Oswald Metzger, Gastautor / 15.11.2014 / 11:59 / 3 / Seite ausdrucken

Politische Amnesie in Zeiten der Großen Koalition

Es ist ein vertrautes Ritual: Immer wenn der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung, im Volksmund die fünf Wirtschaftsweisen genannt, im Herbst sein Jahres-gutachten der Kanzlerin überreicht, hagelt es zuverlässig Kritik von den Sozialdemokraten. Die SPD-Generalsekretärin stellte in dieser Woche praktisch die Existenzfrage für die amtlichen Regierungsbe-rater, als sie die wissenschaftliche Kompetenz der regierungskritischen Expertenmehrheit harsch be-zweifelte. Und SPD-Fraktionschef Oppermann griff zum Verdikt „neoliberal“, um die kritischen Kern-aussagen der Wirtschaftsweisen zu diskreditieren. Doch auch die Kanzlerin reagierte angefasst, weil die Wirtschaftsweisen den Mindestlohn als mitursächlich für die verhaltene Entwicklung des Brutto-inlandsprodukts bezeichnen. Mit ihrer barschen Replik, wie könne ein gesetzlicher Mindestlohn, der erst ab 1. Januar 2015 greife, schon heute für die konjunkturelle Schwäche verantwortlich gemacht werden, offenbarte sie eine eklatante Unkenntnis über die Wirkungsweise polit-ökonomischer Er-wartungssteuerung.

Im politischen Berlin herrscht in Zeiten der Großen Koalition mehr als nur eine partielle politische Amnesie. Die Wirtschaftsweisen betonen in ihrem aktuellen Herbstgutachten einfache Binsenweis-heiten, die bis zur Bildung der Großen Koalition viele Jahrzehnte lang auch zum Allgemeingut in der CDU-Programmatik gehörten. Vertrauen in die Marktprozesse, keine staatliche Einmischung in die Lohnfindung etwa. Oder die Erkenntnis, dass der demografische Wandel unpopuläre Entscheidungen in den sozialen Sicherungssystemen erfordert: zum Beispiel die Erhöhung des Renteneintrittsalters, den Verzicht auf teure Altersteilzeitmodelle, aber auch Elemente der Selbstbeteiligung in der Kran-ken- und Pflegeversicherung.

Noch in der letzten Großen Koalition wurde die Rente mit 67 eingeführt, dem Sozialdemokraten Franz Müntefering vor allem sei dafür Dank. Heute die „Rolle rückwärts“ mit der abschlagsfreien Rente mit 63, die von den Wirtschaftsweisen zu recht scharf attackiert wird. Eine neue soziale Leis-tung wie die Mütterrente, die eine kleiner werdende Erwerbsgeneration mit immer höheren Beiträ-gen wird bezahlen müssen – unvorstellbar noch vor wenigen Jahren und ebenfalls auf der Vorwurfs-liste des Sachverständigenrats. Diese Große Koalition hat unserer Volkswirtschaft und vor allem der jungen Generation eine Herkuleslast aufgebürdet, die das Potentialwachstum in Deutschland nach-haltig reduzieren wird.

In der Rentenpolitik rechnet man sich die Zukunft ohnehin aufgrund der Gegenwart zu schön. Im Au-genblick sterben noch mehr Rentner als Neurentner in den Ruhestand eintreten. Es herrscht so etwas wie die demografische Ruhe vor dem Sturm. Die geburtenstarken Jahrgänge ab 1950 drängen aber in etwa zwei Jahren mit jährlich wachsender Dramatik in den Ruhestand. Dann übersteigen die Ausga-ben die Einnahmen Jahr für Jahr. Die Versicherungsbeiträge werden ständig nach oben angepasst werden müssen. Die gesetzlich verankerte 22%-Marke bei den Rentenbeiträgen wird nicht zu halten sein. Für die Beschäftigten bleibt weniger vom Bruttoeinkommen und das Rentenniveau sinkt weiter. Der Bundesfinanzminister wird die Bundeszuschüsse aus dem Haushalt erhöhen müssen, statt sie wie heute als Deckungsbeitrag für die angestrebte „schwarze Null“ zu senken. Es macht mich fassungslos, dass alle regierungsamtlichen Hochrechnungen der Rentenentwicklung im Jahr 2030 enden, obwohl sich aufgrund der Altersstruktur unserer Gesellschaft die Dramatik in den Jahren danach noch weiter verschärft.

Ja, die Wirtschaftsweisen legen den Finger in offene Wunden dieser Regierung. Doch statt Nachdenk-lichkeit ernten sie scharfe Kritik. Einen Resonanzverstärker für die Sachverständigenratskritik sucht man im Deutschen Bundestag vergeblich. Die Linke belegt die Wirtschaftsweisen ebenfalls mit dem neoliberalen Bann. Und die Grünen? Marktwirtschaftliches Engagement muss sich dort erst innerpar-teilich wieder Gehör verschaffen. Öffentliche Interventionsfähigkeit ist so nicht zu erzielen. Wirt-schaftspolitik in Zeiten der Großen Koalition – ein Trauerspiel!

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Leserpost

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Johann Prossliner / 16.11.2014

Das ist in der Tat erstaunlich, erschreckend, unfassbar! “Schwarze Null” und “Schuldenbremse” erinnern an Schwarze Magie und Dame ohne Unterleib. Und “die Politik” kommt vom Tagesgeschäft nicht einmal zu einer Wochenagenda.

Jens Sylvester Wesemann / 16.11.2014

Ich bin skeptisch, was die Marktprozesse betrifft. Sieht man da nicht etwas in einem besseren Licht, als es tatsächlich ist? 2008/2009 war der Ruf nach der Hilfe durch den Staat von seiten der freien Wirtschaft nicht zu überhören, wenn ich mich richtig erinnere.

Karl Schurz / 15.11.2014

Wie auch immer. Die eigene Altersvorsorge in die Hände des Staates zu geben war, ist und bleibt ein Fehler. Selbst schuld.

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