Joseph S. Nye, obgleich durchaus einflussreich, dürfte den wenigsten Deutschen bekannt sein. Er ist ein auf dem Gebiet internationaler Beziehungen tätiger amerikanischer Politikwissenschaftler, der das Prinzip der asymmetrischen und komplexen Interdependenzen entwickelt hat.
Im Jahr 2005 schrieb er außerdem ein Buch mit dem Titel „Soft Power“, das sich mit den Methoden auswärtiger Politik auseinandersetzte und erstmals analysierte, dass Staaten auch mit der sogenannten „sanften Macht“ etwas bewirken können. Primäre Quelle dieser sanften Macht seien Kultur, die politischen Werte und die auswärtige Politik.
Dies ist in Deutschland, einem Land, das vermeintlich keine eigene Kultur außerhalb der Sprache hat, schwierig. Womöglich ist deshalb außer Appeasement und Belehrung keine auswärtige Politik festzustellen. Interessant ist aber, dass diese sanfte Macht im Gegensatz zur hard power definiert wird. Unter hard power versteht man die Mittel des unmittelbaren Zwangs, dazu gehört sowohl der Einsatz militärischer wie auch wirtschaftlicher Waffen.
Zwei Arten, Burgen zu erobern
Dies ist naheliegend, denn jeder weiß, dass man z.B. Burgen militärisch durch Erstürmen oder aber wirtschaftlich durch Belagerung und Aushungern erobern konnte. Tatsächlich gelten nach wie vor im Rahmen internationaler Politik militärische und wirtschaftliche Sanktionen in gleichem Maße als härteste Waffen, wobei Wirtschaftssanktionen ethisch noch fragwürdiger sind als militärisches Eingreifen, treffen sie doch vor allem die Ärmsten und Schwächsten in den betroffenen Ländern zuerst und am schlimmsten.
Beklagt man zu recht die Kollateralschäden militärischer Aktionen, so sind bei Wirtschaftssanktionen die Unschuldigen von vornherein Hauptleidtragende der Maßnahmen. Sie werden instrumentalisiert, um die Herrschenden durch ihr Leid oder einen auf Verzweiflung beruhenden Aufstand gefügig zu machen.
Diese Arten von Macht gelten aber auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung. Die Bürger werden durch zwei Arten von hard power bedrängt. Zum einen von dem Bereich, den wir als Sicherheit und Ordnung bezeichnen, der in entsprechenden Gesetzen verankert ist. Neben dem Strafgesetzbuch gibt es zahlreiche bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeiten, die sogar zu Erzwingungshaft führen können.
Sanktionen gegen die eigene Bevölkerung
Daneben setzt der Staat aber auch gezielte Wirtschaftssanktionen nicht nur gegen Schurkenstaaten, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung ein. Dabei handelt es sich um die sogenannten Lenkungsabgaben, mit denen das Verhalten der Bürger gezielt gesteuert, mitunter auch bestraft wird.
Geld ist Freiheit, der Entzug von Geld nimmt dem Bürger damit höchst effektiv die Möglichkeit, frei zu entscheiden und zu handeln. Daher werden diese Maßnahmen sehr häufig zur Verhaltenssteuerung eingesetzt.
Das war nicht immer so. Im Kaiserreich waren Lenkungsabgaben weitgehend verpönt, die Einkommenssteuer war niedrig, sie betrug zum Beispielin Preußen nur 4 Prozent. Der Großteil des Steueraufkommens wurde durch Verbrauchssteuern erzielt.
Auch bis Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war es in der Bundesrepublik höchst umstritten, ob Steuern in einem freiheitlichen Staat zusätzlich zu den Straf- und Ordnungsmitteln als „Peitsche“ gegen das Volk eingesetzt werden dürfen, denn bei Steuern handelt es sich eigentlich nur um öffentliche Abgaben, die von einem staatlichen Gemeinwesen, also den Gebietskörperschaften (Bund, Länder, Gemeinden) erhoben werden, um die staatliche Aufgabenerfüllung sicherzustellen.
Der moderne Staat
Bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1984 bestand die weit verbreitete Auffassung, der Staat dürfe den Bürger nicht durch und mit Sanktionen lenken, schon gar nicht als Hauptzweck der Steuer. Der Staat sei nicht der Erzieher des Bürgers, sondern lediglich Diener des Volkes. Lenkungssteuern würden den Diener zum Herrn machen und damit zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse führen.
Der Staat hat Verbrechen und Vergehen zu ahnden, dies ist seine originäre Aufgabe, nicht aber mündige Bürger nach eigenen Wünschen zu formen. Manche Finanzverfassungsrechtler befürchteten sogar, es käme zu einem Dammbruch, wenn man dies zuließe. Diese Streitfrage war mehrfach Gegenstand verfassungsgerichtlicher Klärung, das Gericht teilte die Bedenken nicht. Als Rechtfertigung diente der „moderne Staat“:
Der Gesetzgeber darf seine Steuergesetzgebungskompetenz grundsätzlich auch ausüben, um Lenkungswirkungen zu erzielen (vgl. BVerfGE 84, 239 <274>; 93, 121 <147>). Der moderne Staat verwaltet nicht nur durch rechtsverbindliche Weisung, sondern ebenso durch mittelbare Verhaltenssteuerung. Im Rahmen eines auf Mitwirkung angelegten Verwaltens kann ein Steuergesetz verhaltensbeeinflussende Wirkungen erzielen. Es verpflichtet den Steuerschuldner nicht rechtsverbindlich zu einem bestimmten Verhalten, gibt ihm aber durch Sonderbelastung eines unerwünschten oder durch steuerliche Verschonung eines erwünschten Verhaltens ein finanzwirtschaftliches Motiv, sich für ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu entscheiden. Hier.
Der altmodische Staat
Die Kategorie „moderner Staat“ ist naturgemäß keine des Rechts, sie ist überhaupt schwer definierbar. Letztlich ersetzt dieser Begriff nur die eigentlich notwendige Begründung. Es könnte durchaus sein, dass Bürger lieber einen „altmodischen Staat“ hätten, der ihnen deutlich mehr Geld zur freien Verfügung ließe. Dieses wäre letztlich eine Entscheidung, die in einer Demokratie der Souverän zu treffen hätte.
Tatsächlich hat sich die Befürchtung, dass sich die Einführung von Lenkungsabgaben als sogenannte schiefe Ebene erweisen würde, bewahrheitet: Von der Ausnahme wurden sie zur Regel. Ob der Staat seine Bürger ähnlich wie Schurkenstaaten sanktionieren dürfe, wenn sie sich zwar nicht kriminell, aber doch nicht so verhalten, wie die Herrscher das gerne hätten, wird nicht einmal ansatzweise problematisiert. Die Diskussion dreht sich nur noch darum, ob der konkrete Zweck allgemein anerkannt wird und welche Sanktion es sein soll. Das Koordinatensystem hat sich zunächst unmerklich, im Laufe der Zeit aber enorm verschoben. Der Staat hat seine Macht immer weiter ausgedehnt.
Ähnliches erleben wir in der Corona-Pandemie. Natürlich muss der Staat handeln, dazu gehören auch Restriktionen. Aber jede Grundrechtseinschränkung muss verhältnismäßig sein, d.h. jede Maßnahme muss geeignet, erforderlich und zumutbar sein.
Wenn Grundrechte zu Privilegien werden
Der Staat darf nicht mit der sprichwörtlichen Bazooka alles niedermähen, was ihm in die Quere kommt. Dass aber die Politik derzeit sonderlich zielgenau handelt, behaupten nicht einmal die treuesten Anhänger.
Jetzt lesen wir, dass Geimpfte keine Privilegien erhalten sollten. Die Ausübung von selbstverständlichen Grundrechten wird als Privileg angesehen und ohne schlechtes Gewissen auch so bezeichnet.
Wie schnell sich die Regel, dass Grundrechtseingriffe begründet werden müssen, in ihr Gegenteil verkehrt! Müssen die weitgehenden Beschränkungen unserer Grundrechte nur lang genug andauern, damit deren Entzug zur Normalität und es allgemein anerkannt wird, dass deren Gewährung ein Privileg ist? So wie Lenkungsabgaben heute als normal angesehen werden?
Wenn das Koordinatensystem unserer Grundwerte und Grundrechte derart verschoben ist, dann ist unser Grundgesetz das Papier nicht wert, auf dem es steht.
(Das Foto oben entstand im Umfeld einer anonymen Kunstaktion in Frankfurt und diente der satirischen Überspitzung des Themas Impfen)