er die Verletzung erlebt habe, sei glaubhaft. H. habe ausgesagt, dass er den Messerstich zunächst gar nicht bemerkt habe. Er habe nur einen „dumpfen Schlag“ verspürt. Erst als er das Blut sah, habe H. begriffen, dass er mit einem Messer angegriffen wurde. Das sei etwas, so der Richter, „was wir hier immer wieder von Opfern von Messerverletzungen hören“. Man müsse über H. sagen, dass er bislang „ohne Vorstrafen durchs Leben gekommen“ sei, anders als F.

Wer, fragt der Richter dann, „neigte mehr zur Aufgeregtheit?“ H., der nur Fleisch für den Grillabend kaufen und von F. in Ruhe gelassen werden wollte? Oder F., der erst wenige Stunden zuvor einen Streit im Kebab-Imbiss provoziert hatte, der einen Polizeieinsatz erforderte? „Schuld war nicht der Alkohol“, so der Richter. Schuld sei der Täter selbst. „Aber Alkohol und Drogen sind nicht Ihr Freund“, sagt er, an F. gewandt. Immer wieder werde F. unter Alkoholeinfluss gewalttätig. 

Die Vernehmung von Frau S. sei auf 24 Seiten protokolliert. Ausführlich, „über mehrere Seiten“ beschreibe Frau S. dort, wie sie sich zwischen die beiden Männer gestellt habe. Wörtlich habe sie gesagt: „Es fehlten nur ein paar Zentimeter, dann hätte er (der Angeklagte F.; S.F.) mich getroffen.“

Wenn aber Frau S. zwischen F. und H. stand – woran es keinen Zweifel gebe –, dann sei die Darstellung von F., wonach es einen Kampf zwischen beiden Männern gegeben habe, „unmöglich“. 

Ein Polizeibeamter habe zudem gehört, wie F. geäußert hatte, dass er sich den Tod von H. wünsche. F. habe dann den Polizisten bezichtigt, gegen ihn eingenommen zu sein. Das sei typisch: „Immer ist jemand gegen Sie.“ Es sei nur dem sofortigen Rettungseinsatz und der Kunst der Ärzte zu verdanken, dass es „kein vollendetes Tötungsdelikt“ zu verhandeln gebe. F. habe sich „entschuldigt“. Doch müsse die Frage nach dem „Wert“ der Entschuldigung gestellt werden. Wenn F. tatsächlich in Notwehr gehandelt hätte, hätte er nichts falsch gemacht und keinen Grund, sich zu entschuldigen. „Folgerichtig hat die Verteidigung auf Freispruch plädiert.“ Viermal sei F. wegen Körperverletzung verurteilt worden. Er sei „ein durchgehender Bewährungsversager“. Alle seine Bewährungsstrafen hätten in Haftstrafen umgewandelt werden müssen. Bei einer Bewährungsstrafe reiche der Staat „die Hand“, sagt der Richter, gebe dem Täter eine Chance zur Besserung, ebenso wie bei Maßregelvollzug nach Paragraph 64. Beides habe bei F. nichts bewirkt. 

Das Urteil bleibe unter dem geforderten Strafmaß der Staatsanwaltschaft, weil einige Faktoren anders gewichtet würden. Strafmildernd wirke sich aus, dass sich das Geschehen innerhalb einer sehr kurzen Zeit entwickelt habe, „beinahe im Affekt“. Die Tat sei „nicht geplant“ gewesen. 

Der Richter erwähnt zum Schluss eine Verurteilung des Amtsgerichts Vechta vom 11. Oktober 2022. Er betont, dass diese noch nicht rechtskräftig sei, hält aber für bemerkenswert, was die Richterin dem Angeklagten F. damals eingeschärft habe: dass er bis zur Berufungsverhandlung Zeit habe, „sich von einer besseren Seite zu zeigen“. 

Gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg hat F. Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.

Foto: Pixabay

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Leserpost

netiquette:

Christian Freund / 09.05.2023

Es tut mir leid, aber ich konnte Ihren Text nur bis zu der Stelle “Er entschied sich nicht weiter zuzustechen, so die Kammervorsitzende ...” lesen. Das ist krank. Und das macht krank.

P. Wedder / 09.05.2023

Weitere deutschlandweite Beispiele finden sich quasi täglich auf der Internetseite „Politikversagen“. Trotzdem wollen die meisten Menschen in meinem Umfeld nicht glauben, dass solche Vorkommnisse zugenommen haben. Da hilft nicht einmal die BKA Statistik.

dina weis / 09.05.2023

Unfassabar was seit der Migrationswelle 2015 für Gewaltorgien stattfinden mit meist unfassabaren Urteilen. Dank Merkel und anderen…Wir schaffen das NICHT, DIE schaffen uns…. @Jan Blank Lassen Sie bitte den Wolf aus dem Spiel, der im Gegensatz zu dieser Horde von Messertätern und sonstigen Gewalttätigen rein gar nichts mit am Hut hat. Das Tier hat nur einen Hungerinstinkt und ist nicht im Mindesten so böse wie mancher Mensch; die Schlagzeilen sind voll von Mord,Totschlag, Missbrauch, Folter und Vergewaltigungen . Bestimmte Gruppen sind dabei besonders aktiv.

armin_ulrich / 09.05.2023

Ich kann mir durchaus vorstellen, daß der/die/?? duchschnittliche Polizist:In, Staatsanwält:In undf Richter:In nicht an einer Verschiebung der Machtverhältnisse im Staat interessiert ist. Man/weib/div hat sich eingerichtet im Ökosystem. Das sieht zwar von :Außen aus wie ein Komposthaufen, aber :Innen ist es schön warm und man/weib/div ist nicht alleine. Vor allem trifft man/weib/div sich dr:Innen auf dem gleichen Niveau. Die Schwierigkeiten fangen dann an, wenn jemand den Kompost wendet.

Dr. Karl Wolf / 09.05.2023

Die deutsche Justiz ist eine politische Justiz. Die weiß, was sie zu liefern hat.

Gerhard Schmidt / 09.05.2023

Aha, so läuft, das, verstehe: Wenn ich wieder mal einen umlegen will, saufe ich mich vorher zu, dann gibt´s Bewährung…

armin_ulrich / 09.05.2023

“Leitstelle nahm Notruf nicht ernst” Wir werden ja auch immer verarscht in der Leitstelle. Da rufen immer Witzbold:Innen an mit Messer im Bauch, die irgendetwas von uns wollen - aber nicht mit uns.

armin_ulrich / 09.05.2023

“Die Frau will wissen, ob sie selbst den Notarzt rufen solle oder ob der Mitarbeiter der Leitstelle dies erledige. Keine Antwort. Nur Tippen auf der Tastatur. Der Beamte scheint alle Zeit der Welt zu haben. Er fragt gemächlich nach Namen, Vornamen und einer Telefonnummer. Macht der Anruferin subtile Vorwürfe, weil sie nicht selbst am Tatort ist („Um drei Ecken ist immer schlecht“) .... “ In einer Polizei, die sich dem freien Markt stellen müßte, gäbe es so etwas nicht.

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