Vor zwei Monaten hätte Jewgenij Prigoschin beinahe die russische Regierung zu Fall gebracht. Jetzt ist der Chef der Gruppe Wagner bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Was der Vorfall für Russland bedeutet.
„Ich habe Prigoschin seit langem gekannt, seit Anfang der 1990er Jahre. Er war ein Mensch mit schwerem Schicksal. Er hat gravierende Fehler im Leben begangen.“ Mit diesen Worten hat Wladimir Putin jüngst im Staatsfernsehen den Tod seines vormaligen Schützlings kommentiert.
Was sich hinter der kryptischen Einlassung des russischen Präsidenten verbirgt, ist offenkundig. Es geht um Prigoschins „Marsch der Gerechtigkeit“, der am 24. Juni 2023 beinahe zu einem Staatsstreich eskaliert wäre (Achgut berichtete). Obwohl die Revolte auf Vermittlung Alexander Lukaschenkos in letzter Sekunde beendet werden konnte, war der entstandene Schaden nicht mehr zu reparieren.
Nicht nur war Wladimir Putins Nimbus als unumstrittener Herrscher über Russland dahin, sondern auch sein Image als Garant politischer Stabilität und innerer Sicherheit; daher konnte kein Zweifel bestehen, dass Jewgenij Prigoschins Tage gezählt waren. Dass der Wagner-Chef nun bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist, erweist sich als weit weniger verblüffend, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.
So trägt der Vorfall klar die Handschrift des FSB. Und lässt damit das Signum Wladimir Putins erkennen. Daran ändert auch nichts, dass der russische Präsident den Angehörigen der Opfer ostentativ sein Mitgefühl aussprach und eine konsequente Aufklärung ankündigte. Wer mit den Gepflogenheiten der politischen Kultur in Russland vertraut ist, weiß, dass man dort stets zwischen den Zeilen lesen muss.
Im vorliegenden Fall ist das jedoch gar nicht nötig. Um die Urheberschaft von Prigoschins Tod zu ermessen, braucht man sich lediglich jene Aussagen ins Gedächtnis zu rufen, die Wladimir Putin in den letzten Jahren verlautbart hat. Sie alle können als Blaupause für den Umgang mit Personen herhalten, die in die Ungnade des Kremls gefallen sind.
So erklärte der russische Präsident 2018 in einem für den Dokumentarfilm „Putin“ aufgezeichneten Interview, Verrat sei ein Tatbestand, den er niemals vergeben könne. Der in Russland viel beachtete Film gilt als Standardwerk des medialen Personenkults um Wladimir Putin. Er wurde von Andrej Kondraschow aufgezeichnet, seines Zeichens Generaldirektor der staatlichen Nachrichtenagentur TASS.
Einzig Zeitpunkt und Umstände der Liquidierung standen noch nicht fest
Betrachtet man diese Aussage auf der Folie dessen, was Putin am 24. Juni 2023 in seiner Rede an die Nation über Prigoschins Revolte sagte, wird klar, dass das Schicksal des Wagner-Chefs zu diesem Zeitpunkt bereits besiegelt war. Einzig der Zeitpunkt und die Umstände seiner Liquidierung standen noch nicht fest.
Dass Prigoschin nun auf den Tag genau zwei Monate nach der Implosion seiner Revolte den Tod fand, mag skurril anmuten. Tatsächlich jedoch handelt es sich dabei bloß um einen unbedeutenden Nebenaspekt. Viel wichtiger ist, was Putin am 24. Juni über den Marsch der Gruppe Wagner auf Moskau geäußert hatte:
„Wir werden sowohl unser Volk als auch unsere Staatlichkeit vor jeder Bedrohung schützen. Auch vor internem Verrat. Und was wir erleben, ist Verrat. Übermäßiger Ehrgeiz und persönliche Interessen haben zu Verrat geführt. Verrat an unserem Land, unserem Volk und der Sache, für die die Kämpfer und Kommandeure der Gruppe Wagner Seite an Seite mit unseren anderen Einheiten und Untereinheiten gekämpft haben und gestorben sind.“
In den letzten Tagen ist darüber spekuliert worden, Prigoschins Tod könnte womöglich nur inszeniert worden sein. Wer das ernsthaft glaubt, hat weder Wladimir Putin zugehört noch die Logik der Machtstabilisierung in Russland verstanden.
Was nämlich in der Vergangenheit mit Funktionären passiert ist, die Putin öffentlich als Verräter bezeichnet hat, illustriert der Fall von Alexander Litwinenko. Nachdem ihn der FSB-Offizier in seinem Buch „Blowing up Russia“ der Sprengung mehrerer Wohnhäuser bezichtigt hatte, wurde er 2006 in London mit Polonium-210 vergiftet. Wenige Stunden vor seinem Ableben äußerte Litwinenko auf dem Sterbebett, der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht.
Ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so dramatisches Schicksal sollte zwölf Jahre später Sergej Skripal und dessen Tochter ereilen. Jener war Angehöriger des Militärnachrichtendienstes GRU gewesen und 2018 mit einem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden. Der Vorfall fand weltweite Beachtung und hatte eine tiefe diplomatische Krise zwischen Großbritannien und Russland zur Folge.
Der Geist aus der Flasche
Als russische Geheimdienstoffiziere waren sowohl Litwinenko als auch Skripal während ihrer aktiven Dienstzeit zum britischen MI6 übergelaufen und hatten dafür im Gegenzug politisches Asyl in England erhalten. Von der Perspektive des Kremls aus betrachtet, wurden sie damit in dieselbe Gruppe eingestuft wie später auch Jewgenij Prigoschin: und zwar als Verräter.
Der Unterschied zwischen Prigoschin und all den anderen Personen, die im Laufe der Jahre vom Kreml exkommuniziert worden waren, besteht darin, dass der Wagner-Chef über Jahre hinweg von Putin gefördert und als Teilnehmer des großen Spiels der russischen Politik akzeptiert worden war.
Zuspitzend könnte man sagen, wäre der Aufstieg des St. Petersburger Mafiosos ohne Wladimir Putin undenkbar gewesen. Es ist gleichsam eine Ironie des Schicksals, dass der russische Präsident mit Prigoschin am Ende ausgerechnet jenen Geist nicht mehr loswurde, den er einst selbst herbeigerufen und aus der Flasche gelassen hatte.
Was das konkret bedeutet, hat der Kreml im Juni 2023 nach Jahren des Schweigens eingeräumt. Seit ihrer Gründung im Jahr 2012 sind demnach gigantische Summen aus dem russischen Staatshaushalt an die Gruppe Wagner geflossen. Mehr als 270 Milliarden Rubel sollen es allein im ersten Kriegsjahr gewesen sein.
Sein fulminanter Erfolg als Gewaltunternehmer, dessen Söldner weltweit an verschiedenen Brennpunkten für den Kreml kämpften, waren es, die Prigoschin schließlich zu Kopf stiegen und sein Schicksal besiegelten. Über das schillernde Leben des Wagner-Chefs hat Achgut bereits ausführlich berichtet. Aus diesem Grund sei hier nur gesagt, dass sich die spektakulären Umstände seines Todes nahtlos in das Gesamtbild einfügen.
In die Hölle kommen, dort jedoch zu den Besten gehören
Prigoschin war ein Grenzgänger reinsten Wassers. Ein mustergültiger Hasardeur, der keine Skrupel und keine Furcht kannte; der trotz der Gefahr schwerwiegendster Konsequenzen nicht davor zurückschreckte, sich mit den Mächtigen im Staat anzulegen; und der in einem Interview kürzlich über sich selbst sagte, er werde zwar in die Hölle kommen, dort jedoch zu den Besten gehören.
Prigoschin hat es in seinem Leben mehrfach mit mächtigen Feinden aufgenommen und sie stets besiegt. Als Symptom dieser Angriffslust wird vor allem der Konflikt mit Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow in Erinnerung bleiben. Die Beziehung, die er zu beiden Männern pflegte, lässt sich am ehesten als flammender Hass bezeichnen – eine Feindschaft, die auf Gegenseitigkeit beruhte.
Dass Prigoschin Schoigu und Gerassimow in Kriegszeiten immer wieder öffentlich hatte attackieren und bloßstellen können, ohne dafür bestraft zu werden, zeigt, wie erhaben seine Stellung in Russland zuletzt gewesen war. Das virtuose Kunststück Prigoschins bestand darin, die höchsten Funktionäre des russischen Machtapparats vor sich her treiben zu können, ohne ihm selbst anzugehören.
Das Hochgefühl dieser Erhabenheit sowie die daraus resultierende Empfindung von Unantastbarkeit müssen berauschend auf Jewgenij Prigoschin gewirkt haben; daher ist der Schluss naheliegend, dass sie der Grund für seine verhängnisvolle Entscheidung gewesen sind, den Marsch auf Moskau zu wagen.
Der Fehler Prigoschins bestand nicht in der Einschätzung seiner Intimfeinde als rückratlose Feiglinge. Den Beweis waren Schoigu und Gerassimow zu Beginn der Revolte selbst angetreten, indem sie fluchtartig das Weite gesucht hatten.
Den Rubikon überschritten
Es war vielmehr der ebenso verlockende wie trügerische Glaube, Wladimir Putin würde die Erhebung im Sinne ihrer eigentlichen Intention verstehen: nämlich als Aktion gegen den Verteidigungsminister und dessen Generalstabschef – eine Prämisse, von der wir heute wissen, dass sie sich als fataler Fehlschluss erwiesen hat.
Dies dämmerte schließlich auch Prigoschin selbst, als ihm Alexander Lukaschenko am Abend des 24. Juni 2023 in seiner Rolle als Vermittler den Kopf wusch. „Wenn Du in Moskau einrückst, werden sie Dich zermalmen“, will der belarussische Diktator den Wagner-Chef gewarnt haben. Als dieser seinen Truppen daraufhin den Haltbefehl erteilte, war es jedoch bereits zu spät.
Richtig ist, dass Putin bereit war, seinen aus dem Ruder gelaufenen Schützling gewähren zu lassen, solange sich dessen Raserei nur gegen die Männer an der Spitze von Verteidigungsministerium und Militärführung richtete. Mehrfach hatte der russische Präsident sogar als Mediator fungiert, um den eskalierenden Konflikt beizulegen. Zu groß war die Bedeutung der Gruppe Wagner für die militärischen Erfolgsaussichten an den Brennpunkten der Front.
Indem Prigoschins Truppen jedoch in Russland einmarschierten und ihre Heerschar gegen Moskau in Bewegung setzen, hatte ihr Feldherr sprichwörtlich den Rubikon überschritten. Kein russischer Herrscher hätte einen derart unmittelbaren Angriff auf seine Autorität ignorieren können. Und ebenso wenige hätten seine Folgen unbeschadet überstanden.
In dieser Optik wird deutlich, dass es aus Sicht Wladimir Putins keine Alternative zur Liquidierung Prigoschins gegeben hat. Auch wenn es im Kreml nach dem 24. Juni niemand gewagt hatte, die Stellung des russischen Präsidenten offen infrage zu stellen, war dessen Schwächung doch ein offenes Geheimnis. Die heimlichen Ambitionen potenzieller Diadochen hat Putin nun im Keim erstickt.
Die Botschaft ist ebenso simpel wie deutlich
Der Absturz von Prigoschins Flugzeug ist dabei weit mehr als nur eine Katastrophe der zivilen Luftfahrt, wie Putin es ausdrückte. Er ist ein Instrument, das der Kommunikation mit der Außenwelt dient. Die dabei ausgesandte Botschaft ist ebenso simpel wie deutlich. Sie lautet, dass vernichtet wird, wer sich gegen Putin wendet oder seine Macht zur Disposition stellt. Der Flugzeugabsturz lässt sich somit auf eine einzige Essenz reduzieren – ebendiese Warnung.
Als nachrangig erweist sich hingegen die Frage, ob Prigoschins Privatjet von einem Marschflugkörper getroffen oder von einem Sprengsatz zerstört worden ist. Den verfügbaren Videos nach zu urteilen, hat es eine Explosion am Flugzeug gegeben, woraufhin die Maschine brennend zu Boden fiel.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Jet gerade im Luftraum über der Oblast Twer und war auf dem Weg von Moskau nach St. Petersburg. Am Abend des 23. August 2023 sahen die Bewohner des Dorfes Kuschenkino ein Funkeln am Himmel. Einige Minuten später fielen mehrere Wrackteile zu Boden, aus denen schwarzer Rauch aufstieg.
Der Kreml hat unterdessen jegliche Verantwortung für den Absturz von sich gewiesen und entsprechende Behauptungen als Lüge bezeichnet. Flankierend hat das Nachrichtennetzwerk RT unterdessen eine eigene Theorie zu den Hintergründen ins Spiel gebracht. So nehmen die Redakteure ein von COVID-19-Impfstoffen induziertes Herzversagen des Piloten als Unfallursache an. Diese Meldung bedarf keiner ernsthaften Kommentierung.
Zu einer nationalen Attraktion geworden
Neben dem Tod Prigoschins hat der ominöse Flugzeugabsturz für den Kreml zudem noch einen günstigen Nebeneffekt. Unter den Passagieren war nämlich auch Dmitrij Utkin, der militärische Kopf der Gruppe Wagner.
Utkin war nicht nur loyaler Spießgeselle Prigoschins, sondern auch ein hochdekorierter Veteran, der einst von Putin persönlich im Kreml empfangen worden war und sich dort mit ihm ablichten ließ. Sein Tod verdeutlicht erneut, dass der russische Präsident keine Nachsicht gegenüber Funktionären zeigt, die er als Verräter ansieht.
Was aber bedeutet das Ableben Prigoschins nun für das politische Klima in Russland? Zur Klärung dieser Frage ist es sinnvoll, zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden, und zwar zwischen dem inneren Machtzirkel der russischen Eliten und ihrer äußeren Umgebung. Während Putin mit der Liquidierung des Wagner-Chefs nach innen Stärke demonstriert hat, sind die weiteren Auswirkungen derzeit unabsehbar.
Fest steht, dass Jewgenij Prigoschin durch seinen „Marsch der Gerechtigkeit“ in Russland praktisch über Nacht zu einer nationalen Attraktion wurde, den nicht wenige Menschen als Volkstribun betrachteten. Unvergessen bleiben die Szenen aus Rostow, wo Prigoschin am Abend des 24. Juni auf offener Straße wie ein Popstar gefeiert wurde.
Die ihm zuletzt von der russischen Bevölkerung entgegengebrachte Verehrung war jedoch weit mehr als nur eine romantische Verklärung. Sie basierte auf jenem Respekt und jener Anerkennung, die sich die Gruppe Wagner durch ihre veritablen Erfolge in der Ukraine verdient hatte. In der russischen Erinnerung wird dieses Martyrium für immer mit der Einnahme der monatelang umkämpften Stadt Bachmut verknüpft bleiben.
Ein mögliches Überlaufen zu den Streitkräften der Ukraine?
Nicht einmal Wladimir Putin stellte diese militärischen Meriten in Abrede. Bei den ums Leben gekommenen Mitarbeitern von Wagner habe es sich um Personen gehandelt, die einen wesentlichen Beitrag zum Kampf gegen das neonazistische Regime der Ukraine geleistet hätten, so der russische Präsident im Staatsfernsehen. Dieses Verdienstes sei man sich vollumfänglich bewusst und werde ihn niemals vergessen.
Ob Teile der Gruppe Wagner ihrer Ankündigung von Rache letztlich Taten folgen lassen werden, wird sich noch erweisen müssen. Fest steht lediglich, dass große Teile ihrer Einheiten mittlerweile in Belarus disloziert sind und zudem kein schweres Gerät mehr besitzen. Terroranschläge und Sabotageaktionen auf russischem Staatsgebiet stellen jedoch auch weiterhin ein unkalkulierbares Risiko dar. Gleiches gilt für ein mögliches Überlaufen zu den Streitkräften der Ukraine.
Bereits in der Antike haben sich jene Armeen als am mächtigsten erwiesen, die ihren Feldherrn verehrt, wenn nicht sogar geliebt haben. Bei der Gruppe Wagner und Jewgenij Prigoschin, der von seinen Männern respektvoll „Bat’ka“ (Väterchen) genannt wurde, verhält sich das nicht anders.
Sein Tod hat viele der Kämpfer tief getroffen und in große Wut versetzt. In der Bevölkerung hingegen ist eine große Anteilnahme erkennbar. In praktisch jeder russischen Großstadt ist es zu Kranzniederlegungen und öffentlichen Gedenkaktionen gekommen.
Den Beobachtern des Kremls, die das aktuelle Geschehen im Land mit Argusaugen verfolgen, wird diese Affirmation nicht gefallen. In dem Wissen, dass der Krieg weitergeht und neue Helden herhalten müssen, dürften sie darauf spekulieren, dass Jewgenij Prigoschin schon bald in Vergessenheit geraten wird.
Wer Prigoschins Karriere jedoch verfolgt hat, weiß, dass sich diese Hoffnung wohl kaum erfüllen wird. Stattdessen ist denkbar, dass der Kreml mit der Liquidierung seines ersten Soldaten einen Märtyrer geschaffen hat, dessen Mythos womöglich zu einer Gefahr für ihn werden könnte.
Und so bleibt zur Stunde nur die Gewissheit, dass sich der Kreml zur Abwendung dieser Gefahr eines alten Prinzips bedient, das Winston Churchill einst mit folgenden Worten umschrieben hatte: „In Kriegszeiten ist die Wahrheit so wertvoll, dass sie von einer Schutztruppe aus Lügen bewacht werden muss.“
Christian Osthold ist Historiker und als Experte für Tschetschenien und den Islamismus tätig. Darüber hinaus befasst er sich mit islamisch geprägter Migration sowie dem Verhältnis der Politik zum institutionalisierten Islam in Deutschland.