Der langjährige Chefredakteur der "Welt", Ulf Poschardt, hat das Wort "Shitbürger" erfunden und gleich ein Buch über diese geschrieben: "In Zeiten ohne Not und Elend blüht er auf und widmet sich der Moralbewirtschaftung“.
Seit dem 21.11.2024 werden die Zuschauer und Zuschauerinnen der Tagesschau und der Tagesthemen nur noch mit den Worten „Guten Abend“ begrüßt, nicht mehr mit „Guten Abend, meine Damen und Herren“. Die Entscheidung erfolgte nicht par ordre du mufti, ihr waren lange und intensive Diskussionen innerhalb und zwischen den ARD-Anstalten vorausgegangen. Die offizielle Begründung für die Umstellung hörte sich seriös an. „Die Veränderung basiert u.a. auf einer qualitativen Zuschauerbefragung und entspricht dem Wunsch nach einer authentischen und zugänglichen Ansprache… Die Tagesschau orientiert sich bei den Sprechtexten zunehmend an Gesprochenem statt an formeller Schriftsprache…“
Nicht gesagt wurde, wie viele Zuschauer an der Befragung teilgenommen hatten, denn es war ja eine „qualitative“ Befragung, bei der es auf die Anzahl der Teilnehmenden nicht ankommt. Es könnten auch ein Dutzend sein, von denen zehn bei der ARD beschäftigt sind. Der Wunsch nach einer authentischen und zugänglichen Ansprache übergeht die Frage, was an der bis dahin gültigen Fassung – „Guten Abend, meine Damen und Herren“ – unauthentisch und nicht zugänglich war. Fühlten sich non-binäre Menschen, die weder Damen noch Herren sein wollen, ausgeschlossen?
Hatte es nicht eine ähnliche „Reform“ in den 80er Jahren schon mal gegeben, das „Schreiben nach Gehör“, eine pädagogische Maßnahme, die wesentlich zur Verbreitung des Analphabetismus in Deutschland beigetragen hat?
Was war es, das keinen Aufschub duldete?
Kaum hatte das neue Jahr begonnen, bekamen die bei der Bundespressekonferenz akkreditierten Journalisten eine Einladung zu einer außerordentlichen PK mit Kanzler Scholz. Sie war sehr kurzfristig terminiert, als käme es auf jede Minute an. Was wollte der Regierungschef seinem Volk mitteilen, das keinen Aufschub duldete? Standen russische Kampfeinheiten bereits kurz vor Frankfurt an der Oder? Sollten wieder 28 aus Afghanistan Geflüchtete abgeschoben werden? War Slowenien aus der EU ausgetreten?
Es war nichts von alledem. Sondern etwas wirklich Wichtiges, das alle Bürger angeht, sie „betroffen“ macht und zu einer klaren Positionierung zwingt. Der Kanzler sprach zwar zu seinen Landsleuten, wandte sich aber an jemand anders. Er sagte: „Das Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen… gilt für jedes Land, egal ob es im Osten von uns liegt oder Im Westen. Daran muss sich jeder Staat halten, egal ob es ein kleines Land ist oder ein sehr mächtiger Staat…“ Die Unverletzlichkeit von Grenzen sei „Kernbestandteil dessen, was wir westliche Werte nennen. Daran darf es kein Rütteln geben“. Spätestens an dieser Stelle wurde den Teilnehmenden der Pressekonferenz klar, wer es war, an den der Kanzler seine mahnenden Worte richtete: President elect Donald Trump, der kurz zuvor bekanntgegeben hatte, er werde sich darum bemühen, Grönland an die USA anzuschließen.
Von Mali nach Grönland
Dann machte der Kanzler eine kurze Pause und schaute sich im Raum um, als wollte er die Wirkung seiner Worte überprüfen. Als sich keine Hand erhob, sprach er weiter, wobei er es leider, leider unterließ, einen epochalen Satz von Angela Merkel aus dem Jahre 2008 zu aktualisieren, etwa so: „Die territoriale Integrität von Grönland ist Teil der deutschen Staatsräson, wer daran rüttelt, bekommt es mit uns zu tun.“ Es wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, darauf hinzuweisen, dass „wir“ dazu personaltechnisch durchaus in der Lage wären, nachdem die letzten 142 Einsatzsoldatinnen und -soldaten der Bundeswehr Ende 2023 aus Mali abgezogen wurden. Diese könnten relativ schnell nach Grönland verlegt werden, um die territoriale Integrität der größten Insel der Welt zu schützen.
Als Schulz Ende 2022 China besuchte, kam natürlich auch die Taiwan-Frage zur Sprache. Allerdings in einer ganz anderen Tonalität. Er habe, so Scholz, gegenüber seinen chinesischen Gastgebern „deutlich gemacht, dass eine Veränderung des Status quo von Taiwan nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen kann“. Also grundsätzlich möglich wäre, wobei es nur darauf ankäme, „friedlich“ entsprechend zu definieren.
Was haben nun die veränderte Begrüßungsformel bei der Tagesschau, die Spontan-PK von Kanzler Scholz und die Sorge um die territoriale Integrität von Grönland miteinander zu tun? Es sind drei Beispiele von vielen, die belegen, dass in Deutschland einiges durcheinandergeraten ist, Banales wird wichtig genommen, Wichtiges banalisiert. Die ökonomischen und sozialen Folgen der „Willkommenskultur“ werden kleingeredet, die Inflation und die Kriminalität in migrantischen Milieus ebenso. Was nicht passt, wird passend gemacht, mit Flosken und Formeln wie „erlebnisorientierte Jugendkultur“ oder „Kein Mensch ist illegal“.
Deutschland ist ein Scheinriese. Je weiter man sich von ihm entfernt, umso größer erscheint er, und je näher man ihm kommt, umso mehr schrumpft er zusammen.
Runter mit dem Land und rauf mit dem Bach
Es ist vielleicht kein Zufall, dass ein Kinderbuchautor und Märchenerzähler zum Wirtschaftsminister aufsteigt, dessen letztes Buch „Den Bach rauf“ heißt. Während das Land den Bach runterrauscht, lässt der Verfasser seiner Phantasie freien Lauf und Bäche bergauf fließen.
Habecks Buch wird bald dort landen, wohin es gehört, ins moderne Antiquariat, derweil ein anderes Buch gerade für ziemlich viel Unruhe im Literaturbetrieb sorgt: eine 160 Seiten lange Streitschrift wider den woken Zeitgeist, deren schlichte Aufmachung an die „Raubdrucke“ der Schriften von Wilhelm Reich und Erich Fromm in den 60er und 70er Jahren erinnert.
Das Buch heißt „Shitbürgertum“, geschrieben hat es der langjährige Chefredakteur der WELT, Ulf Poschardt.
Er hat es auch selbst verlegt, nachdem ein kleiner, aber angesehener Verlag, der es herausbringen wollte, das fertige Manuskript als „zu polemisch“ abgelehnt hatte, wohl wissend, dass Poschardt sich mit pointierten und gelegentlich auch polemischen Kommentaren einen Namen gemacht hat.
Der Shitbürger ist ein Schön-Wetter-Matrose
„Shitbürgertum“ spielt natürlich auf „Schildbürger“ an, geht aber weiter. Poschardt hat das Wort erfunden, als Inbegriff des „progressiven“ Spießers und Kleinbürgers, der grün denkt, grün redet, grün wählt, grün investiert, seine Kinder mit dem Lastenrad zur Kita fährt, im Bio-Markt vegane Schnitzel einkauft und mit Rücksicht auf seine private CO2-Bilanz sparsam heizt. Poschardt macht aus seiner Geringschätzung für das „Shitbürgertum“ kein Geheimnis. „Der Shitbürger ist ein Schön-Wetter-Matrose. In Zeiten ohne Not und Elend blüht er auf und widmet sich der Moralbewirtschaftung“, heißt es an einer Stelle im Kapitel „Der angeblich überforderte Untertan“.
Hinter dem „Shitbürgertum“ lauert die „Lauchbourgeoisie“ und hofft, dass die „Verschiebungen des Zeitgeistes“ auch ihr zugutekommen. Drei Kapitel weiter („Aufstiegsneid“) wird der Gedanke fortgeschrieben: Beim „Marsch durch die Institutionen“ sei das Shitbürgertum „nachlässig und bequem geworden, weil die angestrebte ‚Systemüberwindung‘ ausgefallen ist… Aus den Rebellen wurden in nur wenigen Jahren überzeugte Mitläufer und Rebellenkonformisten.“
Terminologie und Tonalität solcher Sätze erinnern an zwei exzessiv begabte westdeutsche Befindlichkeitsforscher, Wolfgang Pohrt („Das allerletzte Gefecht“) und Eike Geisel („Die Wiedergutwerdung der Deutschen“), die zu einer Zeit veröffentlichten, als das Wort „Querdenker“ noch ein Kompliment war. Und ein wenig auch an Wiglaf Droste („Vollbad im Gesinnungsschaum“), der jede Wortblase mit einem Fingerschnippen zum Platzen brachte.
Hat Hegel die DDR erfunden?
Vermutlich ohne es zu wollen, tritt Poschardt in die Fußstapfen von Ketzern wie diesen; den Großmeistern des Geistes tritt er unbefangen entgegen. Über Hegel schreibt er, dessen „Verklärung des Staates“ sei in Deutschland „auf besonders fruchtbaren Boden“ gefallen. „Ein solcher Staat als die Verkörperung der sittlichen Idee bot ein Biotop für Untertanen.“ Man könnte meinen, sagt Poschardt, „die sozialistische Diktatur der DDR (war) „eine Fortsetzung linkshegelianischer Hoffnungen“.
Meine minimalintesive Philosophiebildung reicht nicht aus, um beurteilen zu können, ob Poschardt mit solchen Werturteilen richtig liegt oder danebengreift. (Der einzige Philosoph, mit dem ich mich wirklich befasst habe, ist Theodor Lessing, Verfasser der monumentalen „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, erschienen 1919.)
Aber darauf kommt es nicht an. Poschardts „Shitbürgertum“ ist keine Einführung in die Philosoziologie der Gegenwart, er tritt weder für den „Wandel durch Handel“ ein, noch redet er der Vier-Tage-Woche das Wort. Solche Petitessen lässt er souverän links liegen.
Nach Schlüsselbegriffen der aktuellen Debatten wie Identität, Integration, Migration und Politikverdruss wird man bei ihm vergeblich suchen. Stattdessen findet man eine plausible These dafür, warum „das Stehen in der Schlange oft der ganz falsche Einstieg in den Aufstieg sein kann“.
So lustig wie Steinmeier auf einem Kirchentag
„Shitbürgertum“ ist keine leichte Lektüre, Poschardt setzt einiges bei seinen Lesern voraus. Aber er liefert auch viel. Wie es passieren konnte, dass Deutschland eine griesgrämige Republik wurde, mit einfältigen Politikdarstellern, konformistischen Intellektuellen, einem Hang zum tragikomischen Größenwahn und einer unheilbaren Liebe zur Prinzipienreiterei.
Man kann es auch in einem Satz zusammenfassen: "Mit Donald Trump ist zum ersten Mal ein verurteilter Straftäter als Präsident der USA vereidigt worden." So verkündet von Sprecher Jens Riewa als erste Meldung in der Spätausgabe der Tagessschau am 21.1., kurz nach Mitternacht, wenige Stunden nach der Inaugurationsfeier in Washington.
Womit wir wieder am Anfang wären. Warum die Zuschauer und Zuschauerinnen der Tagesschau und der Tagesthemen nur noch mit den Worten „Guten Abend“ begrüßt werden, und nicht mehr mit „Guten Abend, meine Damen und Herren“. Warum Kanzler Scholz eine außerordentliche Pressekonferenz einberuft, um Grönland davor zu bewahren, von den USA vereinnahmt zu werden. Warum der amtierende Wirtschaftsminister seinem letzten Buch den Titel „Den Bach rauf“ auf den kurzen Weg ins moderne Antiquariat verpasst hat. Und warum deutsche Comedians so lustig sind wie eine Rede von Frank-Walter Steinmeier auf einem Kirchentag.
Ulf Poschardts Buch "Shitbürgertum" erscheint im Eigernverlag, auf Twitter finden Sie ihn und sein Buch hier.
Henryk M. Broder ist einer der Herausgeber der Achse des Guten.