Tech-Unternehmer und Milliardär Peter Thiel kommt im Interview mit Jordan B. Peterson aus verschiedenen Blickwinkeln zu dem Schluss, dass es aktuell trotz aller Hypes wenig echten Fortschritt gibt.
Der deutschstämmige US-Amerikaner Peter Thiel gründete 1998 unter anderem mit Elon Musk den Online-Bezahlservice PayPal, der 2002 an Ebay verkauft wurde. 2004 wurde Thiel zum ersten Facebook-Investor. Seither ist er als Finanzmanager tätig und beteiligte sich an weiteren Techfirmen.
Jordan B. Peterson: Das letzte Mal, als wir miteinander sprachen, sagten Sie eine Reihe von Dingen, die provokativ waren, und auf eines davon möchte ich nun eingehen. Es hat mich überrascht, obwohl ich glaube, dass ich verstehe, warum Sie es gesagt haben. Und zwar sind Sie skeptisch hinsichtlich unseres aktuellen Fortschritts-Tempos. Sie haben das Gefühl – soweit ich es verstehe –, dass die innovativsten Zeiten vielleicht hinter uns liegen, zumindest vorübergehend.
Nun haben wir beispielsweise im letzten Jahr an der Front der Großen Sprachmodelle wie ChatGPT revolutionäre Schritte nach vorne gemacht, und unsere digitalen Geräte werden immer raffinierter. Es gibt enorme Fortschritte in der Robotik. Wie stellen Sie sich die Quantifizierung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts vor, und warum sind Sie skeptisch, was den Nutzen oder das Tempo angeht?
Peter Thiel: Es gibt dabei verschiedene Variablen zu berücksichtigen, über die ich nun schon seit fast zwei Jahrzehnten spreche. Das große Problem ist natürlich, dass es alle möglichen sehr komplizierten Messprobleme gibt. Wie vergleichen wir beispielsweise den Fortschritt in Sachen Künstliche Intelligenz mit dem mangelnden Fortschritt in der Demenzforschung, der Heilung von Alzheimer? Es gibt also die verschiedensten komplizierten Möglichkeiten, wie man all diese unterschiedlichen Dinge gewichten kann.
Man hatte eine geraume Zeit lang das Gefühl, dass der Westen, die westliche Welt, sich in einer rasanten Ära des wissenschaftlich-technischen Fortschritts befand, in der es an vielen, vielen verschiedenen Fronten Fortschritte gab. In gewisser Weise begann diese Entwicklung in der Renaissance beziehungsweise der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert und beschleunigte sich dann im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In gewisser Weise hat sich die Entwicklung in den letzten 50 Jahren verlangsamt, man könnte vielleicht 1970 oder so als Wendepunkt nennen.
Das heißt aber nicht, dass sie ganz zum Stillstand gekommen ist. Ich habe es oft so zusammengefasst, dass wir in der Welt der Bits, also der Computer, der Software, des Internets, des mobilen Internets, der Kryptowährungen und jetzt der KI, weiterhin Fortschritte gemacht haben. Aber in der Welt der Atome hat es seither viel weniger Fortschritte gegeben.
Das Problem mit dem Wort „Wissenschaft“
Wenn man an das Lernen an Universitäten denkt, dann hatten früher die meisten technischen und wissenschaftlichen Fächer in erster Linie mit der materiellen Welt zu tun, in die wir eingebettet sind. Ich war in den späten 1980er Jahren Student in Stanford, ich war Abschluss-Jahrgang 1989 (Anm. d. Red.: Peter Thiel erlangte damals einen Bachelor-Abschluss in Philosophie, 1992 folgte der rechtswissenschaftliche Abschluss Juris Doctor). Es war damals noch nicht ganz absehbar, aber im Nachhinein betrachtet, wäre fast jeder Studiengang, der etwas mit der Welt der Atome zu tun hatte, ein schlechter Einstieg gewesen: Physik, Chemie, Maschinenbau, natürlich auch Luftfahrttechnik und Kerntechnik waren in den 1980er Jahren bereits erledigt. Man konnte vielleicht noch Elektrotechnik studieren, also sich im Prinzip mit den Atomen beschäftigen, die für Halbleiter verwendet werden. Aber im Grunde genommen stellte sich als einziges MINT-Fach, das wirklich erfolgreich sein sollte, die Informatik heraus, ein eher marginales, fast schon „unechtes“ Fach.
Ich habe grundsätzlich ein Problem, wenn man das Wort „Wissenschaft“ benutzt. Ich bin für die Wissenschaft, aber ich bin skeptisch, wenn man das Wort „Wissenschaft“ benutzt. So werden Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Klimawissenschaften von Leuten als Wissenschaft bezeichnet, die einen Minderwertigkeitskomplex haben und im Grunde ihres Herzens wissen, dass dies keine wirklich streng wissenschaftlichen Bereiche sind.
Ähnliches galt ursprünglich auch für die Informatik, genannt Computerwissenschaft. Dort landeten die Leute, die zu dumm waren, um Mathematik, Physik oder Elektrotechnik zu studieren. Die sind dann in die Informatik reingerutscht. Und seltsamerweise ergab sich daraus ein eigenständig funktionierender Bereich mit vorzeigbaren Ergebnissen. Immerhin funktionierte es gut genug, dass einige Leute fantastische Unternehmen aufbauten.
Unübersichtliche Hyperspezialisierung
Sicherlich gab es einige bemerkenswerte kulturelle und soziale Veränderungen, als wir vom Industriezeitalter zum Informationszeitalter übergingen. Ich weiß aber nicht, ob man Derartiges auf einer breiten wirtschaftlichen Ebene des Wohlstands behaupten kann. Selbst wenn man es nur am materiellen Wohlstand der Menschen misst, ist die Generation der Millennials (circa Jahrgänge zwischen 1981 und 1996) in den USA in vielerlei Hinsicht wahrscheinlich nicht einmal genauso so gut wie ihre Eltern aus der Babyboomer-Generation (circa Jahrgänge von 1946 bis 1964) aufgestellt (Anm. d. Red.: geschweige denn besser).
Es ist also das erste Mal, dass wir diese Art von wirtschaftlicher Stagnation oder sogar völligem Niedergang erleben. Wieder wäre es naiv zu glauben, dass all der gleichzeitig stattfindende Fortschritt zu einer erfolgreicheren Wirtschaft führen wird. Der wirtschaftliche Aspekt ist nicht der einzige Weg, die Dinge zu messen, aber es ist eine einfache Art, sie zu messen. Wenn sie also wirtschaftlich wenig gebracht haben, lautet meine Schlussfolgerung, dass die Fortschritte der letzten Jahrzehnte vielleicht auch insgesamt nicht so viel gebracht haben.
Einer der Gründe, warum es übrigens sehr schwierig ist, diese Debatte zu führen und überhaupt herauszufinden, was vor sich geht, liegt darin, dass eines der Merkmale der Spätmoderne, im Gegensatz zur frühen Moderne, die Hyperspezialisierung ist. Wir haben immer kleiner werdende Gruppen von Experten, die Experten auf ihrem Gebiet sind. Die Krebsspezialisten sagen uns, dass sie Krebs in fünf Jahren heilen werden. Das sagen sie aber schon seit 50 Jahren. Und die Stringtheoretiker (Anm. d. Red.: Untergattung der Physik) behaupten, sie seien die klügsten Menschen der Welt.
Es ist sehr schwer, hier den Überblick zu behalten und jeden Bereich angemessen zu bewerten. Der Ökonom Adam Smith (1723–1790) hatte am sogenannten Stecknadelbeispiel illustriert, dass damals 100 verschiedene Menschen notwendig waren, um eine Stecknadel herzustellen. Die Spätmoderne kann man sich als eine Art Stecknadelfabrik auf Steroiden vorstellen. Wir sind so hyperspezialisiert, dass es extrem schwierig ist, ein Bild vom Ganzen zu bekommen.
Wir haben aufgehört, uns physisch schneller zu bewegen
Daher ist die Frage, ob es wirklich einen Fortschritt gibt oder nicht, schwer zu beantworten. Ich denke, wenn man es in wirtschaftlichen Begriffen misst, stellt sich ein gebremstes Gefühl ein. Auch wenn man sich dezidiert einzelne Bereichen ansieht, lässt sich Ähnliches erkennen. Ich erwähnte bereits die Krebsforschung. Ähnliches könnte man über den Transportbereich sagen, in dem wir lange Zeit konstant Fortschritte machten. Seit 1500 sind wir in jedem Jahrzehnt schneller geworden, mit schnelleren Segelschiffen, schnelleren Eisenbahnen, schnelleren Autos und schnelleren Flugzeugen. In den letzten 50 Jahren haben wir aufgehört, uns physisch schneller zu bewegen. Das wäre eine weitere Dimension. Man kann also allein mit gesundem Menschenverstand konstatieren, dass wir eine Stagnation erleben. Und dann gibt es wie gesagt einen wirtschaftlichen Weg, dies zu messen.
Als nächstes wäre da meine politische Intuition zu erwähnen. Diese besagt, dass wenn man Ideen hat, die tabu sind und nicht diskutieren werden dürfen, diese wahrscheinlich richtig sind. Das Beispiel, das ich immer anführe, ist Professor Bob Laughlin, ein Physikprofessor aus Stanford. 1998 bekam er den Nobelpreis für Physik. Er litt unter dem extremen Wahn, dass er jetzt, da er den Nobelpreis hat, endlich akademische Freiheit habe und über alles reden könne, worüber er gerne reden möchte.
Es gibt alle möglichen Bereiche, die in den Wissenschaften total tabu sind. Etwa wenn man den Darwinismus, die Stammzellenforschung oder den Klimawandel infrage stellt. Das sind sehr gefährliche Bereiche. Aber er hatte sich einen Bereich ausgesucht, der noch gefährlicher ist als alle drei. Er war der Meinung, dass die meisten Wissenschaftler, also die sogenannten Wissenschaftler, im Grunde genommen Geld von der Regierung stehlen, grenzwertige betrügerische Wissenschaft betreiben oder inkrementalistisch (Anm. d. Red.: den Weg des geringsten Widerstands gehend) sind und nicht viel taugen. Laughlins Spezialgebiet waren Hochtemperatursupraleiter. Er erzählte mir einmal, dass in diesem Bereich damals 50.000 Arbeiten geschrieben worden waren, aber nur vielleicht 25 von 50.000 die Wissenschaft überhaupt vorangebracht hatten.
Es ging ihm nicht nur um die abstrakte Replikationskrise. Er fing an, Namen zu nennen. Nach dem Motto: „Dieser hat Geld veruntreut, jener ist ein Betrüger.“ Ich brauche wohl nicht zu erläutern, wie das Ganze endete. Ihm wurden prompt alle Gelder gestrichen. Seine Studenten konnten keinen Doktortitel mehr erlangen. Meine Hermeneutik des Misstrauens lautet: Wenn die Äußerung einer Idee wie der Stagnation in der Wissenschaft ein sofortiges Canceln zur Folge hat, dann sollten wir diese Idee sehr ernst nehmen. Das wäre also die politische Intuition, die ich in dieser Sache habe.
Von Apollo zu Woodstock
Aus verschiedenen Blickwinkeln komme ich also zu dem Schluss, dass es gerade keinen echten Fortschritt gibt. Das heißt nicht, dass es überhaupt keine Fortschritte gibt. Es bedeutet auch nicht, dass die Fortschritte der Vergangenheit alle gleichermaßen gut waren. Es bedeutet andererseits nicht, dass die Ängste der Menschen über den begrenzten Fortschritt, den wir haben, unberechtigt sind. Vielleicht sind all diese Dinge sogar ein Teil der Erklärung für die aktuelle Stagnation. Denn das Warum ist eine viel schwierigere Frage.
Dann gibt es da noch die kulturellen Veränderungen, die man nicht übersehen kann, die zumindest mit dem technischen Fortschritt zusammenfielen und korrelierten. Wie kausal sie waren, ist immer schwer zu sagen. Aber wenn wir uns das Apollo-Raumfahrtprogramm als das letzte große technologische wissenschaftliche Projekt vorstellen, dann gibt es einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Juli 1969, als wir auf dem Mond landeten, und Woodstock, das drei Wochen später begann.
Im Nachhinein kann man sagen, dass seither der Fortschritt, also der wissenschaftlich-technische Fortschritt, in gewisser Weise zum Stillstand kam und die Hippies das Land übernommen haben. Das kann man auf viele Arten beschreiben. Aber im Grunde fand eine Verlagerung vom äußeren Raum, von der Erforschung der Welt außerhalb von uns, zum inneren Raum hin statt.
Es gab auf der ganzen Linie kulturelle Transformationen. In Schlagworten: Yoga, Meditation, psychedelische Drogen, Incels, die in Kellern Videospiele spielen. Die unglaubliche, voranschreitende Atomisierung des Universums. Die Übernahme durch die Identitätspolitik. Man könnte hinzufügen, dass die Leute oft Marxismus und kulturellen Marxismus in einen Topf werfen.
Doch meiner Meinung nach sind das Gegensätze, denn der eigentliche Marxismus befasste sich in erster Linie mit den äußeren, objektiven, materiellen und wirtschaftlichen Realitäten. Und der Kulturmarxismus entsprach dem Übergang von Apollo zu Woodstock, wo man einfach in eine Art Innenwelt überging. Und nicht mehr über die Außenwelt nachdachte.
Risikoscheu und verweiblicht
In gewisser Weise haben wir aufgehört, Fragen nach Wirtschaftswachstum und grundlegendem wirtschaftlichen Wohlstand zu stellen. Das fiel dann auch mit dem mangelnden Fortschritt in diesen Bereichen zusammen. Ich glaube also, dass diese Arten von kulturellen Veränderungen mit dem Wandel in Sachen Fortschritt immerhin zusammenfielen. Ich glaube, die Leute fragen sich oft, warum es zu dieser Stagnation kam.
Wenn wir also darin übereinstimmen, dass es eine Verlangsamung des Fortschritts gegeben hat, dass die Singularität in gewissem Sinne vielleicht eher in der Vergangenheit als in der Zukunft liegt. Und man fragt: Warum ist das passiert? Dann lautet meine ausweichende Antwort zunächst, dass Fragen nach dem Warum überdeterminiert sind. Dennoch könnte es sein, dass unsere Gesellschaft risikoscheu geworden ist oder zu feminisiert. Man könnte auch antworten, dass es zu viel Regulierung und Bürokratie gibt, was wiederum meinem libertären Eindruck entspricht.
Unterm Strich bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass einer der größeren Faktoren das Gefühl war, dass ein Großteil der Wissenschaft und Technologie ziemlich gefährlich sei. Denn diese Felder hatten, zumindest im militärischen Kontext, einen doppelten Verwendungszweck. Bereits im späten 18. und 19. Jahrhundert wurde diese Entwicklung beschleunigt: Man denke an die napoleonischen Kriege, Colonel Colt und die Erfindung seines Revolvers, Alfred Nobel mit der Erfindung des Dynamits. Der Erste Weltkrieg war dann eine Bruchstelle, durch die die naive fortschrittliche Erzählung plötzlich untergraben wurde.
Man kann sagen, dass das Bacon'sche Wissenschaftsprojekt danach in gewissem Sinne endete, auch im Hegelschen Sinne endete. Es kulminierte beziehungsweise endete ab 1942 in Los Alamos im US-Bundesstaat New Mexico mit dem Bau von Atomwaffen. Vielleicht betreibe ich jetzt etwas Geschichtsklitterung, aber es dauerte ein Vierteljahrhundert, bis sich die Gesellschaft wirklich über das ganze Ausmaß von Atomwaffen bewusst wurde.
Angst vor Veränderung
Ab den 1970er Jahren wollte man dann nicht mehr in dieser Außenwelt leben, wo immer mehr thermonukleare Bomben gebaut wurden. Stattdessen wollten wir auf dem Burning-Man-Festival mit psychedelischen Drogen abhängen. Oder uns zurück in die Natur mittels Umweltschutz flüchten. Seither wollen wir nicht mehr in einer Welt des Wandels leben, sondern in einer Welt des Stillstands, denn die Welt des Wandels hat immer auch eine apokalyptische Dimension. Veränderung ist demnach eine Veränderung zum Schlechten.
Diese Mentalität hat sich in den 1970er Jahren herauskristallisiert. In gewisser Hinsicht gibt es seither eine „linke Wissenschaft“, wir versuchen, die Pause-Taste zu drücken. Aber die Orte, an denen echte Wissenschaft noch erlaubt ist, sind auch die trägsten. Die Welt der Bits wurde als unglaublich träge angesehen, weil man damit keine Bomben bauen kann. Man baut damit keine Waffen.
Hin und wieder werden natürlich trotzdem Ideen aus dem Internet in die Realität übersetzt. Was auf Twitter oder X passiert, bleibt nicht immer dort, wenn dies auch die Ausnahme ist. Man hat das Gefühl, dass auf dieser Plattform eine extrem wütende, intensive Konversation stattfindet, aber hin und wieder lässt sich das auch in die reale Welt übersetzen.
Man könnte sagen, dass das Internet nur erlaubt war, weil es sozusagen einen sicheren Raum darstellte. Es war ein Ort, an dem die Gewalt eingedämmt werden konnte. Aber selbst dieser Freiraum wurde manchen Leuten zu viel. Der apokalyptische Hintergrund der Spätmoderne, wo jede Mikroaggression das Potenzial hat, zum Armageddon zu eskalieren, schwebt über all dem. Mir gefällt diese Stagnation, die Risikoscheu und alles weitere daraus Resultierende nicht, aber ein Teil davon ist meiner Meinung nach verständlich.
Dies ist ein Auszug aus einem Video von Jordan B. Peterson.
Jordan B. Peterson (* 12. Juni 1962) ist ein kanadischer klinischer Psychologe, Sachbuchautor und emeritierter Professor. In seinen Vorlesungen und Vorträgen vertritt er konservative Positionen und kritisiert insbesondere den Einfluss der Political correctness und die Genderpolitik. Sein 2018 erschienes Buch „12 Rules for Life“ war internationaler Bestseller.
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