Als wir den protestantischen Friedhof von Rom betraten, einen der schönsten in dieser schönen Stadt, wo zahlreiche berühmte Männer und Frauen liegen, war es schwer, überhaupt hineinzukommen. Vielleicht fünfzig Leute drängten sich zwischen den Gräbern und den alten Bäumen, sie schwatzten und plauderten, sie schienen sich seit Langem zu kennen – die meisten trugen eine rote Rose. Langsam, durchaus feierlich, bewegten sie sich auf ein Grab zu, doch bei aller Feierlichkeit war es offensichtlich, dass hier niemand begraben wurde, keiner weinte, niemand schütze sich mit einer dunklen Brille, kein Priester weit und breit, keine trauernde Witwe, kein verzweifelter Mann, sondern die Stimmung wirkte gehoben, fast aufgeräumt und trotzdem ernsthaft: Politik lag in der Luft. Man war gekommen, um am Grab von Antonio Gramsci dessen achtzigsten Todestages zu gedenken. Der grosse italienische Kommunist war 1937 nach schwerer Krankheit und langem Gefängnisaufenthalt als politischer Häftling von Mussolini gestorben. Er war bloss 46 Jahre alt geworden. Er hatte gelitten wie ein Hund.
Am Grab angekommen, versammelten sich die Menschen und rückten zusammen, als ob sie sich wärmen müssten, und ein grau melierter Herr, der aussah wie ein Journalist oder ein Gymnasiallehrer, etwas schmuddelig, aber gutmütig, schlecht rasiert, aber mit intelligentem Blick, hielt eine Rede, die wohl ziemlich lange dauerte und dennoch niemanden zu langweilen schien. Am Ende streckte der Mann die Faust in die Luft, und die rund fünfzig Leute taten es ihm gleich, die meisten so alt wie er – wir hatten unverhofft einer Kundgebung der letzten Kommunisten beigewohnt, so erschien es uns, und eine seltsame Melancholie ergriff mich.
Obwohl ich doch wusste, wie falsch, ja am Ende mörderisch diese Politik gewesen war, für die sich diese alten, sympathisch wirkenden Menschen ihr Leben lang eingesetzt hatten, rührte mich diese Versammlung der Unverdrossenen und Unentwegten, die trotz rund 100 Millionen Toten, die der Kommunismus weltweit zu verantworten hatte, an ihrem falschen Glauben festhielten. Ja, die vielleicht bereit gewesen wären, wie Gramsci für ihre politischen Überzeugung zu sterben. Wenn wir eines Beweises bedurft hätten, dass den Kommunismus durchaus religiöse Züge auszeichnete, dann hatten wir ihn hier zu sehen bekommen, an diesem surrealen, traurigen und posthumen Abschied von Antonio Gramsci in Rom.
Ser Prophet dieser neuen, gottlosen Religion
Gramsci gilt als einer der klügsten Theoretiker des Kommunismus, bitterarm aufgewachsen, aber hochbegabt, gehörte er zu den vielen, vielen brillanten Menschen, die sich einer politischen und wissenschaftlichen Theorie verschrieben hatten, die heute empirisch so gut wie in allen Punkten widerlegt ist und dennoch so viele kluge Köpfe noch heute fasziniert. Warum? Was am Marxismus hat die Menschen dermassen begeistert und angelockt?
Vor genau 200 Jahren, am 5. Mai 1818, ist Karl Marx, der Prophet dieser neuen, gottlosen Religion, in Trier, einer uralten Stadt in Südwestdeutschland, geboren worden. Sein Grossvater mütterlicherseits war ein Rabbiner aus Holland, seine Vorfahren väterlicherseits hatten seit fast hundert Jahren die Rabbiner von Trier gestellt: Wenn dem Kommunismus und seinem Prediger Karl gewisse religiöse Merkmale eigen waren, dann dürfte dies auch mit dieser Herkunft zu tun haben. Marx wusste, wie man einen Glauben praktizierte, und er verstand die Sehnsucht der Menschen nach Gewissheiten und unumstösslichen Antworten, wo sonst nur Chaos und Zufall zu bestimmen schienen.
Seine als wissenschaftliche Erkenntnis verbrämte Überzeugung, wonach die sozialistische Revolution unausweichlich sei, hatte weniger mit Wissenschaft oder Politik zu tun, als mit einer religiös anmutenden Heilserwartung. Ebenso kannte Marx das Böse – und er wies den Menschen einen Weg, es zu besiegen. Auch Friedrich Engels, der Freund und engste Mitarbeiter von Marx, entstammte einer hochreligiösen, calvinistischen, ja evangelikalen Familie. Marx’ Vater, ein Anwalt, liess sich und seine Kinder übrigens taufen und trat zum Protestantismus über, wozu ihn die preussischen Behörden faktisch gezwungen hatten, da er sonst als Anwalt nicht mehr hätte praktizieren können. Trier war 1815 an Preussen gekommen.
Ein zweites fällt auf. Wenn wir Marx’s Leben und Persönlichkeit betrachten, dann erinnert er in manchem an die Reformatoren. Was Marx am besten konnte, war sich glänzend auszudrücken, er redete gut, wenn auch ohne Charisma, und seine journalistischen oder politischen Texte – genauso wie die theologischen von Zwingli, Calvin oder Luther – verführten die Leser, indem Marx vom Guten und Bösen erzählte, indem er schimpfte, lachte und spottete, ja, selbst seine wissenschaftlichen Werke fesselten die Menschen auf eine geradezu perverse Art: Sie waren so schwierig zu verstehen, dass jeder, der diese Lektüre überstanden hatte, fast zwangsläufig zum Gläubigen wurde. Märtyrer des Lesens hatten die Wahrheit erblickt.
Eine weltumfassende, tödliche politische Bewegung
Dass Marx jedoch auf Jahrhunderte hinaus eine weltumfassende, tödliche politische Bewegung zu begründen vermochte, lag am Inhaltlichen. Marx war einer der Ersten, der die dunklen Seiten der industriellen Revolution beschrieb und der – das war entscheidend – versuchte sie zu verstehen. Wer zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Trier aufwuchs, sah von den Folgen dieser erstaunlichen kapitalistischen Umwälzung, die in jenen Jahren einsetzte, noch nicht allzu viel; doch wer, wie Engels und später auch Marx nach England kam, dem fiel sie umso mehr auf. In London, dem damaligen Hauptquartier des Kapitalismus, dieser neuen «Gesellschaftsform», wie Marx sie nennen sollte, lebten die reichsten Menschen der Welt, aber auch die ärmsten (konnte man meinen), sodass der Eindruck, den Marx erhielt, dass hier Verhältnisse herrschten, die nicht zu überdauern imstande wären, nachvollziehbar ist. Marx war überzeugt, dass der Kapitalismus, bei allen Vorzügen und Fortschritten, die er durchaus anerkannte, dem Untergang geweiht war.
Im Grunde erlag Marx schon damals einer optischen Täuschung. Wer die Statistiken und Löhne zurate zog, hätte leicht erkennen können, dass ausserhalb von London, ob in der Provinz oder auf dem Kontinent, in dieser angeblichen landwirtschaftlichen Idylle der Vormoderne, die viel drückendere Armut herrschte. Doch auf dem Land, wo Knechte, Taglöhner, Mägde fast regelmässig verhungerten, wirkte deren Schicksal irgendwie "natürlicher", zumal es sich um Zustände handelte, die seit Jahrhunderten die Menschen plagten. Ausserdem stachen die Unterschiede zwischen reich und arm weniger ins Auge. Ein vermögender Adliger wohnte im fernen Schloss, weit weg von seinen bedauernswerten Pächtern und Untertanen, wogegen ein Kapitalist in London zwar in einem anderen Viertel lebte als der Proletarier, aber immer noch nah genug, dass sein Reichtum viel unverschämter wirkte als jener des Adligen.
Dessen ungeachtet konnte sich Marx nicht vorstellen, dass der Kapitalismus irgendwann auch die Armen reicher machen würde, sondern er ging davon aus, dass deren Verelendung Jahr für Jahr zunehmen würde, bis die Armen rebellierten und die Revolution auslösten. Deshalb stellte er eine Theorie auf, die solches behauptete und erklärte, und weil die Menschen dazu neigen, das Schlimmste zu befürchten, aber das Beste zu erhoffen, traf Marx einen Nerv. Bald galt er als der Prophet, der alles richtig gesehen hatte und alles richtig vorauszusagen schien. Ähnlich wie die christlichen Evangelisten kündigte er ein Jüngstes Gericht an, das die Kapitalisten zur Verdammnis verurteilen sollte, und dem Proletarier das ewige Leben im Sozialismus versprach. «Wir haben sie so geliebt, die Revolution», sollte der spätere linksradikale Studentenführer Daniel Cohn-Bendit schreiben, mit einer Ergriffenheit, wie wir sie von Erleuchteten kennen.
Ohne diese pseudoreligiöse, apokalyptische, zutiefst jüdisch-christlich geprägte Heilsgeschichte, die Marx und Engels entwarfen, davon bin ich überzeugt, hätte der Marxismus nie eine solche Durchschlagskraft entwickelt – denn diese Theorie sprach vor allem jene an, die vorgaben nicht mehr an Gott zu glauben, ihn aber offenbar trotzdem vermissten: die Intellektuellen des 19. und 20. Jahrhunderts, die eben der Religion entronnen waren, gut ausgebildete Leute, die sich für streng wissenschaftlich hielten und deshalb einem angeblich wissenschaftlichen Aberglauben umso lieber verfielen.
Mit einem Selbstvertrauen sondergleichen ausgestattet
Marx war ein scharfsinniger Ökonom und ein origineller Denker. Aber er, der Nachkomme von so vielen grossen Rabbinern, war auch mit einem Selbstvertrauen und einem Sendungsbewusstsein sondergleichen ausgestattet, die ihn dazu verleiteten, die Weltformel und Universallehre zu suchen und nach getaner Arbeit fest daran zu glauben, sie gefunden zu haben. Zweifel war seine Stärke nicht. Das machte ihn zwar unwiderstehlich in den Augen vieler kluger Köpfe, gleichzeitig anfällig für Irrtümer im Weltmassstab. Bezahlt dafür haben Millionen von Toten – für eine ehrgeizige Theorie, die in der Praxis nie und nirgendwo etwas taugte.
Gramsci, der einstige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens, schmorte elf Jahre lang im Gefängnis. Man behandelte ihn schlecht, verweigerte ihm, dem seit der Kindheit Kränkelnden, die Medikamente, sodass er jeden Tag ein wenig starb. Fieberhaft schrieb er weiter an seiner Theorie des Sozialismus. 1934 begnadigte ihn der faschistische Diktator Mussolini. Es war zu spät, um je wieder gesund zu werden. 1937 verstorben, ruht er auf dem Protestantischen Friedhof in Rom. Als katholischer Atheist.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung.