Politik als Gottesdienst, geleitet von Meinungs-Priestern

Von Giuseppe Gracia.

Seit dem Brexit sind nicht nur aus der EU-Spitze Stimmen zu hören, die sich erschüttert zeigen über diesen Austritt aus „unserer Wertegemeinschaft“. Das klingt oft so, als spräche hier eine Glaubenskongregation, die über politische Dogmen wacht. Über Glaubenssätze, deren Missachtung die Exkommunikation aus der Kirche anständiger Nationen nach sich zieht. In besonderen Fällen droht die ewige Verdammnis, wie momentan den Briten. Wie lauten die herrschenden Dogmen? Zum Beispiel: die EU, gegründet 1992, ist identisch mit dem Kontinent Europa, darum ist jedes Votum gegen die EU ein Votum gegen Europa, ebenso ein Votum gegen den Wohlstands- und Friedensdienst der amtierenden EU-Hirten. Oder: nur EU-Integration ist pro-europäisch und tut uns gut. Oder: die Kurie in Brüssel verwaltet die Grundwerte Europas am besten und muss, um die Einheit zu wahren, Häresien verfolgen.

Bedenklich ist diese Überhöhung politischer Positionen und Institutionen auch deswegen, weil sie nicht nur die EU betrifft, sondern viele gesellschaftliche Diskurse. Ob Spannungen rund um Angela Merkel oder Orban, ob Putin, Obama, Erdogan oder Papst Franziskus. Ob Flüchtlingskrise, Terror, Nationalismus, USA oder Nahost: immer wieder erleben wir Repräsentanten, die es nicht mehr nötig haben, sich selbstkritisch dem Gegenargument zu stellen, sondern die Verkündigungen aus dem Himmel fertiger Überzeugungen präsentieren. Das geschieht in Talkshows ebenso wie im Parlament oder im Wahlkampf, im Parteienmarketing wie im Mediengeschäft. Die Politik als Gottesdienst, geleitet von Meinungs-Priestern, die das gute Leben für alle kennen. Staats- und Wirtschaftsführung? Sozialengagement und Kulturbildung? Alles eine Liturgie von Auserwählten, zum Wohl unserer Gesellschaft, die längst nicht so liberal ist, wie sie glaubt.

Durch Verweis auf höhere Werte macht man sich unangreifbar

In der Antike waren die römischen Kaiser Götter mit Hoheit über alle Werteordnungen. Individuelle Freiheit? Undenkbar. Erst mit der Aufklärung setzte sich die Trennung von Autorität und Kult durch, von Staat und Religion, Macht und Moral. Heute dürfen Politiker eigentlich keine Werte mehr verordnen. Es wäre ihre Aufgabe, stellvertretend für uns zu handeln, aber ohne sich zur moralischen Mutter- oder Vaterinstanz aufzublähen. Dennoch tun viele Amtsinhaber genau das. Durch Verweis auf höhere Werte machen sie sich unangreifbar und dämonisieren politische Alternativen. Als überlegene Gesellschaftsversteher wollen sie das Volk erziehen, statt es zu vertreten. Ähnlich wie Journalisten, die statt Information publizistische Lehrstücke bieten und unerwünschte Ansichten ahnden.

Und doch darf der moderne Rechtsstaat niemanden auf Werte verpflichten, auch nicht auf eine sogenannte „Leitkultur“. Verpflichtend sind nur Gesetze, und wer diese übertritt, wird für sein Handeln bestraft, nicht für seine Überzeugungen. Dazu schrieb der Philosoph Robert Spaemann bereits 2001: „Ein Staat, der sich der individuellen Freiheit verpflichtet sieht, verlangt die Befolgung seiner Gesetze, nicht die Übereinstimmung mit Werten, welche dem Rechtssystem zu Grunde liegen. Das ist das Fundament moderner Freiheit, unter Schmerzen im Zuge der Religionskriege erobert. Deshalb ist es gefährlich, vom Staat als ‚Wertegemeinschaft’ zu sprechen, denn die Tendenz besteht, das säkulare Prinzip zu Gunsten einer Diktatur der politischen Überzeugungen zu untergraben. Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft. Die Werte - Nation, Rasse, Gesundheit - hatten dem Gesetz gegenüber immer den Vorrang. Das Europa von heute sollte sich von diesem gefährlichen Weg fernhalten.“

Gefragt ist eine Toleranz, die grosse Differenzen aushalten kann

Das ist hochaktuell. Unsere Gesellschaft wird immer pluralistischer. Jürgen Habermas, ein wichtiger Denker des Liberalismus, sieht in der Gegenwart eine zunehmende „weltanschauliche Polarisierung“. Das ist logisch: im Rahmen des Grundgesetzes darf jeder seinen Glaubens- und Wertekanon haben. Das erhöht die Spannungen zwischen politischen, religiösen und kulturellen Lagern. Der Erhalt des inneren Friedens wird schwieriger. Gefragt ist eine Toleranz, die grosse Differenzen aushalten kann, die alle auf das Grundgesetz verpflichtet, ansonsten aber frei lässt. Eine Toleranz, die keine harmonisierende Volksgesinnung fordert. Sondern die religiöse Überhöhungen des Politischen gerade ablehnt und die Trennung zwischen Macht und Moral verteidigt. Im Sinn des Aufklärers Thomas Hobbes, der zu bedenken gab, dass wir der Staatsmacht nicht als Teil einer Wertegemeinschaft, sondern einer Rechtsgemeinschaft gehorchen, und zwar wegen des inneren Friedens. Mit diesem pragmatischen Ansatz lässt sich eine liberale Gesellschaft verteidigen. Ohne politischen Gottesdienst und ohne das Sakrament kollektiver Werte.

Giuseppe Gracia ist freier Autor und Informationsbeauftragter des Bistums Chur. Er schreibt Romane und u.a. für NZZ, Zürcher Tagesanzeiger und Weltwoche.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Thomas Schade / 04.07.2016

Ihr Artikel trifft einen wunden Punkt unserer gesellschaftlichen Debatte. Als praktizierender Katholik, der auch SPD-Mitglied und Gewerkschafter ist, stelle ich in vielen Debatten und Diskussionen fest, dass gerade, die Nicht-Zugehörigkeit vieler Menschen zu “Überzeugungsgruppen” oft darin mündet, dass sie keinen persönlich entwickelten Halt und keine eigene Haltung zu Fragen des Zusammenlebens mehr haben. Sie verstehen nicht, dass sie selbst für ihre Überzeugungen verantwortlich sind und diese dann in einer offenen Gesellschaft teilen müssen. Das ist vielen zu anstrengend und sie überlassen Predigern wie Gauck die Deutungshoheit über Gut und Böse.

Detelf K. / 04.07.2016

Der Kapitalismus hat gewonnen. Rechts - links - Betrachtungen sind nicht mehr angemessen. Oben und unten sind die neuen/alten Dimensionen. Diktatur in weltlicher oder religiöser Ausprägung ist im Ergebnis gleich. Wertegemeinschaften sind, betrachten wir die Geschichte, immer gefährlich. Recht-Staat und demokratische Beteiligung der Menschen sind in begrenzten Dimmensionen/Landmassen die an zu strebende Form des Zusammenlebens. Europa/Asien/Afrika/Amerika .... Welt-Land/Menschen sind definitiv zu große Dimmensionen. Polarität - Gegenkraft darf niemals fehlen. Der Regelkreislauf harmonisiert die Gesamtwelt in einem ständigen Rhytmus (Zeit). Tausende Generationen Menschen könnten es berichten. Zu kurz so ein Leben.

Delef K. / 04.07.2016

Der National-Sozialismus war/ist eine linke Ideologie. National und Sozialistisch. Rechte Kräfte bauen Rechtsordnungen, linke Kräfte Werteordnungen.

Jan Himp / 03.07.2016

Nun, es kpmmt ja nicht von ungefähr, dass eben jene Meinungspriester Volksabstimmungen zu Themen, wie beispielsweise dem Brexit, radikal ablehnen und kritisieren. Ich habe schon lange nicht mehr das Gefühl in einer Demokratie zu leben, sehe keinen Unterschied mehr zwischen angeblich (oder auch tatsächlich) gelenkten Demokratien ala Putin oder Erdogan und der unseren. Wurde Hitler wirklich vom Volk gewählt ... waren es nicht vielmehr Parlamentarier die ihn zur absoluten Macht verhalfen? ... ist so eine Frage die mich zunehmend beschäftigt. Mir scheint die (von den Meinungspriestern eben deswegen oft kritisierte) Schweiz die weit und breit einzige wirkliche Demokratie zu sein.

Oliver Schwarzenbach / 02.07.2016

In Stein gemeisselt.

Martin Wessner / 02.07.2016

“Links sein” war und ist in Deutschland der reflexhafte Antagonismus zur faschistischen Ideologie. Was unter den Nazis grundfalsch und abgrundtief böse war, so die Schlussfolgerung, muss als radikales Gegenteil dazu das einzig Wahre und Gute darstellen. Diese neuen Paradigmen haben sich aber in ihrer(n) extremistischen Ausformung(en) im Lebensalltag der Menschen als Misserfolg erwiesen und damit angreifbar gemacht. Der Sozialismus ist an der Realität gescheitert. Multikulti -so hat das zumindest Kanzlerin Merkel konsterniert- ist gescheitert, tja, und der “Europäismus”, als Ideologie(Derivat des Marxismus) oder als Glaubenslehre, der muss nach dem Brexit nun auch um seine Legitimität kämpfen. Kein Wunder also, dass Politiker und Journalisten, die sich als progressiv wähnen, in regelrechte Panik verfallen, denn wenn all diese Säulen ihres Weltanschauungsgebäudes zusammen brechen, wenn “die Lehren, die wir Deutschen aus unserer unseligen Vergangenheit gezogen haben”, sich als Irrglaube erweisen, was bliebe dann noch vom einstmals stolzen “Links sein” übrig? Wenn man also aufgrund der vielen Fehlschläge und der Desillusionierungen die Leute nicht mehr rationalen Argumenten überzeugen kann, weil diese als falsch erkannt wurden, so bleibt nur noch die Emotionalisierung in der Form von Beschimpfungen und Schmähungen des politischen Gegners und in der Form von jovialen Belehrungen der Staatsbürger als Mittel der Wahl übrig, um die Leute auf die eigene Seite zu bringen, bzw. um die Reihen zu schließen. Wer die Politik als Gottesdienst zelebriert und Meinungspriester nötig hat, um sein Wertesystem zu verkaufen, der gibt damit indirekt zu, dass die Inhalte, die er feilbietet, minderwertig sind. Ja, minderwertig. Muss man wohl so sagen. Denn wäre sie hochwertig, so hätte er diese manipulativen Methoden garnicht nötig. Wenn sich also TV-Oberlehrer Claus Kleber genötigt sieht, mit engierten moralischen Zeigerfinger von der “Heute Journal”-Kanzel herunterzupredigen, anstatt über die Tagesereignisse souverän, sachlich, distanziert und neutral-objektiv zu berichten, dann ist das letztlich doch nur der traurige Beweis für die Schwäche seiner Apologie, die er den Fernsehzuschauern ungefragt aufdrängt. Ist es nicht so?!

Rolf W. Puster / 02.07.2016

Der neue Beitrag spricht dafür, dass mein Beitrag vom März 2013 <http://www.cicero.de/berliner-republik/politik-als-saekulare-religion/53958> leider unverändert aktuell ist.

Teska / 02.07.2016

Christoph Behrends kann ich nur zustimmen. Die Verabsolutierung der Werte durch politische Eliten ist gefährlich, nicht die Diskussion um die Werte an sich. Z.Zt. werden die gewachsenen Werte in Deutschland durch die Massenzuwanderung angegriffen, ein Phänomen, das nicht durch Relativismus unsichtbar gemacht werden kann.

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