Ohne Abstimmung wurde jüngst die UN-Convention against Cybercrime durchgewunken, eine Konvention, die weitgehende Überwachungsverpflichtungen und Datenaustauschpflichten für die Mitgliedstaaten enthält, auch wenn es gar nicht um Straftaten geht.
Die Vereinten Nationen haben der Menschheit kurz vor Jahresende noch ein besonderes Weihnachtsgeschenk gemacht: Just am 24. Dezember verabschiedeten sie ohne Abstimmung ein Übereinkommen gegen Cyberkriminalität (Convention against Cybercrime). Dadurch soll die Weltgemeinschaft angeblich vor digitalen Bedrohungen geschützt werden. UN-Generalsekretär António Guterres begrüßte die Annahme des Übereinkommens. „Dieser Vertrag ist ein Beweis für den multilateralen Erfolg in schwierigen Zeiten und spiegelt den kollektiven Willen der Mitgliedstaaten wider, die internationale Zusammenarbeit zur Prävention und Bekämpfung von Cyberkriminalität zu fördern“, sagte der Sprecher des Generalsekretärs in einer Erklärung. Die Konvention schaffe eine beispiellose Plattform für die Zusammenarbeit beim Austausch von Beweisen, dem Opferschutz sowie dem Schutz der Menschenrechte im Internet. Guterres forderte alle Staaten auf, dem Übereinkommen beizutreten und es „gemeinsam mit relevanten Interessengruppen“ umzusetzen.
Kritiker hatten hingegen im Vorfeld davor gewarnt, dass die Konvention weitgehende Überwachungsverpflichtungen und Datenaustauschpflichten für die Mitgliedstaaten vorsieht, dabei jedoch den Schutz und den Stellenwert der Menschenrechte weltweit schwächt.
Das Abkommen ähnele der Cybercrime-Konvention des Europarates, nur ohne wirksame Garantien für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Auch bei Delikten, die nichts mit Informations- und Kommunikationstechnologien (Information and Communications Technologies, kurz: ICT) zu tun haben, greift nämlich das globale Rechtshilfeabkommen im Fall von schweren Straftaten. Behörden sind demnach verpflichtet, anfragende Kollegen aus anderen Ländern umfassend zu unterstützen und ihnen den Zugriff auf gespeicherte oder in Echtzeit erhobene Daten zu erlauben. Als schwere Straftat gilt alles, was im anfragenden Land mit mindestens vier Jahren Haft bestraft werden kann – was in den einzelnen Ländern jedoch auf sehr unterschiedliche Straftaten zutrifft. Noch dazu sind in vielen Ländern richterliche Anordnungen für Überwachungsanforderungen nicht notwendig.
Zwar wurde die ursprüngliche Version des Abkommens im Laufe der mehrjährigen Verhandlungen noch um Zusätze ergänzt, doch die grundsätzliche Problematik bleibt bestehen: Das Abkommen dient nicht nur dem erklärten Kampf gegen sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet, gegen ausgeklügelte Online-Betrügereien, Drogendeals, Waffenschmuggel, Menschenhandel und Geldwäsche, sondern eröffnet darüber hinaus weitreichende Möglichkeiten für den Zugriff auf Daten, wodurch beispielsweise auch Regierungskritiker leichter überwacht werden könnten.
"Unverzügliche Sicherung bestimmter Daten"
Erst im November hatte übrigens auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Cyberangriffen auf das Gesundheitswesen gewarnt und angekündigt, dass sie im kommenden Jahr neue Leitlinien zur Cybersicherheit und zum digitalen Datenschutz vorlegen werde. Da Cyberangriffe genau wie Viren keine Grenzen kennen würden, sei eine internationale Zusammenarbeit unerlässlich, hob WHO-Chef Tedros hervor und forderte die UN-Mitgliedstaaten dazu auf, nicht nur Resolutionen zu Fragen der physischen Sicherheit zu verabschieden, sondern auch die globale Cybersicherheit zu stärken.
Das offizielle UN-Dokument zum Abkommen umfasst in englischer Sprache nun rund 50 pdf-Seiten. Es liegt in sechs Sprachen vor. Deutsch zählt nicht dazu. Zwar ist etwa in Artikel 5 festgehalten:
„Dieses Übereinkommen gibt einem Vertragsstaat nicht das Recht, im Hoheitsgebiet eines anderen Staates die Ausübung von Hoheitsrechten und die Wahrnehmung von Aufgaben zu übernehmen, die nach dessen innerstaatlichem Recht ausschließlich den Behörden dieses anderen Staates vorbehalten sind.“
Doch das Recht, die Freigabe von Daten zu fordern, bleibt dadurch unbenommen.
Auch folgende Beteuerung in Artikel 6 klingt fast nach einer Aufzählung der Möglichkeiten, die sich durch das Abkommen ergeben. So heißt es:
„Dieses Übereinkommen ist nicht so auszulegen, als gestatte es die Unterdrückung von Menschenrechten oder Grundfreiheiten, einschließlich der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Religions- oder Weltanschauungsfreiheit, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit.“
Nicht zuletzt geht es auch um Datenspeicherung. In Artikel 25 wird dazu ausgeführt:
„Jeder Vertragsstaat trifft die erforderlichen gesetzgeberischen und anderen Maßnahmen, um seine zuständigen Behörden in die Lage zu versetzen, die unverzügliche Sicherung bestimmter elektronischer Daten, einschließlich Verkehrsdaten, Inhaltsdaten und Teilnehmerinformationen, die mittels eines informations- und kommunikationstechnischen Systems gespeichert wurden, anzuordnen oder auf ähnliche Weise zu erwirken, insbesondere wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die elektronischen Daten besonders anfällig für Verlust oder Veränderung sind.“
Dabei ist auch die Durchsuchung und Beschlagnahme von gespeicherten elektronischen Daten durch Behörden vorgesehen (Artikel 28).
Zur Weitergabe von personenbezogenen Daten ist in Artikel 36 zu lesen:
„Um nach diesem Übereinkommen erlangte personenbezogene Daten an einen Drittstaat oder eine internationale Organisation zu übermitteln, notifiziert ein Vertragsstaat dem ursprünglichen übermittelnden Vertragsstaat seine Absicht und ersucht ihn um Genehmigung. Der Vertragsstaat übermittelt solche personenbezogenen Daten nur mit Genehmigung des ursprünglichen übermittelnden Vertragsstaats, der verlangen kann, dass die Genehmigung in schriftlicher Form erteilt wird.“
"Höchstmaß an Rechtshilfe"
Die Konditionen von Auslieferungen von Straftätern an andere Länder sind in Artikel 37 geregelt. Einerseits wird unmissverständlich festgehalten:
„Die Vertragsstaaten bemühen sich vorbehaltlich ihres innerstaatlichen Rechts um die Beschleunigung der Auslieferungsverfahren und die Vereinfachung der diesbezüglichen Beweiserfordernisse.“
Andererseits wird eingeschränkt: „Dieses Übereinkommen ist nicht so auszulegen, als enthalte es eine Verpflichtung zur Auslieferung, wenn der ersuchte Vertragsstaat stichhaltige Gründe für die Annahme hat, dass das Ersuchen zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person wegen ihres Geschlechts, ihrer Ethnie, ihrer Sprache, ihrer Religion, ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Herkunft oder ihrer politischen Überzeugungen gestellt worden ist.“ Letztlich könnte es jedoch darauf hinauslaufen, dass Länder dazu verpflichtet werden könnten, Dissidenten oder politisch Verfolgte auszuliefern.
Weit auslegbar ist auch die Aussage in Artikel 40:
„Die Vertragsstaaten gewähren einander ein Höchstmaß an Rechtshilfe bei Ermittlungen, Strafverfolgungen und Gerichtsverfahren.“
Was genau ist mit Höchstmaß gemeint? Die zu gewährende Rechtshilfe kann jedenfalls für zahlreiche Zwecke beantragt werden: Aufnahme von Beweisen oder von Aussagen von Personen; Zustellung von gerichtlichen Schriftstücken; Vollstreckung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie Sicherstellung und Offenlegung elektronischer Daten, die mit Hilfe eines informations- und kommunikationstechnischen Systems gespeichert wurden; Erhebung von Verkehrsdaten in Echtzeit; Abfangen von Inhaltsdaten; Untersuchung von Objekten und Standorten; Bereitstellung von Informationen, Beweisen und Expertenbewertungen; Bereitstellung von Originalen oder beglaubigten Kopien einschlägiger Dokumente und Unterlagen, einschließlich Behörden-, Bank-, Finanz-, Unternehmens- oder Geschäftsunterlagen; Identifizierung oder Aufspüren von Erträgen aus Straftaten, Eigentum oder Tatwerkzeugen; Erleichterung des freiwilligen Erscheinens von Personen im ersuchenden Staat sowie Wiedererlangung von Erträgen aus Straftaten.
Unbeschadet des innerstaatlichen Rechts können die zuständigen Behörden eines Vertragsstaats darüber hinaus einer zuständigen Behörde in einem anderen Vertragsstaat ohne vorheriges Ersuchen Informationen in Strafsachen übermitteln, wenn sie der Auffassung sind, dass diese Informationen der Behörde bei der Durchführung oder dem erfolgreichen Abschluss von Ermittlungen und Strafverfahren behilflich sein könnten. In Anbetracht der höchst unterschiedlichen Rechtssysteme der UN-Mitgliedstaaten, klingt es auch nicht wirklich beruhigend, dass Vernehmungen per Videokonferenz möglich sind:
„Befindet sich eine Person im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats und muss sie von Justizbehörden eines anderen Vertragsstaats als Zeuge, Opfer oder Sachverständiger vernommen werden, so kann der erstgenannte Vertragsstaat auf Ersuchen des anderen Vertragsstaats zulassen, dass die Vernehmung per Videokonferenz stattfindet, wenn es für die betreffende Person nicht möglich oder wünschenswert ist, im Hoheitsgebiet des ersuchenden Vertragsstaats persönlich zu erscheinen. Die Vertragsstaaten können vereinbaren, dass die Vernehmung von einer Justizbehörde des ersuchenden Vertragsstaats durchgeführt wird und dass eine Justizbehörde des ersuchten Vertragsstaats anwesend ist. Hat der ersuchte Vertragsstaat keinen Zugang zu den für die Durchführung einer Videokonferenz erforderlichen technischen Mitteln, so können diese vom ersuchenden Vertragsstaat im gegenseitigen Einvernehmen zur Verfügung gestellt werden.“
"Unverzügliche Unterstützung bei Ermittlungen"
UN-Generalsekretär Guterres mischt auf jeden Fall immer mit. In Artikel 41 ist festgesetzt:
„Jeder Vertragsstaat benennt eine rund um die Uhr erreichbare Kontaktstelle, um die unverzügliche Unterstützung bei konkreten strafrechtlichen Ermittlungen, Strafverfolgungen oder Gerichtsverfahren in Bezug auf in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen umschriebene Straftaten oder bei Erhebung, Beschaffung und Sicherung von Beweismitteln in elektronischer Form (...) in Bezug auf die in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten sowie auf schwere Kriminalität sicherzustellen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen wird über diese Kontaktstellen unterrichtet, führt ein aktualisiertes Verzeichnis der für die Zwecke dieses Artikels benannten Kontaktstellen und übermittelt den Vertragsstaaten jährlich die aktualisierte Liste der Kontaktstellen.“
Insgesamt erklären (Artikel 47) die Vertragsstaaten, dass sie „im Einklang mit ihrem jeweiligen innerstaatlichen Rechts- und Verwaltungssystem eng zusammenarbeiten, um die Wirksamkeit der Strafverfolgungsmaßnahmen zur Bekämpfung der in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten zu erhöhen“. Außerdem sichern sie finanzielle und materielle Hilfe zur Unterstützung der Bemühungen anderer Vertragsstaaten, insbesondere der Entwicklungsländer, bei der Durchführung des Übereinkommens zu. Dabei sollen auch nichtstaatliche Organisationen aus der Zivilgesellschaft (sprich: NGOs und Stiftungen), akademische Einrichtungen und Finanzinstitute einbezogen werden. Beispielsweise sollen Ausbildungsprogrammen und moderne Ausrüstung für Entwicklungsländer bereit gestellt werden. Heißt: Es geht natürlich einmal mehr auch um Einnahmequellen.
Außerdem hat sich jeder Vertragsstaat dazu verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen – einschließlich Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen in Übereinstimmung mit den wesentlichen Grundsätzen seines innerstaatlichen Rechts –, um die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Übereinkommen sicherzustellen. Die Staaten können ausdrücklich sogar auch strengere Maßnahmen als die im Übereinkommen vorgesehenen ergreifen. Die Cybercrime-Konvention soll im kommenden Jahr in Hà Nội offiziell unterzeichnet werden und tritt 90 Tage nach der Ratifizierung durch den 40. Unterzeichner in Kraft. Immerhin kann ein Vertragsstaat das Abkommen durch schriftliche Notifikation an den Generalsekretär der Vereinten Nationen kündigen. Die Kündigung wird ein Jahr nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär wirksam.
Möglicherweise wird eine zukünftige Bundesregierung in einigen Jahren diese Option wählen. Denn eines ist klar: Wenn sogar das deutsche Rechtssystem unter den Vorbehalt von UN-Konventionen gestellt wird, ist die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft in Gefahr. Das Grundgesetz schützt schließlich den Bürger vor dem übergriffigen Staat. 1949 konnte jedoch noch niemand ahnen, dass es einmal nötig sein würde, den Bürger auch vor übergriffigen supranationalen Institutionen zu schützen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes würden sich derzeit jedenfalls im Grab umdrehen.
Quellen:
Mitteilung der Vereinten Nationen
Text des Abkommens (englisch)
Warnung der WHO
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.