Kürzlich hatten wir uns hier auf achgut.com mit der Frage befasst, ob eine Traumatisierung von jüngeren Migranten eine Art Risikofaktor für die Beteiligung an Krawallen wie in Stuttgart und Frankfurt darstellt, wie es von Medien immer wieder gerne mal behauptet wird. Auch wenn so gut wie alle Leserkommentare die Analyse des Autors teilten, klang aus nicht wenigen eine gewisse Skepsis dahingehend heraus, ob die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nicht häufig zu freihändig oder gar inflationär vergeben werde.
Unter einer PTBS wird im Wesentlichen ein durch ein relevantes Trauma ausgelöster Symptomenkomplex aus angstvollem Wiedererleben des Traumas, Vermeidung von Reizen, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind, und anhaltender Änderung der Stimmung verstanden. Etliche Leser verwiesen darauf, dass eine solche Störung doch offensichtlich sowohl bei den überlebenden deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs als auch den Millionen Vertriebenen und der den Bombardierungen durch die Alliierten ausgesetzten Zivilbevölkerung zumindest ganz überwiegend gefehlt habe. In der Tat: Die meisten Menschen hatten damals offensichtlich andere Probleme und ebenso die Wissenschaft. Jedenfalls liegen auch keinerlei Studien oder Dokumentationen aus den Nachkriegsjahren über Traumatisierungen von bestimmten Teilen der deutschen Bevölkerung vor.
Dass es sich bei der PTBS um eine irgendwie besondere Störung handelt, wird auch dadurch deutlich, dass sie erst im Jahre 1980 in ihrer jetzigen Konzeptualisierung in den USA in das dortige Diagnose-Verzeichnis aufgenommen wurde, in Deutschland sogar erst 1993. Davor wurde diese Art von Störungen – je nach vorherrschender Symptomatik – meist entweder als Depression oder Angstproblem eingestuft. Das weckt natürlich den Verdacht, dass es sich bei der PTBS um eine zeitgeistabhängige „Modediagnose“ handeln könnte. Ein fundiertes Argument dagegen wäre zweifellos der Nachweis, dass es eine solche Störung, auch wenn natürlich anders beschrieben und benannt, schon immer gegeben hat. Aber gerade mit dem Nachweis, dass „basale Reaktionen von Menschen auf extreme Ereignisse weitgehend kulturinvariant ablaufen“, wie in einem einschlägigen Standardwerk behauptet, hapert es.
Früher schon charakteristische Psychotrauma-Störungen?
In dem 2017 erschienenen Buch „Wir Weicheier“ (im Englischen: „Pussycats“) setzt sich der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld – emeritierter Professor der Hebräischen Universität Jerusalem – mit der Frage auseinander, „warum wir (Anm.: der Westen) uns nicht mehr wehren können und was dagegen zu tun ist.“ Dabei versucht der Autor auch die Frage zu beantworten, warum es zu einer in der Menschheitsgeschichte „bisher nie gekannten Verbreitung des Phänomens PTBS“ gekommen sei. Seine bis in die Antike zurückreichende historische Analyse kann die eingangs zitierte Behauptung eines kulturunabhängigen Vorkommens von basalen Reaktionen auf extreme Ereignisse nicht stützen. Denn: „Die Beweise für die Existenz von PTBS vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) sind äußerst dünn.“ Wobei die Schrecken des Krieges von der Antike bis in die Gegenwart zumindest in mancher Hinsicht eher geringer geworden seien.
Wichtig für die seitdem zunehmende Verbreitung von psychischen Traumafolgen bei Militärangehörigen sei auch ein Umschwung in der öffentlichen Meinung gewesen. War diese im Ersten Weltkrieg noch geprägt von einer feindlich-abwertenden Haltung gegenüber Soldaten mit psychischen Problemen, sei es im Zweiten Weltkrieg, so van Creveld, zumindest in der US-Army bereits weitgehend akzeptiert gewesen, dass jeder Soldat seine Belastungsgrenze habe. Bei der deutschen Wehrmacht habe dagegen immer noch gegolten: „Unsere Mauern brechen, aber unsere Herzen nicht.“ Nach Ende des Krieges durchgeführte Schätzungen gehen davon aus, dass bei den US-Truppen psychische Störungen etwa zehnmal häufiger vorkamen als bei ihrem Hauptgegner, dem deutschen Heer.
Es war der Vietnam-Krieg, der dann das Psychotrauma von Soldaten zu einer Epidemie werden ließ: Waren bei den US-Streitkräften im 2. Weltkrieg unter den aus medizinischen Gründen heimtransportierten Soldaten in 23 Prozent der Fälle psychische Erkrankungen maßgebend, stieg deren Anteil im Vietnam-Krieg 1972 auf 60 Prozent. Ob sich dahinter in allen Fällen auch tatsächlich Erkrankte verbergen, muss hier ebenso offen bleiben wie die genauen Ursachen für diesen Anstieg. Allerdings, da ist van Creveld beizupflichten, ist dieser Anstieg kaum unabhängig von der dem Vietnam-Krieg zunehmend kritisch gegenüberstehenden öffentlichen Meinung zu verstehen.
Wendepunkt Vietnamkrieg
Der Vietnam-Krieg markierte für das PTBS-Erkrankungsrisiko von Soldaten zweifellos einen markanten Wendepunkt. Seitdem scheint das Motto zu gelten: Häufiger immer, seltener nimmer. Dazu passt eine Umfrage aus den USA, nach der mehr als die Hälfte der 2,6 Millionen Amerikaner, die am Kriegseinsatz im Irak und in Afghanistan teilgenommen haben, auch nach Jahren noch mit psychischen Symptomen zu kämpfen hätten.
Bei diesen Zahlen drängen sich mir – in Anlehnung an van Crevelds Überlegungen – zwei Fragen auf: In welchem Maße ist es tatsächlich der Krieg mit all seinen Schrecken, der PTBS hervorruft, und in welchem Maße die in der Gesellschaft vorherrschende Idee, dass der Krieg grundsätzlich böse und schlecht für die Psyche der Soldaten ist, sodass jeder, der daran länger teilnimmt, auch daran zerbrechen muss? Und: Kennen eigentlich Kampftruppen der Taliban, des IS oder der iranischen Revolutionsgarden auch so etwas wie eine PTBS?
Es mag Zufall sein oder auch nicht: Jedenfalls setzte ebenfalls um die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs – während der immer rasanteren Industrialisierung – eine Entwicklung ein, bei der von Medizinern, zunächst unter den Überlebenden schwerer Eisenbahnunfälle, eine Störung beschrieben wurde, die man heute wohl überwiegend als PTBS diagnostizieren würde. Zugleich stellte sich die Frage nach der Haftung beziehungsweise einem finanziellen Ausgleich für den erlittenen gesundheitlichen Schaden. Diese Diskussion nahm Fahrt auf, und 1884 wurde in Deutschland eine gesetzliche Unfallversicherung ins Leben gerufen.
Auch wenn es in den folgenden Jahrzehnten, aufgrund der noch unzureichend entwickelten medizinischen und vor allem psychiatrischen Wissenschaft, gerade bei der Regulierung von unfallbedingten psychischen Schäden, erhebliche Irrungen und Wirrungen gab, war damit der Weg für die finanzielle Entschädigung der PTBS grundsätzlich gebahnt. In Abhängigkeit von Stadium, Schwere und Ursache der Störung reicht das Spektrum dabei von vorübergehendem Krankengeld über Schmerzensgeld und beruflicher Rehabilitation bis hin zur unbefristeten Rentenzahlung.
Entschädigungsansprüche haben auch Schattenseiten
Solche Rechtsansprüche locken natürlich Simulanten, aber auch Aggravanten an, also solche, die tatsächlich vorhandene Symptome zweckgerichtet übertreiben. Aber diese Gruppen sind nicht das Hauptproblem. Wichtiger für die Erklärung der Zunahme von PTBS in zivilen und nicht-zivilen Bereichen dürften zwei andere Aspekte sein: Erstens, wer sich auf den Instanzenweg zur Anerkennung und finanziellen Regulierung seiner psychischen Schädigungen begibt, schwächt damit nahezu automatisch die bei Psychotraumata eigentlich hohe Chance auf Heilung oder relevante Besserung. Nicht nur, weil dann ja der Grund für die Ansprüche völlig oder weitgehend entfiele, sondern auch, weil er sich, vielleicht gar über mehrere Jahre bis zur buchstäblich letzten Instanz, immer und immer wieder mit diesen Problemen zu befassen hat.
Mindestens genauso wichtig dürfte, zweitens, der folgende Aspekt sein: Wandelt sich in der fachlichen und vor allem öffentlichen Meinung ein Krankheitsbild von überwiegend negativ besetzt – etwa als Folge von individueller Schwäche und Verweichlichung – hin zu einer positiven Konnotation samt Entschädigungsanspruch, dürfte das dessen Auftretenswahrscheinlichkeit stark beeinflussen. Nicht nur im Sinne der oben erwähnten bewussten Simulation und Aggravation, sondern vor allem auch durch Mechanismen, die der Betroffene überwiegend nicht bewusst steuert.
Was folgt daraus für den Umgang mit den Migranten, die seit 2015 massenhaft nach Deutschland gelangt sind, namentlich der dominierenden Gruppe von jungen Männern? Diese stammen ganz überwiegend aus Kulturen, in denen ein Mann mit psychischen Trauma-Symptomen und dadurch bedingten Einschränkungen seiner beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit in der Regel nicht hoch im Kurs steht. Schon gar nicht kann er mit einer finanziellen Entschädigung rechnen. Die Übernahme einer Patientenrolle ist demensprechend wenig attraktiv. Er wird folglich alles tun, damit es genau dazu nicht kommt, zumindest nicht über einen längeren Zeitraum.
Der Migrant und das Trauma
In Deutschland treffen junge Migranten nun auf professionelle und ehrenamtliche „Helfer“, bei denen mehrheitlich die Idee dominiert, dass ein großer Teil ihrer Klientel traumatisiert sein muss – angesichts der Verhältnisse, in denen sie gelebt haben, von der entbehrungsreichen und gefährlichen Flucht ganz zu schweigen. Eine solche Annahme ist aber nur bei bestimmten Risiko-Gruppen angemessen, etwa ehemaligen und wahrscheinlich gefolterten politischen Häftlingen.
Im Regelfall ist der nach Traumatisierung suchende Blick zurück aber kontraproduktiv, weckt höchstens schlafende Hunde und erschwert es, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich dem Neuen zu öffnen. Außerdem wird durch die Traumasuche ein tendenziell ungünstiger Lernprozess eingeleitet: Die Migranten erfahren gleich zu Beginn ihres Aufenthalts, dass hier der Status eines Traumatisierten positiv besetzt ist: Man wird nicht als Schwächling verachtet, sondern sogar besonders nachsichtig und freundlich behandelt, hat bessere Chancen im Asylverfahren, ist gegen Abschiebung nahezu perfekt geschützt und ist – mit etwas Geschick und einem gewogenen Gutachter – vielleicht gar lebenslang vor regelmäßiger Arbeit geschützt. Kommt es zu einem Strafverfahren, steigt die Chance auf Einstellung des Verfahrens oder es gibt mildernde Umstände. Eine aktenkundige Traumatisierung ist folglich eine attraktive Währung mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten.
Nach diesen Ausführungen mag es zunächst vielleicht verwundern, dass die PTBS noch nicht sozial „dekonstruiert“ wurde. Aber das ist natürlich nur den aus linker Perspektive politisch unerwünschten Begriffen oder Vorstellungen vorbehalten. Wie dem auch sei: Insgesamt bestehen keine Zweifel, dass zumindest die Häufigkeit des Auftretens von PTBS stark von verschiedenen sozialen Faktoren beeinflusst wird.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.