In Kalifornien haben Vertreter „progressiver“ linker Politik am Dienstag zwei krachende Niederlagen erlitten.
Die Lokalzeitung San Francisco Chronicle nannte es eine „historische Abstimmung“. Der Fernsehsender CNN hatte schon vorab vor einem „politischen Erdbeben“ gewarnt. In Kalifornien haben Vertreter „progressiver“ linker Politik am Dienstag zwei krachende Niederlagen erlitten. Bei der Bürgermeisterwahl in Los Angeles gewann der Immobilienunternehmer Rick Caruso, der sich erst seit wenigen Monaten der Demokratischen Partei zurechnet (vorher war er mal als Republikaner, mal als Unabhängiger im Wählerverzeichnis eingetragen), mit 42 Prozent die meisten Stimmen. Die derzeitige Bürgermeisterin Karen Bass – die 2020 von Joe Biden als Vizepräsidentschaftskandidatin in Betracht gezogen wurde – erhielt nur 37 Prozent. Im November wird es eine Stichwahl geben. Caruso gilt als „Law and Order“-Kandidat. Er warb im Wahlkampf dafür, energisch gegen Kriminalität und auf den Straßen campierende Obdachlose vorzugehen. Die Polizistengewerkschaft LAPPL hatte sich im Februar für Caruso ausgesprochen.
In San Francisco wurde der über die Grenzen der Stadt hinaus bekannte linke Bezirksstaatsanwalt Chesa Boudin bei einem Referendum abberufen. Mehr als 60 Prozent der Wähler stimmten dafür, dass Boudin gehen muss. Seine Kritiker machen ihn dafür mitverantwortlich, dass San Francisco heute geprägt ist von Wohnungseinbrüchen, Raubüberfällen, Ladendiebstählen und einem öffentlichen Raum, der von obdachlosen Drogenabhängigen übernommen wurde. Boudin – dessen Leistungen wir im Januar an dieser Stelle gewürdigt hatten – war 2019 mit der Botschaft einer linken Strafreform in sein Amt gewählt worden. Kriminalität, meinte er, sei auf „Armut, Vermögensungleichheit und unzureichende Staatsausgaben für Sozialprogramme“ zurückzuführen, und versprach, „Straftaten gegen die Lebensqualität“ nicht mehr zu verfolgen:
„Wir werden keine Fälle von Straftaten gegen die Lebensqualität verfolgen. Straftaten wie öffentliches Campen, Anbieten oder Kaufen von Sex, öffentliches Urinieren, Blockieren eines Bürgersteigs usw. sollten und werden nicht strafrechtlich verfolgt. Viele dieser Delikte werden immer noch verfolgt, wir haben noch einen langen Weg vor uns, um Armut und Obdachlosigkeit zu entkriminalisieren.“
„Epidemie der Unordnung“
Der Weg erwies sich dann doch nicht als gar so lang. Aber war es auch der richtige? Darüber, wie San Francisco heute aussieht, schreiben selbst Autoren eher linksgerichteter Publikationen mit Abscheu und Zynismus. Da ist etwa ein Beitrag von Benjamin Wallace-Wells im New Yorker mit der Überschrift „Warum San Francisco Chesa Boudin gefeuert hat“. Schon wenige Monate nach Boudins Amtsantritt, so der Autor, sei deutlich geworden, dass San Francisco eine „Epidemie der Unordnung“ erlebe. Einbrüche und Autodiebstähle hätten zugenommen. Und die Drogensüchtigen hätten den öffentlichen Raum erobert:
„Die Obdachlosen waren überall, ob mit Zelten oder ohne. Fast täglich nahmen Süchtige auf den Straßen im Tenderloin-Viertel der Stadt eine Überdosis. Überall war – es war schwer zu ignorieren – eine phänomenale Menge menschlicher Scheiße verschmiert.“
Unter der Überschrift „Wie San Francisco zu einer gescheiterten Stadt wurde“ schreibt Nellie Bowles, Kolumnistin von The Atlantic, über die Stadt, in der sie aufwuchs und als Erwachsene lebte, ehe sie entschied, lieber von dort wegzuziehen:
„An einem kalten, sonnigen Tag vor nicht allzu langer Zeit besuchte ich das neue Tenderloin-Center der Stadt für Drogenabhängige in der Market Street. Es ist in der Innenstadt, ein Open-Air-Maschendrahtgehege auf einem ehemals öffentlichen Platz. Auf den Bürgersteigen ringsum liegen Menschen am Boden und zucken. Es gibt eine kostenlose mobile Dusch-, Wasch- und Toilettenstation mit der Aufschrift DIGNITY ON WHEELS („Würde auf Rädern“; S.F.). Daneben liegt ein junger Mann, bekifft, sein Hemd rutscht hoch, sein Gesicht ist aufgedunsen und sonnenverbrannt. Innerhalb des Geheges werden Dienstleistungen angeboten: Lebensmittel, medizinische Versorgung, saubere Spritzen, Überweisungen zur Unterbringung. Es ist im Grunde ein sicherer Ort, um sich einen Schuss zu setzen.“
San Francisco: Obdachloser lag elf Stunden tot auf der Straße
Die Stadtverwaltung sage, sie versuche zu helfen. „Aber von außen“, so Bowles, „sieht es so aus, als würde jungen Menschen auf dem Bürgersteig in den Tod geholfen, umgeben von halb aufgegessenen Lunchpaketen.“ Wer auf der Straße sterben wolle, so die Autorin sarkastisch, für den sei San Francisco „kein schlechter Ort“:
„Der Nebel hält die Temperatur gemäßigt. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine schönere Aussicht. Sozialarbeiter und Freiwillige bringen dir Essen und Decken, Nadeln und Zelte. Die Ärzte kommen, um zu sehen, wie das Fentanyl [ein Opiod, an dem im Jahr 2021 nach offiziellen Zahlen 640 Abhängige in San Francisco starben; S.F.] wirkt, und um sicherzustellen, dass der Rest von dir in Ordnung ist.“
San Francisco ist woke. Man achte darauf, so Bowles, den Menschen und sein Erleben in den Mittelpunkt zu rücken; nicht von einer „obdachlosen Person“ zu sprechen, sondern von einer Person, „die Obdachlosigkeit erlebt“. Manchmal aber, berichtet sie, kommt es vor, dass eine solche Person in San Francisco mehr als elf Stunden lang tot auf der Straße liegt, ehe sich jemand kümmert. Es gibt nämlich, erklärt sie, die Ansicht, dass jeder das Recht habe, unbehelligt auf der Straße zu sterben:
„Vor ein paar Jahren sah eine Freundin von mir einen blutenden Mann die Straße hinuntertaumeln. Sie erkannte ihn als jemanden, der regelmäßig im Viertel draußen übernachtete, und rief den Notruf an. Sanitäter und Polizei kamen und begannen mit der Behandlung, aber Mitglieder einer Obdachlosen-Interessenvertretung bemerkten das und griffen ein. Sie sagten dem Mann, dass er nicht in den Krankenwagen steigen müsse, dass er das Recht habe, eine Behandlung abzulehnen. Das hat er also getan. Die Sanitäter gingen; die Aktivisten gingen. Der Mann saß allein auf dem Bürgersteig und blutete immer noch. Ein paar Monate später starb er etwa einen Block entfernt.“
Bloß nicht die Polizei rufen
Wie das Leben in San Francisco das eigene Denken verändere, habe sie an sich selbst gemerkt, so Bowles. Sie habe ihr Auto nicht abgeschlossen, damit Diebe die Scheiben nicht einschlagen. Es sei in San Francisco üblich, Zettel an sein Auto zu kleben, auf denen steht: „Im Auto ist nichts. Nicht die Scheiben einschlagen.“ Wird man auf der Straße ausgeraubt, ruft man nicht die Polizei, weil das als rassistisch gelten könnte:
„Als ich einmal spazieren ging und mir ein Typ die Jacke vom Rücken riss und damit davonsprintete, habe ich nicht einmal um Hilfe gerufen. Es war mir peinlich – was war ich, eine Touristin? Das Leben in einer scheiternden Stadt macht seltsame Dinge mit dir. Das Normale wäre gewesen: zu schreien, zu versuchen, Hilfe zu bekommen – ich wage es sogar zu sagen, von einem Polizisten –, aber das fühlte sich irgendwie lahm an und womöglich rassistisch.“
„Die erste Wahl für Kriminelle und Bandenmitglieder“
Das ist der unspektakuläre Alltag in San Francisco. Dazu gab es in letzter Zeit einige Fälle von Kriminalität, die so dreist waren, dass sie Nachrichtenwert hatten und die Presse, die sozialen Medien und, erzwungenermaßen, auch die Politik beschäftigten. Letzten Sommer etwa gingen von Kunden der Drogeriemarktkette Walgreens gefilmte Videos in den sozialen Netzwerken viral, die zeigten, wie ein Ladendieb mit dem Fahrrad durch einen Walgreens-Markt in San Francisco fährt, seelenruhig einen schwarzen Müllbeutel mit Waren füllt, wobei er sich vom oberen Fach des Regals zum unteren arbeitet, und mit der Beute aus dem Laden rausfährt. Vielleicht sei der Mann „verzweifelt“ gewesen, kommentierte Boudin.
Im November 2021 wagten die Verbrecher etwas Größeres: Eine Bande von etwa 40 maskierten Räubern überfiel die Filiale des Luxusgüterunternehmens Louis Vuitton im Stadtteil Union Square, dem zentralen Einkaufs-, Hotel- und Theaterviertel der Stadt. Die Täter schlugen Scheiben ein und rannten mit Luxusartikeln davon. Der Schaden belief sich auf eine Million US-Dollar. Der Fall machte überregional Schlagzeilen, nationale Sender wie ABC, FOX News und NBC berichteten. Das war offenbar der Punkt, an dem Bürgermeisterin Breed dämmerte, dass es so nicht weitergehen kann. „Es ist an der Zeit, dass die Herrschaft der Kriminellen endet“, sagte sie. „Und sie endet, wenn wir die Strafverfolgung aggressiver einsetzen und weniger tolerant gegenüber all dem Bullshit sind, der unsere Stadt zerstört hat." Gut ein Jahr zuvor hatte die Bürgermeisterin noch den Polizeihaushalt um 120 Millionen Euro gekürzt, um das Geld stattdessen für den Kampf gegen die „Ungleichheit der Rassen“ zu verwenden.
Boudin erklärte 2020 bei einem Zoom-Meeting, in dem er auf Bürgerfragen antwortete, was seiner Meinung nach passieren könnte, wenn man gegen Drogendealer vorgeht:
„Ein erheblicher Prozentsatz der Drogendealer in San Francisco – vielleicht bis zur Hälfte – stammt aus Honduras. Wir müssen uns der Auswirkungen unserer Interventionen bewusst sein … Einige dieser jungen Männer wurden unter Morddrohungen hierher gebracht. Einige von ihnen haben Angehörige in Honduras, die geschädigt wurden oder werden, wenn sie die Menschenhändler nicht weiter bezahlen.“
Eine Lehre, die man daraus ziehen könnte, ist, wie wichtig es ist, die Grenze zu Mexiko zu sichern, um die Machenschaften transnationaler Gangstersyndikate zu stoppen. Stattdessen sandte Boudin der Mafia die Botschaft, dass sie vor Strafverfolgung sicher ist, solange er im Amt ist. Hatte San Franciscos Polizistengewerkschaft nicht Recht gehabt, als sie vor Boudins Wahl im Jahr 2019 warnte, dieser sei „die erste Wahl für Kriminelle und Bandenmitglieder“?
„Weckruf für die Demokraten“
Boudins Anhänger zeichnen nun das Bild einer Verschwörung der „Rechten“. Julie Edwards, eine Sprecherin der Anti-Abberufungs-Kampagne, sagte in einem Interview:
„Es gibt eine sehr alte Tradition der Rechten, diese Themen [Kriminalität; S.F.] als Keil zu benutzen, diese Themen als Waffe zu benutzen, ohne irgendein Interesse an Lösungen, die erwiesenermaßen Verbrechen reduzieren.“
Die Aussage erscheint nicht logisch: Zum einen gibt es in San Francisco keine „Rechten“, sondern nur Liberale, gemäßigte Linke und Ultralinke; es waren zum großen Teil Anhänger der Demokraten, die gegen Boudin gestimmt haben – sonst hätte es keine Mehrheit finden können. Zum anderen hätte niemals auch nur die erforderliche Zahl von Unterschriften für das Abberufungsreferendum gesammelt werden und dieses dann auch noch erfolgreich sein können, wenn es die Probleme, die die „Rechten“ angeblich für ihre Zwecke nutzen, nicht gäbe – wenn also Boudins ominöse „Lösungen“ tatsächlich „Verbrechen reduziert“ hätten. Haben sie aber nicht.
Julie Edwards ist eine in ihrer eigenen Welt lebende Linke. Liest man allerdings dieser Tage die Kommentare in Publikationen, die der Demokratischen Partei nahestehen, findet man vor allem solche, die dazu aufrufen, nicht länger die Augen vor den Problemen zu verschließen. Unter der Überschrift „Boudins Abberufung beweist, dass die Demokraten das Vertrauen der Öffentlichkeit beim Thema Kriminalität verloren haben“ erklärt James Hohmann, Kolumnist der Washington Post, die Gründe für den Erfolg des Recall-Referendums:
„Im vergangenen Jahr starben in San Francisco mehr Menschen an Fentanyl-Überdosen als an Covid-19, doch der Distriktstaatsanwalt Chesa Boudin verurteilte 2021 keine einzige Person wegen des Handels mit dem tödlichen Opioid. Dies erklärt, warum eine der liberalsten Städte Amerikas am Dienstag mit überwältigender Mehrheit dafür gestimmt hat, Boudin abzuberufen und den Weich-gegenüber-dem-Verbrechen-Ansatz der Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Boudins Niederlage ist der jüngste Weckruf für die Demokraten, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Strafjustiz verloren haben und die Ängste der Wähler angesichts der Kriminalität auf eigene Gefahr herunterspielen.“
„Kalifornien ruft nach Ordnung“
Die New York Times schreibt, eine der Erkenntnisse der Abstimmungen von Dienstag sei: „Kalifornien ruft nach Ordnung.“:
„Geplagt von der Pandemie, übersät mit Zeltlagern, verängstigt von Raubüberfällen und anti-asiatisch-amerikanischen Hassverbrechen, haben die Wähler in zwei der progressivsten Städte am Dienstag eine Botschaft gesendet: Stellt die Stabilität wieder her.“
Kolumnist Ronald Brownstein kommentiert in The Atlantic:
„Die Ergebnisse in Kalifornien – zusammen mit dem Sieg des ehemaligen Polizisten Eric Adams bei der New Yorker Bürgermeisterwahl im vergangenen Herbst – senden ein Signal an die Demokraten, dass die Wähler selbst in einigen ihrer zuverlässigsten Hochburgen eine Wende hin zu einer Politik zur Bekämpfung von Kriminalität und eine Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung verlangen.“
Das Magazin Newsweek zitiert Carly Cooperman, eine Demoskopin im Dienst der Demokratischen Partei, mit der Einschätzung, die Ergebnisse in San Francisco und Los Angeles seien „im Einklang mit dem Trend, den wir landesweit sehen: dass Wähler das Gefühl haben, dass sich die Demokratische Partei zu weit nach links bewegt hat, und wollen, dass gewählte Vertreter zur Mitte zurückkehren.“