Annette Heinisch / 22.09.2021 / 12:00 / Foto: Tobias Klenze / 41 / Seite ausdrucken

„Persilschein“ für die Exekutive

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der bereits 2019 mit seinem Buch „Die Warnung – Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ harte Kritik an der Asyl- und Flüchtlingspolitik auf verfassungsrechtlicher Grundlage äußerte, beschäftigt sich nun mit dem Thema Freiheit. Die Freiheit nicht nur als Grundrecht, sondern auch als Ausgangspunkt der Verfassung ist von entscheidender Bedeutung für den Inhalt und das Gefüge aller anderen Verfassungswerte. Hans-Jürgen Papier schreibt in seinem neuen Buch: „Freiheit in Gefahr – Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können“:

„Jede staatliche Freiheitseinschränkung bedarf damit der besonderen Rechtfertigung. Und nicht alles, was Zeitgeist und überwiegende Teile der öffentlichen Meinung zum Wohl der Allgemeinheit oder des Staates für notwendig oder opportun halten, ist auch von der Verfassung gestattet. Die Corona – Pandemie hat uns allen erneut die Wurzeln der Freiheitsidee vor Augen geführt. Das sollte uns gegenüber existenziellen Bedrohungen unserer Grundrechte, die im modernen Verfassungsstaat längst als überwunden galten, wachsam werden lassen. Wir müssen uns aus der in der Not der Pandemie geborenen, freiheitsbedrohenden Schockstarre allmählich wieder lösen und unser Gemeinwesen im Hinblick auf die Gewährleistung von Freiheit einerseits und Sicherheit andererseits besser und zukunftssicherer aufstellen.“

Papier beschreibt das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit. Beide beruhen auf Art. 2 Abs. 2 GG. Dessen erster Satz „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ betrifft die Sicherheit, der zweite Satz „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ garantiert die Freiheit. Wie die Sicherheit sind auch die Freiheits- und Menschenrechte Verfassungsgüter von höchster Relevanz und in ihrem Wesensgehalt von der Verfassung geschützt. Alle drei Staatsgewalten sind zu ihrer Wahrung verpflichtet. Der Gesetzgeber ist zudem verfassungsrechtlich verpflichtet, zur Stärkung der grundgesetzlich verankerten Freiheitsrechte dafür zu sorgen, dass die hierfür nötigen sogenannten Grundrechtsvoraussetzungen erhalten bleiben oder geschaffen werden. Die Bürger müssen die reelle Chance haben, ihre Grundrechte wahrzunehmen und zwar in ökonomischer, sozialer sowie in Hinsicht auf politische Bildung, sonst laufen die Grundrechte ins Leere.

Papier führt weiter aus, dass es zwar bei Gefahr für Leib und Leben grundsätzlich möglich ist, Freiheiten einzuschränken, dabei muss aber immer überprüft werden, ob die Maßnahmen Wirkung zeigen und ab wann sie wieder gelockert oder aufgehoben werden können.

„Wenn abzusehen ist, dass gewählte Maßnahmen mehr Folgeschäden nach sich ziehen, als dies im Hinblick auf den Schutz, den sie wirklich bieten, verhältnismäßig erscheint, ist es Zeit, gegenzusteuern.“ Und weiter: „Die ergriffenen Freiheitseinschränkungen müssen gerechtfertigt werden, nicht die Lockerungen.“

Selbst für den Notstandsfall, also Angriff mit Waffengewalt, keine vergleichbaren Grundrechtssuspendierungen

Er kritisiert, dass während der Pandemie fundamentale Grundrechte weitgehend außer Kraft gesetzt worden sind und zwar in einem für unsere rechtsstaatliche Demokratie bisher einmaligem Ausmaß.

Wenn sich Grundrechtseinschränkungen in solch einem Ausmaß über eine längere Zeit hinziehen, gerät der liberale Rechtsstaat in Gefahr. Dann wird das ganze System von Freiheitlichkeit suspendiert.“

Die Tatsache, dass sich die Parlamentarier weitgehend selbst aus dem Spiel genommen haben, was in den Medien nicht aufgegriffen worden sei, hält er für einen Vorgang, der sich viel gravierender auf das Vertrauen in Politik, Demokratie und die politische Klasse auswirken kann als einzelne über das Ziel hinausschießende Maßnahmen. Als Beispiele für solche Maßnahmen nennt er das Beherbergungsverbot und die Sperrstunde.

Papier kritisiert generell das Prozedere der Bundesregierung und der Ministerpräsidenten in der Pandemiebekämpfung, denn alle wesentlichen Entscheidungen bezüglich der Verwirklichung, Ausübung sowie zur Einschränkung von Grundrechten müssen von Verfassungs wegen vom Parlament getroffen werden. Weder die Kanzlerin noch die Ministerpräsidentenrunde sind dazu berechtigt gewesen. Auch die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Jahre 2020 hat nicht die Erwartung erfüllt, die Parlamente wieder in ihr Recht zu setzen, aber auch in die Pflicht zu nehmen. Im Gegenteil bezeichnet Papier die Regelung des § 28 a IfSG als einen weitgehenden „Persilschein“ für die Exekutive. Auch die grundsätzlichen Entscheidungen im Zusammenhang mit Schutzimpfungen hätten seiner Ansicht nach nicht – wie geschehen – im Verordnungswege erfolgen dürfen, sondern einer gesetzlichen Grundlage bedurft.

Papier zeigt auf, dass das Grundgesetz selbst für den Notstandsfall, also Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt, keine vergleichbaren Grundrechtssuspendierungen oder -einschränkungen allein durch die Exekutive vorsieht. 

Erosion des Vertrauens der Bürger in den Staat

Diese gravierenden Fehlentwicklungen führen nach Papiers Meinung zur Erosion des Vertrauens der Bürger in den Staat, damit des Rechtsgehorsams und der Herrschaft des Rechts.

„Bürger erfuhren, dass ihre Staatsgläubigkeit in vielen Fällen überzogen gewesen ist. Zu häufig wurden die Wege, die zur Herbeiführung vernünftiger und zielführender Entscheidungen auf der Basis des Grundgesetzes definiert worden sind, nicht eingehalten. Als Folge ergaben sich oftmals Maßnahmen, die nicht nachvollziehbar waren oder von Gerichten kassiert wurden. Im Angesicht der staunenden Untätigkeit, die sich diesen Zuständen gegenüber weitverbreitet eingestellt hat, wäre an den politisch-demokratischen Grundsatz der Briten bei der Entstehung des Parlamentarismus zu erinnern: „No taxation without representation“.“

Papier befasst sich aber nicht nur mit der Corona-Politik, sondern auch mit sonstigen Gefahren, die der Freiheit von vielen Seiten drohen.

„Unsere Gesellschaft muss sich dem Wandel und den sich verändernden Gegebenheiten anpassen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die in langen geschichtlichen Zeiträumen erkämpften Freiheitsrechte dafür aufgeben müssen. Dass der Staat Grundrechte einkassiert, um die Gesellschaft einer Welt im Wandel anzupassen, kann kaum eine befriedigende Lösung anstehender Probleme sein.“ 

Dabei stellt er auch Betrachtungen zum Thema Meinungs- sowie Presse- und Rundfunkfreiheit an. Er betont, dass die Presse durchaus politisch einseitig berichten darf, dies aber nicht für den Rundfunk gilt. Dabei reicht es nicht, frei von staatlicher Beeinflussung zu sein, vielmehr muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sichergestellt werden, dass eine Ordnung installiert ist, die ausschließt, dass einzelne gesellschaftliche Gruppen dominieren. Die Vielfalt der Themen und Meinungen muss aufgenommen und wiedergeben werden, wozu materielle, organisatorische und prozedurale Regelungen notwendig sind.

Nachhaltigkeit ins Grundgesetz

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz wird von Papier ebenso kritisch bewertet wie die Cancel Culture. Papier betont ausdrücklich, dass das Recht auf Meinungsfreiheit nicht zur Durchsetzung einer „besseren Moral“ eingeschränkt werden darf. 

Seine tour d`horizon zum Thema Freiheit führt durch viele Bereiche, z.B. die Aushöhlung der föderalen Ordnung, Big Data oder Unternehmensgründungen. Nach Papier gibt es

„entscheidende, objektiv belegbare strukturelle und normative Rahmenbedingungen, die es Gründern immer schwerer machen, ihre grundrechtlich verbürgten wirtschaftlichen Freiheiten zu nutzen. Seit Jahren und Jahrzehnten setzt der Staat auf immer mehr Kontrolle, die als Überregulierung und Bürokratisierung daherkommt.“

Über das Thema EU kommt Papier auf das auf der katholischen Soziallehre beruhende Subsidiaritätsprinzip, wonach die größere Einheit nur eingreifen soll, wenn die kleinere Einheit es nicht allein schafft. Dies Prinzip gilt nicht nur im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten, sondern auch im Verhältnis Staat und Bürger.

Papier macht konkrete Verbesserungsvorschläge. Zudem plädiert er für die Aufnahme von Nachhaltigkeit ins Grundgesetz, denn Politiker hätten zumeist nur die Gegenwart im Blick. Gerade die weitergehende Expansion des Sozialstaats macht aber den Blick auf die Nachhaltigkeit unerlässlich. Für jeden Ausbauschritt müssten dann die finanziellen Folgen und die Gruppen derer, die diese zu tragen hätten, sowie die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Folgen erkennbar ausgewiesen werden.

Papier bezeichnet sein Buch selbst als Plädoyer für die Stärkung von Freiheit mit der Kehrseite der Eigenverantwortung und Eigeninitiative, von der unser Gemeinwesen lebt. Mit „Bestürzung“ beobachtet er eine Einstellung, die bis hinein in hohe politische Kreise und bedeutende Beratungsgremien, etwa den Deutschen Ethikrat, reicht. 

„Zulasten der Freiheit wird Gleichheit als höchste Form der Gerechtigkeit angesehen. Die Folge aus dieser Gewichtung darf aber keine „Gleichheit im Elend“ werden.“

Das Grundgesetz basiert auf einer anderen Vorstellung vom Menschen

Die Forderung, Selbstbestimmung und Verantwortung der Einzelnen für ihr Handeln wieder aufleben zu lassen, hat mehrere grundsätzliche Anforderungen an Staat und Gesetzgebung zur Folge, die Papier sehr konkret darlegt. Leitgedanken sind, dass die Politik den permanenten Krisenbewältigungsmodus hinter sich lassen muss; Gesetzgebung darf kein Feld politischer Profilierung sein und nicht überregulieren, stattdessen handwerklich bessere und absehbar nachhaltigere Gesetze schaffen, die auch tatsächlich umgesetzt werden können.

„Wer an Stelle von Verantwortung und Beteiligung opportunistisch auf starke Führung und einen zwar vielleicht wohlwollenden, notfalls aber autoritären Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat vertraut, trägt zur Infantilisierung der Gesellschaft bei.“

Papiers Buch zeigt in seiner Gesamtheit die Fehlentwicklungen der letzten Jahre auf, die Aushöhlung der Grundrechte, die sich in der Pandemie noch verschärfte. Einige der von ihm angesprochenen, verfassungsrechtlich bedenklichen Aspekte – gerade in der Corona-Pandemie – wurden hier bereits von Autoren ähnlich thematisiert. Die meisten der von Papier geäußerten Kritikpunkten dürften von vielen Juristen, speziell Verfassungsjuristen, geteilt werden.

Gerade aber das Zusammenspiel der ganz unterschiedlichen Themenfelder zeigt darüber hinaus, wie bedeutend die Freiheit als Maßstab des Handelns des Staates ist oder sein sollte. Die Verdeutlichung des dem Grundgesetz zugrunde liegende Menschenbild ist ebenfalls ein großes Verdienst dieses Buches. Es ist eben nicht der infantile Bürger, der von einem paternalistischen oder maternalistischen Staat erzogen, gelenkt und kontrolliert werden muss.

Das Grundgesetz basiert auf einer anderen Vorstellung vom Menschen: Es geht von einem mündigen Bürger aus, der selbstbestimmt und verantwortlich handelt und damit unabdingbare Voraussetzung eines gelingenden Gemeinwesens ist, das er selbst durch sein Verhalten trägt. Es ist ein Menschenbild voller Achtung und Vertrauen. Allein schon das Aufzeigen dieser unterschiedlichen Menschenbilder, die in der Folge zu unterschiedlichem staatlichem Handeln führen, ist erhellend.

Es ist eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre, die viele Fehlentwicklungen, allen voran der Corona-Politik, schonungslos offenlegt.

Hans-Jürgen Papier, Freiheit in Gefahr, Hardcover, Euro 22,00 [D] inkl. MWSt., Heyne-Verlag

Foto: Tobias Klenze CC BY 3.0 via Wikimedia Commons

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giesemann gerhard / 22.09.2021

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