Militärische Stärke bleibt unverzichtbar. Zwar weisen Szenarien, in denen invasionsbereite Nachbarstaaten unsere territoriale Integrität bedrohen, gegenwärtig keine hohen Eintrittswahrscheinlichkeiten auf. Aber als exportorientierte Industrienation hat Deutschland Belange auf allen Kontinenten. Interessen, die unsere westlichen Verbündeten in Europa und Nordamerika nach dem Ende der durch den Ost-West-Konflikt geprägten Weltordnung nicht mehr automatisch teilen.
Chinesisches Weltmachtstreben, amerikanische Rohstoffautarkie, russische Hegemonialintentionen, das Erwachen Indiens, der religiöse Fundamentalismus der islamischen Welt und instabile Situationen in vielen afrikanischen und südamerikanischen Ländern sind wesentliche Elemente einer neuen Lage, in der weder die USA noch Frankreich oder Großbritannien ihre Mittel zwangsläufig auch im Sinne Deutschlands einsetzen werden.
Wir müssen selbst über geeignete Aufklärungs- und Kommunikationssysteme verfügen, um eine kritische Lage umfassend bewerten zu können. Wir müssen selbst die erforderlichen Fähigkeiten erwerben, Infrastrukturen und Handelswege zu schützen, Terroristen zu bekämpfen oder Geiseln zu befreien, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir müssen selbst Optionen haben, jederzeit und überall schnell, hochpräzise und mit nicht zu verteidigender Vernichtungskraft zu antworten, um potenzielle Angreifer abzuschrecken.
Nun treffen diese Ansprüche auf Streitkräfte in einem miserablen Zustand. Von einfachen Handfeuerwaffen bis hin zu komplexen Systemen wie Kampfflugzeugen, U-Booten oder Hubschraubern weist ein großer Teil der Ausrüstung substanzielle Mängel auf oder ist schlicht nicht einsatzbereit. Der jüngst veröffentlichte Wehrbericht 2018 schildert diese dramatische Situation.
Noch nicht einmal die Hälfte des Gesamtbestandes an Kampf- und Schützenpanzern ist verfügbar, der Marine fehlen Tanker, der Luftwaffe Transportflugzeuge. Den Kampfpiloten droht der Verlust von Fluglizenzen, da sie nicht mehr ausreichend trainieren können. Sogar die notwendige Bekleidung wird Mangelware. „Selbst beim Einsatz im Rahmen der NATO-Speerspitze Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) konnte die Truppe nicht ad hoc vollständig ausgestattet werden. Nur unter großen Anstrengungen gelang es der Bundeswehr, Basisausrüstung wie Winterbekleidung und Schutzwesten bereitzustellen.“, schreibt der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels. Zudem leidet die Bundeswehr unter erheblichen personellen Defiziten. Etwa 25.000 Dienstposten können derzeit nicht besetzt werden, da es an geeigneten Bewerbern fehlt.
Den Bürgern ist die Bundeswehr zunehmend egal
Im offen zur Schau gestellten Desinteresse einer Bundesregierung, deren Prioritäten auf Kindertagesstätten in Kasernen, Flachbildschirmen in Stuben und flexiblen Arbeitszeiten für Soldaten liegen, findet sich eine Ursache dieser Situation. Die aber letztendlich auch nur Folge eines seit vielen Jahren anhaltenden Prozesses ist, in dem sich Politik und Gesellschaft gegenseitig in ihrer Gleichgültigkeit und Ablehnung bestärken. Wo die Begegnung mit Menschen in Uniform mindestens als irritierend, wenn nicht gleich als unerträglicher Affront bewertet wird, wo öffentliche Gelöbnisse heftige, teils aggressive Proteste hervorrufen, wo man Aufklärung über unsere Armee, beispielsweise an Schulen, als militaristische Indoktrination verteufelt, da kann man als engagierter Verteidigungspolitiker keine Wähler motivieren.
Den Bürgern ist die Bundeswehr zunehmend egal, wenn sie sie nicht ohnehin als überflüssig oder gar gefährlich ansehen. Die Politik verhält sich entsprechend. Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht seit 2011, vordergründig aufgrund mangelnder Möglichkeiten zur Herstellung von Wehrgerechtigkeit, stellt eine logische Konsequenz dieser Entwicklung dar und befeuert sie zusätzlich. Ihre Wiedereinführung könnte nicht nur das Tempo reduzieren, in dem unsere militärische Potenz derzeit verloren geht, sondern diesen Trend sogar umkehren. Wenn sie denn in geeigneter Weise gestaltet wird.
Es geht nicht darum, in einer Dienstzeit von vielleicht zwölf Monaten junge Menschen zu Kriegern zu machen. Es geht auch nicht um den Aufbau eines Reservistenbestandes, aus dem man im Verteidigungsfall schöpfen kann. Die Zeiten, in denen überlegene Truppenstärken auf räumlich begrenzten Schlachtfeldern Kriegsverläufe entscheiden, sind zumindest aus deutscher Perspektive vorerst vorbei.
Uns heute und in Zukunft betreffende bewaffnete Konflikte weisen einen anderen Charakter auf. Sie sind asymmetrisch, dezentral und distanziert. Wir werden auf schlecht ausgerüstete, mangelhaft ausgebildete, aber gleichzeitig skrupellose und fanatisierte Gegner in häufig unwegsamem Terrain treffen, dessen Unübersichtlichkeit Guerilla-Taktiken forciert. Wir werden auf unterschiedlichen Ebenen in informationstechnische Auseinandersetzungen geraten, sei es hinsichtlich der Aufklärung, hinsichtlich der Fernsteuerung hochautomatisierter Waffensysteme oder gar hinsichtlich der öffentlichen, stimmungsbeeinflussenden Kommunikation.
Kein Job für Wehrdienstleistende
Wir werden parallel auf unterschiedlichen Schauplätzen zu unterschiedlichen Zwecken mit unterschiedlichen taktischen Optionen arbeiten müssen. Es sind körperlich und intellektuell hochtrainierte Elitesoldaten, die in einem solchen Umfeld die Verbände für den Fronteinsatz bilden. Ausgestattet mit modernster Ausrüstung, von der Bewaffnung bis hin zur Späh- und Kommunikationstechnik, die ihnen eine bislang ungekannte Kampfkraft verschafft. Kein Job für Wehrdienstleistende, die, wie fast alle anderen Bundeswehrangehörigen auch, niemals in ein Gefecht geraten werden. Denn in der heutzutage benötigten Armee beschäftigt sich der Großteil des Personals damit, perfekte Rahmenbedingungen für die wenigen kämpfenden Einheiten zu schaffen.
Und dabei mitzuwirken, ist vor allem lehrreich. Sicher erinnern sich viele an ihren Wehrdienst als verlorene Zeit. In der man drei Monate mehr oder weniger hart „geschliffen“ wurde, um sich dann weitere zwölf Monate zu langweilen. Das kann natürlich nicht das Modell für die Zukunft sein. Von einer mindestens einjährigen Beschäftigung müssen sowohl die „Staatsbürger in Uniform“ individuell profitieren, als auch die Bundeswehr als Organisation insgesamt.
Junge Männer und Frauen sollten erfahren, was eine Armee ist, wie sie funktioniert, welche Aufgaben sie hat und wie sie diesen nachkommt. Sie müssen dazu einen Einblick in den soldatischen Alltag erhalten, den grundlegende Schulungen im Umgang mit diversen Waffensystemen, Gefechtsübungen im Gelände aber auch theoretische Unterrichtseinheiten vermitteln. Darüber hinaus gilt es, Optionen für den Erwerb diverser, gegebenenfalls zertifizierbarer Qualifikationen zu schaffen, von den Klassikern Erste-Hilfe-Kurs, LKW-Führerschein oder Funkzeugnis bis hin zu komplexeren technischen oder kaufmännischen Fertigkeiten.
Es braucht einen Wehrdienst, nach dessen Ableistung man klüger ist als vorher, besser auf seinen späteren Berufs- und Lebensweg vorbereitet. Nicht zuletzt deswegen, weil neben reinem Faktenwissen auch weiche Faktoren wie Toleranz, Teamfähigkeit, Selbstvertrauen und Selbstdisziplin geschult werden. Außerdem stellt für viele junge Menschen der Wehrsold wahrscheinlich das erste selbsterarbeitete regelmäßige Einkommen dar, eine nicht zu unterschätzende Stimulation des eigenen Leistungswillens für den sich anschließenden Karriereweg.
Wehrdienstleistende sind effektive Multiplikatoren
Der Wehrdienst als ein obligatorisches, bezahltes Praktikum, das sich unmittelbar an eine abgeschlossene Lehre oder die Schullaufbahn anschließt und ergänzende Kompetenzen vermittelt? Die Bundeswehr als Dienstleister für die Zielgruppe der Wehrpflichtigen? Bessere Möglichkeiten, sich selbst als potenziellen künftigen Arbeitgeber darzustellen und gleichzeitig die besten Kandidaten zu identifizieren, kann man unseren Streitkräften nicht bieten. Die gegenwärtigen Rekrutierungsprobleme wären beseitigt. Ein geeigneteres Fundament für eine authentische Imagekampagne ist ebenfalls kaum vorstellbar. Denn Wehrdienstleistende sind effektive Multiplikatoren, sie erzählen in der Familie, gegenüber Freunden und Bekannten, berichten über ihre Erlebnisse in den sozialen Medien. So erhält die Bundeswehr in der breiten Öffentlichkeit wieder ein Maß an Aufmerksamkeit und Wohlwollen, das ihr letztendlich auch die erforderliche politische Unterstützung sichert.
Natürlich wären zur Wiedereinführung einer Wehrpflicht in dieser modernen Form erhebliche Investitionen notwendig. Und ein kultureller Wandel bei der Bundeswehr, die die Ausbildung von Wehrdienstleistenden nicht mehr als nutzlose Last, sondern Chance für sich selbst und für die Gesellschaft insgesamt begreifen muss. Die von der CDU, insbesondere ihrer neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer propagierte allgemeine Dienstpflicht hingegen hilft niemandem. Schon die Prämisse, junge Menschen hätten der Gesellschaft etwas "zurückzugeben", belegt die Absicht, vor allem einzufordern, statt vor allem zu fördern.
Die implizit enthaltene Gleichstellung des Wehrdienstes mit zivilen Ersatzdiensten akzeptiert eine gesellschaftliche Stimmung, in der schon Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit und Sinnzweifel als völlig ausreichende Begründungen für eine Verweigerung angesehen werden. So schafft man es lediglich, jahrzehntelanges Versagen der Politik sowohl im Pflege- als auch im Verteidigungsbereich durch die Ausnutzung der jungen Generation zu kaschieren. Nur Symptome zu mildern, statt Ursachen zu bekämpfen löst keine Probleme. Mit einer Dienstpflicht baut man die weiterhin unverzichtbare militärische Stärke nicht wieder auf, mit einem neugestalteten Wehrdienst dagegen schon.