Von Dr. Martin Heipertz.
Mich trifft der Tod der Schuldenbremse als persönlicher Verlust. Ich durfte sie mit meinem eigenen, bescheidenen Beitrag unter Wolfgang Schäuble begleiten. Im Erinnerungsfoto oben formen die Mitarbeiter des Finanzministeriums eine „Schwarze Null“.
Nach einem völlig unerwarteten, tragischen Zwischenfall ist die Schuldenbremse am vergangenen Freitag, den 21. März 2025, von uns gegangen. Sie ist nicht einmal 20 Jahre alt geworden. In den Fluren von BlackRock und Goldman Sachs zeigt man sich jedoch zufrieden. Auch in der Zunft der Ökonomen erhebt sich kaum ein Wort der Trauer. Ist das Ende der Schuldenbremse dann auch für Lieschen Müller und den braven deutschen Michel, der bekanntlich gerne schläft, eine gute Nachricht? Hier ist Zweifel angebracht.
Mich trifft ihr vorzeitiger Tod als persönlicher Verlust. Ich durfte die Schuldenbremse mit meinem eigenen, bescheidenen Beitrag unter Wolfgang Schäuble (Anm. d. Red.: Als stellvertretender Büroleiter des damaligen Bundesfinanzministers Schäuble) begleiten und habe ihr kurzes Dasein stets mit großem Wohlwollen gesehen. Sie kam im Jahr 2009 in unser Grundgesetz. Zuvor lautete dessen Artikel 115:
„(1) Der Bund kann Kredite aufnehmen, soweit die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen nicht überschreiten. (2) Ausnahmen sind zulässig bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“
Das war die sogenannte „Goldene Regel“, die Kreditaufnahme an Investitionen band. Sie erlaubte jedoch erhebliche Schuldenberge, insbesondere durch Gummiparagraphen wie „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“. So stieg die gesamtstaatliche Verschuldung in Deutschland denn auch rasant an, bevor die Schuldenbremse eingeführt wurde:
Gesamtstaatliche Verschuldung in Deutschland
- 1949: 3–5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Schuldenquote (Neugründung der Bundesrepublik, kaum Staatsschulden. Das Staatsguthaben – „Juliusturm“ – wird im wesentlichen für den Aufbau der Bundeswehr aufgezehrt.)
- 1960: 10 Prozent des BIP (Erste moderate Schuldenaufnahme für Infrastruktur und Sozialstaat)
- 1970: 18 Prozent des BIP (Defizitfinanzierung unter sozialliberaler Koalition – Wirtschaftswunder endet)
- 1980: 32 Prozent des BIP (Höhere Verschuldung durch Ölkrisen und Sozialausgaben)
- 1990: 40 Prozent des BIP (Wiedervereinigung, hohe Kosten für Aufbau Ost)
- 1995: 58 Prozent des BIP (Deutsche Einheit belastet den Haushalt weiter, Treuhand-Schulden müssen in die Staatsschulden überführt werden.)
- 2000: 60 Prozent des BIP (Maastricht-Grenze erreicht, kurz nach Euro-Einführung 1999)
- 2005: 68 Prozent (Wirtschaftskrise, Reformen – Agenda 2010 – dämpfen Steuereinnahmen)
- 2009: 74 Prozent (Finanzkrise, massive Neuverschuldung zur Bankenrettung und für Konjunkturprogramme)
Schutz gegen eine „Schuldenmentalität“
In dieser Situation wurde die Schuldenbremse durch die damals tatsächlich noch große „Große Koalition“ eingeführt. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) sah sie als notwendig an, um die langfristige Haushaltsstabilität zu sichern. Er betonte, dass die Neuverschuldung sonst dauerhaft zu hoch bleibe und die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates gefährde. Eine klare Regelung sollte her, um künftige Generationen nicht zu überlasten. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ich ansonsten auch auf diesem Portal mit Kritik nicht verschone, argumentierte, dass der Staat in Krisenzeiten Spielraum für Konjunkturprogramme brauche, sich aber in guten Zeiten wieder entschulden müsse. Sie sah die neue Regel als Schutz gegen eine „Schuldenmentalität“, die die Handlungsfähigkeit des Staates untergrabe.
Die Schuldenbremse wurde am 29. Mai 2009 durch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag geboren. Auch der Bundesrat stimmte zu, und nunmehr lautete das Grundgesetz wie folgt:
„(1) Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. (2) Der Bund kann eine strukturelle Nettokreditaufnahme von maximal 0,35 % des BIP pro Jahr vornehmen. (3) Eine Ausnahme ist bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen zulässig, wenn sich die Regierung und der Bundestag darauf verständigen. Die Schulden sind dann durch einen Tilgungsplan abzubauen.“
Ab sofort galt also grundsätzlich ein Kreditverbot mit einer Obergrenze von 0,35 Prozent des BIP (strukturelles Defizit). Zuvor konnten Schulden mit wirtschaftspolitischen Argumenten begründet werden, nun aber waren nur noch außergewöhnliche Krisen als Begründung zulässig. Bis dahin gab es keine verbindliche Regel zur Rückzahlung von Schulden, jetzt jedoch musste jeder übermäßige Kredit mit einem Tilgungsplan abgebaut werden. Diese Änderungen zielten darauf ab, die Neuverschuldung Deutschlands stark zu begrenzen und langfristige Haushaltsdisziplin sicherzustellen.
Eine alternde Gesellschaft muss Rücklagen bilden
Das zugkräftige Motto der Schuldenbremse war die „Schwarze Null“, eine griffige Formel für den strukturellen Haushaltsausgleich, der durch sie verpflichtend wurde. Eingeführt von Peer Steinbrück, wurde die „Schwarze Null“ zum Markenzeichen seines Nachfolgers im Amte, Wolfgang Schäuble. Als Schäuble 2017 das Bundesfinanzministerium verließ, formierten wir uns auf dem Ehrenhof des Hauses als „Schwarze Null“, so groß war seine und unsere Identifikation mit diesem Grundpfeiler der deutschen Finanzpolitik
Schäuble wurde nicht müde, die Schuldenbremse zu verteidigen – seine Kernbotschaft war die Erfordernis unserer Demographie: Eine alternde Gesellschaft muss Rücklagen bilden. Aber auch eine gesunde Skepsis gegenüber staatlicher Verschwendung leitete uns. Niemand von uns zweifelte daran, dass der deutsche Staat kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem hat und wesentlich effizienter und effektiver mit seinen Mitteln wirtschaften könnte.
Schäubles Politik der „Schwarzen Null“, die wir gegen teilweise erbitterten Widerstand aus dem europäischen und amerikanischen Ausland verteidigten, sorgte für solide Verhältnisse: 2010 erreichte die Schuldenquote ihren historischen Höchststand von 80,3 Prozent des BIP – der sicherlich bald überboten werden wird, nachdem die Schuldenbremse zu Grabe getragen ist. 2013 wurde der Wendepunkt erreicht, und ab dann begannen unsere Staatsschulden einen beeindruckenden Sinkflug. 2019 unterschritt sie die butterweiche Maastricht-Grenze von 60 Prozent und stieg dann erst im Zuge der Covid-Maßnahmen wieder leicht an auf 69 Prozent des BIP. Friedrich Merz übernimmt ein wohlbestelltes Haus, denn 2023 war die Quote wieder auf 63,6 Prozent gesunken.
Fortan also italienische Verhältnisse
Damit ist nun Schluss. In einer demokratisch mehr als fragwürdigen Aktion hat die „herrschende Parteienoligarchie“ (Karl Jaspers) ein abgewähltes, willfähriges Parlament missbraucht, um der Schuldenbremse formaljuristisch korrekt den Dolch in den Rücken zu stoßen. Ein Bundesverfassungsgericht, dessen Senat aus Leuten mit Parteibuch besteht, hat das Vorgehen abgesegnet. „Wolfgang Schäuble würde sich im Grabe umdrehen“, sagte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann, in einem kurzen Augenblick der Wahrheit – jedoch nur, um den Preis ihrer Zustimmung in die Höhe zu treiben.
Fortan werden wir also italienische Verhältnisse haben; zumindest bei den Staatsfinanzen und bei der Inflation – leider nicht beim Wetter, bei der Kultur und bei der Lebensqualität. Meine persönliche Dystopie der neuen Verhältnisse besteht aus einer unguten Mischung der schlechten Eigenschaften Deutschlands – Obrigkeitsstaat und Untertanen – mit den schlechten Eigenschaften der „Welschen“, wie Luther unsere südeuropäischen Freunde und ihren Schlendrian einst nannte.
Unsere Bundeswehr und die marode Infrastruktur im Lande kranken an strukturellen Problemen mehr als am finanziellen Mangel – diese dysfunktionalen Strukturen aber mit Geld auf Pump zuzuschütten, das wird nicht funktionieren. Wenn man einen Kaktus mit Wasser übergießt, wird noch lange keine Orchidee daraus. Subventionen für ökoideologische und andere Projekte, die völlig fehlgeleitete Ausländerpolitik und der hypertrophe Sozialstaat bergen ein Sparpotenzial von über 300 Milliarden Euro pro Jahr, das nun nicht gehoben werden wird.
Ich kann jeden jungen Leistungsträger verstehen, der da ans Auswandern denkt. Doch vorerst wollen wir innehalten und noch einmal in stiller Trauer zurückblicken auf die gar nicht so schlechte, kurze Zeit, in der die Schuldenbremse unter uns geweilt und gewirkt hat. Möge ihr Ideal solider Staatsfinanzen anderswo weiterleben, wenn es in Deutschland nicht mehr geht …
Dr. Martin Heipertz war zwar Stellvertretender Büroleiter von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, aber dieser Artikel enthält ausschließlich seine persönliche Meinung (Art. 5 GG). Er ist Autor des Buches „Merkelismus – die hohe Kunst der flachen Politik“ (Westend Verlag 2024).
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