Gerald Wolf, Gastautor / 26.08.2017 / 06:17 / 7 / Seite ausdrucken

Postfaktisch und postmerkelisch

Von Gerald Wolf.

Ging es Ihnen auch so, damals, als diese Vokabel plötzlich überall auftauchte? Zuerst dachte ich an eine Art von Witz, an einen Wortwitz, dann an eine Verwechslung mit – ja, womit denn? Mit prä-faktisch, mit extra-faktisch? Bald aber, bei dem explosionsartig expandierenden Gebrauch von „postfaktisch“, hoffte ich, die Germanisten würden’s schon richten. Zum Beispiel mit der Wahl zum „Unwort des Jahres“. Irrtum: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache ehrte „postfaktisch“ als Wort des Jahres 2016. Die Bundeskanzlerin war es, die diesen Begriff, wenn schon nicht erfunden, dann doch populär (populistisch?) gemacht hat. Sie sagte nach der Wahlschlappe der CDU in Berlin, September 2016: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen ...“  Wollte die Gesellschaft für Deutsche Sprache, ein vom Staat alimentierter Verein, der großen Chefin wegen ihres Missgriffs in die Wörterkiste gütig den Rücken stärken?

Gleich als ich das Wort zum ersten Male hörte, fing meine Vokabelmühle zu klappern an. Heraus kam: lateinisch „post – nach, hinter“ und „factum – Tatsache, Ereignis“. „Postfaktisch“ demgemäß „den Tatsachen bzw. den Ereignissen folgend“. Das aber entsprach nicht dem Sinn, den ihm Frau Merkel gegeben hatte. „Auf Gefühlen, nicht auf Tatsachen beruhend“, meinte sie, damit meinen zu wollen. Und die politisch-mediale Klasse meinte eifrig mit. Das tut sie bis heute. Sogar der Duden macht mit. Unsere oberste Rechtschreibehilfe dreht den Wortsinn von „postfaktisch“ gewissermaßen in sein Gegenteil um, und das ohne eine entsprechende Erläuterung.

Befördert wurde die Karriere der Vokabel womöglich durch das Wörterbuch „Oxford Dictionary“, das (ebenfalls im Jahr 2016) „post-truth“ als Internationales Wort des Jahres gekürt hatte. Seitdem wird der Begriff bei uns einfach mit „postfaktisch“ übersetzt. Jedoch lässt „post-truth“ vom Wortsinn her die Deutung zu (meist ist es wohl auch so gemeint), dass die Wahrheit zwar bekannt ist oder bekannt sein mag, doch absichtlich ignoriert wird. Bei Verwendung von „postfaktisch“ hingegen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Wort werde hierzulande lediglich gebraucht, um jene als gefühlsduselige Dummerjane abzuqualifizieren, die eine andere Wahrheit für wahr halten und diese auch noch zu verteidigen trachten.

In der Wissenschaft, zumindest dort, wo die Gangart eine härtere ist, gibt es „postfaktisch“ zwar nicht als Begriff, aber als Prinzip. Nämlich dann, wenn es gilt, Schlussfolgerungen zu ziehen. Und zwar nach Erhebung der Fakten. Postfaktisch eben.

Wortfechterei, könnte man meinen. Lächerlich das Ganze? Ist es nicht. Leider.

Professor Gerald Wolf ist Hirnforscher und emeritierter Institutsdirektor. Er widmet sich in seinen Vorträgen und Publikationen und regelmäßig im Fernsehen (MDR um 11, Sendung „GeistReich“) dem Gehirn und dem, was es aus uns macht. Neben zahlreichen Fachpublikationen und Fach- und Sachbüchern hat er auch drei Wissenschaftsromane veröffentlicht.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Thomas Nuszkowski / 26.08.2017

Die Region des postfaktischen ist eine offene Region, in der der Glaube herrscht. Dort ist alles möglich. Dort kann man auch - wenn einem danach ist - an die Ankunft des großen, weißen Taschentuchs glauben. Oder an die Friedfertigkeit des Islam. Oder daran, dass man besser wisse als die Bürger selbst, was das Beste für die Bürger ist und man daher dazu berufen ist, sie zu ihrem “Glück” zu zwingen.

Dr. Andreas Dumm / 26.08.2017

Nein, gewiß nicht! Trotzdem ist anzumerken, daß der zeitliche Sinn von “post” hier in eigenwilliger Weise direktiv ausgelegt wird. Zunächst: Daß Wissenschaft “nach” der Ermittlung der Tatsachen (bzw. auf dieser Grundlage) erst stattfinden kann, stimmt nur zur Hälfte; die andere Hälfte besagt, daß die zur Ermittlung der Tatsachen eingesetzten Mittel und Methoden Wissenschaft(lichkeit) ausmachen und ihrer Art nach als “präfaktisch” anzusehen sind. Wichtiger noch ist der grundsätzlich andere Sinn, den das “Nach” erhält, wenn man das “Vor” nicht als Grundlage (für die wissenschaftliche Arbeit) und somit als Verpflichtung (auf “die Wahrheit”) begreift, sondern als Bezeichnung des Nicht-mehr-Gültigen, weil (sozusagen) Überholten. Aus dieser Sicht ist das, was als “post” aufgefaßt wird, nicht an das, was ihm vorausgeht, gebunden, sondern gewinnt sein Wesen aus der Ablösung von ihm. In dieser letztgenannten Weise scheint die (höchst überflüssige) Vokabel “postfaktisch” gebraucht zu werden.

Gabriele Kremmel / 26.08.2017

Herr Wolf, Sie sprechen mir aus der Seele. Man braucht kein Sprachexperte zu sein, um über den Begriff und seine Verwendung stutzig zu werden. Für mich ist seine Einführung in den politischen Sprachgebrauch nichts weniger als die Installation eines weiteren Werkzeuges der Nudgingstrategie, mit der die Benennung unliebsamer Tatsachen per se und ohne Gegenbeweis in Zweifel gezogen und die Mahner unterschwellig als Populisten und von Gefühlen geleitet diskreditiert werden können, ohne sich mit den Fakten zu beschäftigen oder den Gegenbeweis liefern zu müssen. Der Begriff ist, zusammen mit dem inflationär gebrauchten Populismusvorwurf ein Kampfmittel, um von den Fakten abzulenken. Die von Ihnen kritisierte, kritiklose Übernahme in den Sprachgebrauch ist umso verwunderlicher weil er, wenn man ihn schon im Sinne der Kanzlerin verwendet, ja am allerbesten auf ihr eigenes Tun und ihre zahlreichen Rechtsbrüche und Kehrtwenden zutreffen würde. Das war bereits mein erster Gedanke als ich sie die im Artikel zitierten Worte sprechen hörte: Meint sie jetzt sich selber oder ist die tatsächlich so dreist, ihre eigene Masche anderen als Makel anzudichten?

Werner Arning / 26.08.2017

Erleben wir nicht eine Art von “Neu-Sprech”, wie sie der gute George Orwell in seinem Roman “1984” beschrieb? Sprache wird zwecks Massenmanipulation teilweise neu erfunden. Auch der Sinn von Ausdrücken wird einem ideologischen Ziel angepasst, mit der Absicht das Denken der Menschen zu beherrschen und sie in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Veränderung der Sprache dient als Werkzeug der Macht. “Postfaktisch” soll etwas unterstellen, soll angebliche Lüge von angeblicher Wahrheit unterscheiden, soll Menschen mit einer bestimmten, kritischen Meinung als Idioten aussehen lassen, die sich von Instinkten, Gefühlen leiten lassen, die aber nicht in der Lage sind,  auf ihren Intellekt zu bauen. Außerdem soll den “richtig” Denkenden die Möglichkeit erleichtert werden,  sich von den Idioten abzugrenzen und soll ihnen obendrein noch Argumentationsmunition gegen diese Idioten liefern. Perfides Spiel. “1984” eben.

Wilfried Cremer / 26.08.2017

Karriere konnte der Begriff schnell auf dem ausgelatschten Trampelpfad der Vokabel Postmoderne machten. Mehrdeutigkeiten bei Lehnübersetzungen schleifen sich mit der Zeit ab. Interssant ist aber, dass Frau Merkel als Meisterin von Scheinlösungen aller Art das tatsäche oder vermeintliche Überhandnehmen von Faktenresistenz in der politischen Diskussion mir nichts dir nichts auf das Abstellgleis der Gefühlsebene verlegt hat.

A.W. Gehrold / 26.08.2017

Ich kann mich ja täuschen, aber war postfaktisch nicht, wenn der Chief-Executive am Mainstream vorbei ohne Rücksicht auf Gender und Outfit sein Narrativ ....., naja, Sie wissen schon, irgendwas mit Medien halt?

Karl Seegerer / 26.08.2017

“nach” im Sinne von “gemäß” wird im Lateinischen nie mit “post” wiedergegeben.  “post” wird nur zeitlich im Sinne von “nach” gebraucht. “gemäß” wird mit “secundum” , z.B. “secundum naturam vivere” -“naturgemäß leben” verwendet.. Je nach Bedeutungsnuance,  wird die ygemäßheit auch mit “ad”, “ex”, “de” oder “pro” ausgedrückt.

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