Erstaunlicherweise haben bisher Firmenbosse in der Europäischen Union nicht gegen die Regulierungswut der Brüsseler Bürokraten protestiert, obwohl sie massiv darunter leiden. Die Manager blieben trotz der offensichtlich wirtschaftsfeind-lichen EU-Erlasse beharrlich stumm. Doch jetzt ist es mit dem Schweigen der Wirtschaft vorbei. Sie kritisiert laut und deutlich die ungehemmte Lust der EU an Vorschriften, stemmt sich gegen den Brüsseler Druck, mit immer neuen Gesetzen und Verordnungen die Einheit in der EU herbeizuzwingen.
Als ökonomische Stimme der Vernunft melden sich zum Beispiel August Oetker (Oetker-Gruppe), Martina Timmermann (Tima GmbH) oder Thomas Selter (Selter GmbH) zu Wort und üben deutliche Kritik an der beengenden Wirtschaftspolitik der EU. Ihre Voten, die auf einen Vorstoss des Thinktank Open Europe zurückgehen, haben sie in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» publiziert. Unterstützt werden sie von Unternehmern aus Schweden, die fordern: «Ett nytt EU behövs!», eine neue EU ist erforderlich.
Der Vorstoss trägt unter anderem die Unterschrift von H&M-Chef Karl-Johan Persson. Dass sich diesem Protest auch Manager aus England angeschlossen haben, ist fast schon selbstverständlich. 52 britische Firmenführer haben in der «Sunday Times» öffentlich zum Umdenken in der EU aufgefordert. Diese Woche wurde zudem bekannt, dass der britische Unternehmer Paul Sykes der UK Independence Party UKIP mehrere Millionen überwiesen hat. Er wolle der UKIP helfen, Grossbritannien aus der EU zu ziehen, begründete er seine Unterstützung für die UKIP.
Die Wirtschaft wendet sich – endlich – gegen die Vorstellung, wonach alle EU-Länder im Gleichschritt marschieren müssten, um immer mehr Brüsseler Vorgaben zu erfüllen. Das habe nicht funktioniert, nicht funktionieren können, sagen die Manager. EU-kritische Unternehmer empfehlen der EU stattdessen das Schweizer Modell, ohne dies allerdings so zu nennen. Die Manager fordern dringend die Respektierung des Subsidiaritätsprinzips: Kompetenzen müssten an dezentrale Einheiten zurückverlagert werden. Mehr Gewicht sollten auch demokratische Prozesse haben, verlangt die Wirtschaft:
«Demokratisch gewählte, nationale Parlamente sollten die Macht haben, ungewünschte oder unnötige EU-Regulierungen zu verhindern.»
Weitreichende Souveränitätsabtretungen müssten von der Zustimmung der Volkes abhängig sein.
Nicht, dass die Forderungen in ihrer Substanz überraschend wären; aber neu ist, dass sich jetzt die Wirtschaft in die EU-Politik einmischt und die eigenen Bedürfnisse formuliert. Bisher hatte sie sich vor allem um ihre eigenen branchenspezifischen Anliegen gekümmert. «EU: Endlich Protest aus der Wirtschaft», titelt deshalb die deutsche «Wirtschaftswoche» die Kritik der Manager.
Die EU-Kommission will zwar die Gesetzgebung künftig entschlacken, sagte Kommissionschef José Manuel Barroso im Oktober. Das EU-Recht soll künftig einfacher werden, und einige Gesetze will Brüssel abschaffen. Doch das Gegengewicht der Unternehmer zum diktatorischen Ehrgeiz der Brüsseler Bürokratie bleibt dringend notwendig.
Ohne auf Widerspruch zu stossen, plant die EU nämlich weiterhin Gesetze und Vorschriften. Die paternalistisch und kaum überblickbare Dichte von Verboten, Restriktionen, Vorschriften und Gesetzen greift tief in das Privatleben der 500 Millionen EU-Bürger ein. So erliess die EU im Sommer eine Vorschrift über den Stromverbrauch von Staubsaugern. Bis September 2014 sind solche mit einer Leistung von 1600 Watt Leistung zugelassen, ab 2017 dürfen es dann nur noch 900 Watt sein. Das anvisierte Ziel, Energie zu sparen, wird dadurch aber kaum erreicht.
Der Stromkonsum könnte sogar ansteigen, weil man den Teppich wegen der minderen Leistung mehrfach saugen muss, bevor er sauber ist.
Im Un-Sinn des Europagedankens, Einheit von oben zu erzwingen, kommen aus Brüssel immer wieder Vorschriften, über die man lachen könnte, wären sie nicht ernst gemeint. Eine neue Absurdität sind Vorgaben über den Wasserverbrauch in Pissoirs. In einem ersten Schritt sollen Toiletten mit einem «Öko-Label» gekennzeichnet werden, wenn sie mit maximal fünf Liter Wasser spülen, bei Pissoirs liegt das Limit bei einem Liter. Das ist das Ergebnis einer mehr als zweijährigen Forschungsarbeit einer Arbeitsgruppe aus EU-Beamten und Experten, die sich unter anderem zu Tagungen in Sevilla traf.
Aufschlussreich für den Gleichmachergeist, der innerhalb der EU herrscht, ist die Begründung der neuen Vorschrift: «Die Analyse des Nutzerverhaltens zeigt, wie der Wasserverbrauch sich in den EU-Mitgliedstaaten unterscheidet. Auch der Verbrauch von Bürgern innerhalb eines einzigen Landes kann sehr unterschiedlich sein.» Das Nutzerverhalten sei ein sehr komplexes Thema.
Statt die Normierung des WCs der Wirtschaft zu überlassen, will Brüssel also künftig die Klo-Gestaltung zentral normieren. Dabei gehen die EU-Experten wirklich sehr ins Detail: Toilettensitze und -deckel seien zwar nicht in die Studie miteinbezogen worden, da sie nicht zum Wassersparen beitragen können.
Nichtsdestotrotz wurden Sitze und Deckel miteinbezogen, wenn sie mit dem Auffangbehältnis zusammen verkauft werden, da sie in diesem Fall «Teil des Produkts» sind. Es sei wichtig, dass «das Toiletten- und Urinal-Equipment seine Funktion ordnungsgemäss erfüllt, das heisst: einmaliges Spülen entfernt das Abfallprodukt aus dem Auffangbehältnis, wäscht es ordnungsgemäss aus ohne zu spritzen und hinterlässt eine geeignete Wassermenge im Toilettenboden.»
Ob die europaweite Normierung des stillen Örtchens irgendetwas mit dem Ziel der europäischen Einheit zu tun haben könnte, bleibe dem Urteil des Lesers überlassen.
Zuerst erschienen in der Basler Zeitung vom 19.11.13