Trotz des massiven Protests der europäischen Landwirte, die vor der Gefährdung der Ernährungssicherheit warnen, ist das EU-Renaturierungsgesetz nun endgültig beschlossen worden. Doch der Kampf um Pfeifengraswiesen auf tonig-schluffigen Böden hat eine Regierungskrise ausgelöst.
Kurz nach der Europawahl und gerade noch rechtzeitig vor der Sommerpause ist das EU-Renaturierungsgesetz nun doch endgültig erabschiedet worden. Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt das unerwartete Abstimmungsverhalten von Österreichs grüner Umweltministerin Gewessler, das für eine denkbar knappe Mehrheit im EU-Ministerrat sorgte. Weil Gewessler ihr Einverständnis zu dem Gesetz gegen den Willen des Koalitionspartners ÖVP gab und dabei das Veto der Bundesländer ignoriert hat, hat sie nun eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs am Hals. Beim Bundeskongress der österreichischen Grünen erntete Gewessler dagegen Jubel. Auch Steffi Lemke, die deutsche Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, votierte für das Gesetz.
Dabei hatte es schon im Vorfeld europaweit beträchtlichen Widerstand gegen das Renaturierungsgesetz gegeben, in dem es im Kern darum geht, dass „die Natur“ in der Landwirtschaft, den Wäldern, den Ozeanen und den städtischen Gebieten „wiederhergestellt“ werden müsse, indem zum Beispiel trockengelegte Moore wieder vernässt werden.
Dazu muss man wissen, dass der EU-Gesetzgebungsprozess einem Drama in mindestens drei Akten gleicht: Die EU-Kommission schlägt zunächst eine Verordnung oder Richtlinie vor. Dazu kann sie auch etwa vom Parlament aufgefordert werden, doch letztlich entscheidet sie selbstherrlich, welches Gesetz sie auf den Weg bringen will. Dann stimmen das Parlament – nach Beratung durch die zuständigen Fachausschüsse – und der Ministerrat, in dem die jeweiligen Fachminister der einzelnen Mitgliedsstaaten verhandeln, entweder zu oder verabschieden ihre eigenen Positionen zu dem Gesetzesentwurf, was zu mehreren Lesungen führen kann. Außerdem besteht noch die Möglichkeit, die Verhandlungen in einem sogenannten informellen Trilog, bei dem Vertreter von Kommission, Rat und Parlament zusammenkommen, zu verkürzen. Sollte überhaupt keine Einigung erzielt werden, ist die Gesetzesinitiative vorläufig gescheitert.
Meist kommen die Gesetzesentwürfe der Kommission jedoch in mehr oder weniger modifizierter Form durch, was sich allerdings konkret oft erst Jahre später bemerkbar macht. Dann ist es aber zu spät, um Einspruch zu erheben. Beispielsweise war auch das Heizungsgesetz Habecks keine Überraschung, sondern die konsequente Umsetzung einer von der EU-Kommission vorgeschlagenen Richtlinie (achgut berichtete). Während EU-Verordnungen nämlich unmittelbar gelten, müssen EU-Richtlinien erst noch in nationales Recht umgesetzt werden. Dann sieht ein Gesetz zwar wie eine deutsche Entscheidung aus, ist im Grunde jedoch lediglich die Folge eines schon Monate oder sogar Jahre zuvor veröffentlichten Vorschlags der EU-Kommission. Was jedoch nicht heißt, dass Deutschland nicht auch an der EU-Gesetzgebung maßgeblich beteiligt ist.
Die erste Ablehnung wird umschifft
Jedenfalls lohnt es sich, die legislativen Initiativen der EU-Kommission bei heiklen Themen von Anfang an zu beobachten. Die „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur“ war von der Kommission nämlich bereits am 22. Juni 2022 vorgeschlagen worden, jedoch sowohl vom Landwirtschaftsausschuss (am 23. Mai 2023) als auch vom Umweltausschuss des Parlaments (am 27. Juni 2023) abgelehnt worden. Sogar die EVP stellte sich gegen die Kommissionslinie, die damals noch durch Frans Timmermans vertreten wurde. Zur Begründung gab die Berichterstatterin der EVP-Fraktion Christine Schneider (CDU) an, dass der Vorschlag der Kommission zu einem Rückgang der landwirtschaftlich genutzten Flächen führen und damit die Ernährungssicherheit gefährden würde. Im Mai 2023 forderte noch dazu Frankreichs Präsident Macron eine „Regulierungspause“ bei der Klimapolitik (achgut berichtete).
Am 12. Juli letzten Jahres – also ebenfalls kurz vor der Sommerpause – befürworteten die Abgeordneten des EU-Parlaments dennoch den Kommissionsvorschlag, bis 2030 „Renaturierungsmaßnahmen“ für mindestens 20 Prozent aller Land- und Meeresflächen in der EU einzuführen (achgut berichtete). Auch Unternehmen wie Nestlé und Danone begrüßten das „Renaturierungsgesetz“ ausdrücklich. Was kaum verwundert, da sich, wenn die Landwirtschaft zurückgefahren wird, lukrative Märkte für neue künstlich erzeugte Lebensmittel wie etwa Laborfleisch entwickeln könnten.
Im November 2023 einigten sich Parlament und Ministerrat dann auf einen vorläufigen finalen Gesetzestext (achgut berichtete), der beim Treffen der EU-Umweltminister in Luxemburg am 17. Juni dieses Jahres nun also endgültig verabschiedet wurde. Bei diesem Treffen ging es allerdings auch noch um etwa die Abfallrahmenrichtlinie, die Richtlinie zur Bodenüberwachung, das Klimaziel für 2040, das „Klimarisikomanagement“ und die „Green Claims“-Richtlinie, die Verbraucher vor „Grünfärberei“ – also vor falschen Umweltaussagen in Bezug auf Produkte – schützen soll.
Schon Ende März traten neue EU-Verbrauchervorschriften gegen „Greenwashing“ in Kraft, durch die Verbraucher besser über die Umweltverträglichkeit von Produkten informiert und dabei unterstützt werden sollen, nachhaltige Konsumentscheidungen zu treffen. Allerdings ist die EU-Kommission hier offenbar abermals weit über ein sinnvolles Ziel hinausgeschossen. So kritisieren aktuell in einem offenen Schreiben vom 13. Juni mehr als 880 Organisationen, die Tausende von Landwirten aus aller Welt vertreten, das Anti-Greenwashing-Gesetz, da dadurch natürliche, aus Tieren gewonnene Fasern wie Wolle und Kaschmir zugunsten von synthetischen Materialien benachteiligt würden.
Die Kommission freut sich
Insgesamt ist die „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur“ eingebettet in den 2019 beschlossenen europäischen „Green Deal“, durch den Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden soll, und Teil des Paktes „Fit für 55“, durch das die Netto-Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden sollen. Auf der Webseite des Rats ist die Zeitleiste zum europäische Grüne Deal und „Fit für 55“ gerade um den letzten Punkt ergänzt worden:
„Der Rat hat die erste Verordnung über die Wiederherstellung der Natur förmlich angenommen. Ziel dieser Verordnung ist es, Maßnahmen zu ergreifen, um bis 2030 mindestens 20 % der Land- und Meeresflächen der EU und bis 2050 alle sanierungsbedürftigen Ökosysteme wiederherzustellen. Die Verordnung zielt darauf ab, den Klimawandel und die Auswirkungen von Naturkatastrophen abzuschwächen. Sie wird die EU dabei unterstützen, ihre internationalen Umweltverpflichtungen zu erfüllen und die europäische Natur wiederherzustellen.“
Dafür sind spezifische, rechtsverbindliche Verpflichtungen für die Wiederherstellung der Natur in Land-, Meeres-, Süßwasser-, Wald-, landwirtschaftlichen und städtischen Ökosystemen festgelegt worden. Unter anderem sollen in der EU bis 2030 mindestens 25 000 Flusskilometer in frei fließende Flüsse umgewandelt, mindestens drei Milliarden zusätzliche Bäume angepflanzt sowie entwässerte Moorböden wiederhergestellt werden. Die Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen ergreifen, um „vom Menschen gemachte Hindernisse“ für die Vernetzung von Oberflächengewässern – also von Flussläufen – zu beseitigen. Außerdem sollen städtische Grünflächen sowie Bestäuber und Wiesenschmetterlinge besser geschützt werden.
EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius begrüßte die Verordnung mit den Worten:
„Dies ist ein Gesetz, das von Bürgerinnen und Bürgern, Wissenschaftlern, Nichtregierungsorganisationen, der Industrie, dem Finanzsektor und vielen anderen Interessenträgern nachdrücklich unterstützt wird, die sich dafür einsetzen und betont haben, wie wichtig dies für ihre Zukunft ist.“ Und er fügte hinzu: „Die Kommission freut sich nun sehr darauf, gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und allen beteiligten Gemeinschaften (communities) und Interessenträgern (stakeholders) mit der Umsetzung zu beginnen“.
Ein EU-Spiel mit „Drachenreiter:innen“
Die Mitgliedstaaten müssen der Kommission künftig regelmäßig „nationale Wiederherstellungspläne“ vorlegen, die den Zeitraum bis 2050 abdecken. Außerdem müssen sie ihre Fortschritte auf der Grundlage EU-weiter Biodiversitätsindikatoren überwachen und darüber Bericht erstatten. Die Kommission wird ihrerseits die Anwendung der Verordnung und ihre sozioökonomischen Auswirkungen bis 2033 überprüfen. Die Verordnung soll der EU dabei helfen, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen, insbesondere dem globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal, der auf der Konferenz der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt (COP 15) 2022 vereinbart wurde.
In Hinblick auf das Klimaziel 2040, das nach einem Vorschlag der EU-Kommission vom 6. Februar dieses Jahres darauf hinausläuft, dass die Emissionen der Mitgliedsländer um 90 Prozent im Vergleich zu 1990 sinken sollen, bekräftigte auch EU-Klimapolitik-Kommissar Wopke Hoekstra: „Wir müssen dafür sorgen, dass öffentliche Mittel optimal eingesetzt werden, um das private Kapital anzuziehen, das für die Verwirklichung unserer Klimaziele erforderlich ist.“ Das klingt wie eine Aufforderung an Konzerne, EU-Fördergelder abzugreifen, damit die Ideologie des Green Deals noch ein wenig länger künstlich aufrecht erhalten werden kann. Außerdem sprach Hoekstra die kryptischen Worte: „Die Realität ist, dass der Klimawandel bereits Teil unseres Lebens ist und auch weiterhin Teil unseres Lebens sein wird. Wir können uns nicht einfach mit der Schadensbegrenzung begnügen. Wir müssen mehr für die Anpassung und das Risikomanagement tun.“ Damit meinte er wohl, dass in der Verordnung erstmals Maßnahmen nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Wiederherstellung der Natur vorgesehen sind.
Im finalen Text der Verordnung wird ausdrücklich auch auf den sogenannten Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz: IPCC) verwiesen: „Im IPCC-Bericht 2022 wurde insbesondere hervorgehoben, dass der Welt und Europa nur noch ein kurzes Zeitfenster bleibt, um eine lebenswerte Zukunft zu sichern, da sich die Wetter- und Klimaextreme häufen und irreversible Auswirkungen mit sich bringen, die über die Anpassungsfähigkeit der natürlichen und vom Menschen geschaffenen Systeme hinausgehen. Im Bericht werden dringend Maßnahmen zur Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme gefordert, um die Auswirkungen des Klimawandels vor allem durch die Wiederherstellung geschädigter Feuchtgebiete und Flüsse, Wälder und landwirtschaftlicher Ökosysteme zu mindern.“ Was von den Daten u.a. des IPCC zu halten ist, legte Fritz Vahrenholt kürzlich anschaulich auf achgut dar.
Selbstverständlich fordert die Kommission für die Umsetzung der Verordnung auch weiteres Personal. Schließlich kümmert sie sich ganz konkret etwa um „pontisch-sarmatische Steppen“, „oro-moesisches bodensaures Grasland“, „halo-nitrophile Gestrüppe“ und „Pfeifengraswiesen auf kalkreichem Boden, torfigen und tonig-schluffigen Böden“. So viel Poesie hätte man der EU-Kommission kaum zugetraut. Doch Moment: Die Kommission hat kürzlich auch die neue Version eines Fantasy-Spiels herausgebracht, nämlich ihr Online Game „Fabulous Council“. Darin soll die Kompromiss-Suche in einer Demokratie interaktiv ausprobiert werden können. Wörtlich heißt es auf der entsprechenden Webseite: „In der Fantasiewelt Nafasia schlüpfen die Spielerinnen und Spieler in die Rolle eines der fünf Wesen: Hexen und Hexer, Drachenreiter:innen, Vampire, Bauernschaft und Naturgeister.“ Entworfen wurde das Spiel von der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland und den deutschen Länder für den Schulunterricht. Die Schüler sollen also in Gestalt von Vampiren, Naturgeistern und „Drachenreiter:innen“ etwas über die Demokratie in der EU lernen. Offenbar wähnt sich die EU-Kommission in einer Fabelwelt. Das erklärt natürlich einiges.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.