Johannes Richardt, Gastautor / 04.12.2014 / 07:00 / 0 / Seite ausdrucken

Paternalismus: Mit sanftem Zwang ins Glück (2)

Von Johannes Richardt

Bevormundung und Verbote bestimmen zunehmend den Alltag, analysiert Johannes Richardt. Auch subtilere Formen paternalistischer Politik sind auf dem Vormarsch. Was steckt hinter dem Begriff Paternalismus und in welchen Spielarten tritt er heute auf?


Tabak, Alkohol und Glücksspiel

Wenn heutzutage, wie in vielen Städten üblich, Supermärkte sich freiwillig dazu verpflichten, abends grundsätzlich keinen hochprozentigen Alkohol mehr zu verkaufen oder das Kassenpersonal zu obligatorischen Ausweiskontrollen ihrer Kunden angehalten wird, sobald diese irgendwie jung aussehen oder ein Produkt auch nur noch so winzige Spuren von Alkohol enthält – z.B. Pralinen mit Kirschwasserfüllung – trägt das vielleicht sogar noch stärker dazu bei, junge Menschen in ihrem Selbstverständnis als autonome Personen zu irritieren als Komplettverbote oder hohe Besteuerung, also die klassischen Werkzeuge des staatlichen Paternalismus, dies vermöchten. Bei letzteren Maßnahmen sind wenigstens die Fronten klar und der potenzielle Delinquent weiß, welche Regeln es zu brechen gilt. So wird allerdings jungen Erwachsenen bei jedem Alkoholkauf gezeigt, wie wenig man sie in ihrem Erwachsensein für voll nimmt, was sie auf eine gewisse Weise wieder zu Kindern macht. Solcherlei Beispiele dieses „sanften“ Paternalismus, der die Menschen zwar als souveräne Entscheider über ihr Leben nicht ernst nimmt, gleichzeitig aber vor autoritärer Repression zurückschreckt, sind heute die Regel. Gerade der Alkoholkonsum gerät dabei immer stärker in den Fokus einer als Suchtprävention verbrämten Bevormundung, ebenso wie seine zwei mindestens ebenso „bösen“ Stiefbrüder aus der „Suchtgüterindustrie“ [5]: der Tabakkonsum und in letzter Zeit auch immer mehr das Glücksspiel. Bei beiden sind Komplettverbote aus der Mode. Vielmehr soll Rauchern mit einem ständig größerer werdenden Bündel unerfreulicher Einzelmaßnahmen vom Rauchverbot in der Eckkneipe bis zum Deck von Ausflugsdampfern bis zur Einführung von Schockfotos verrußter Lungen, verstopfter Adern, Geschwüren etc. (in Deutschland wohl spätestens 2016) der Spaß an ihrem Laster ausgetrieben werden. Auch will heute niemand mehr – wie 1872 die preußischen Machthaber des frisch gegründeten Deutschen Reichs – zur Bekämpfung der „Zockerei“ sämtliche Spielbanken dichtmachen. Aktuell diskutiert man etwa darüber, wie Spielern durch technische Maßnahmen an Glücksspielautomaten erschwert werden soll, allzu große Dummheiten mit ihrem Geld anzustellen – so zum Beispiel durch das Verbot der Automatiktasten, durch die Spiele von allein neu gestartet werden. Wo klassische Paternalisten immerhin noch mit Vernunftargumenten an die „sittliche Einsicht“ der Opfer ihrer Zwangsbeglückung appellierten, um die gewünschte Verhaltensänderung zu erreichen, scheint es heute vor allem nur noch darum zu gehen, menschliche Irrationalität, Affektgetriebenheit oder psychische Labilität bzw. Störung medizinisch-technisch einzudämmen.

Fett, Zucker und Salz

Der moderne Paternalismus versteckt sich hinter der vorgeblichen „Evidenz“  wissenschaftlicher Studien und der Autorität von Experten, die sich auf eine fast schon pseudoreligiös anmutende, kritiklose Verklärung „der Wissenschaft“ in Teilen der Bevölkerung stützen können. Dies zeigt sich vor allem auf einem weiteren Tummelplatz der Bevormunder: der Ernährung. Gerade hier ist für jeden Standpunkt schnell eine passende Beobachtungsstudie parat. „Die Wissenschaft hat festgestellt“, so die gängige Phrase, dass Fast Food, Süßigkeiten, Limonaden, rotes Fleisch und Chips, aber eigentlich Fett, Zucker, Salz und Kohlenhydrate im Allgemeinen „ungesund“ sind und über enormes „Suchtpotential“ verfügen. Deshalb stehen unsere Ernährungsgewohnheiten unter immer größerer Beobachtung aller möglichen Experten. UN-Offizielle erkennen in „ungesunder Ernährung“ inzwischen sogar eine „größere Bedrohung als Tabak“ [6]. 64 Prozent der Deutschen wünschen sich gar ein Verbot von gesundheitsgefährdender bzw. ungesunder Nahrung [7] – was auch immer das ist. Denn „die Wissenschaft“ ist sich aufgrund der sehr schwachen Datenbasis auf diesem Gebiet alles andere als einig darüber, wie man „ungesunde Ernährung“ eigentlich genau definieren soll. Es gibt unzählige sich zum Teil widersprechende Auffassungen, ein Umstand auf den dankenswerter Weise zuletzt der SZ-Wissenschaftsressortleiter Werner Bartens in seiner Polemik gegen den vorherrschenden Gesundheitswahn Es reicht! Schluss mit den falschen Vorschriften [8] hingewiesen hat. Aber das tut der allgemeinen Verunsicherung in Sachen Ernährung keinen Abbruch. Gerade hier zeigt sich, dass der heutige Paternalismus auch ohne staatliche Akteure in der ersten Reihe prima funktioniert. Zwar gibt es in vielen Ländern der Welt diverse Steuern auf unerwünschte Nahrungsmittel (z.B. auf Chips in diversen US-Bundesstaaten oder auf alle mit Süßstoff oder Zucker angereicherten Getränke in Frankreich) und auch die letztlich von einem Gericht wieder kassierte Gesetzesinitiative des ehemaligen New Yorker Bürgermeisters Michael Bloomberg, große Limo-Becher verbieten zu wollen, hat gewisse Aufmerksamkeit erzielen können. Aber die Ratgeber-, NGO- und Diät-Industrie, deren Geschäftsmodell die Angst der Menschen bei ihrer Nahrungszufuhr ist, dürfte weitaus mehr Einfluss auf die Köpfe und das Verhalten der Menschen haben als staatliche Akteure.

Prostitution

Ganz klassischem Paternalismus in Form immer stärkerer staatlicher Repression sehen sich aktuell in der Sexbranche tätige Menschen ausgesetzt. Die Große Koalition möchte das Prostitutionsgesetz von 2002, das als eines der liberalsten weltweit gilt, umfassend überarbeiten – d.h. verschärfen. Begründet wird auch dies vordergründig „wissenschaftlich“ mit dem Kampf gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel, für dessen Dringlichkeit passende Studien präsentiert werden, die sich allerdings vor allem auf Dunkelfelder und Spekulationen stützen können. [9] Dabei schwingen hier sehr unverhohlen, wie in den guten alten Zeiten des Paternalismus, die Moralvorstellungen der Prostitutionsgegner mit, wie sich bei Alice Schwarzers „Appell gegen Prostitution“ vom Ende letzten Jahres zeigt, der neben ihrem autoritär-feministischen Unterstützerkreis auch in konservativen Kirchenkreisen große Zustimmung fand. [10] Bei keinem der bisher konkret geplanten Vorhaben, dem Verbot von sogenannten Flatrate-Bordellen und dem Verbot von „Gangbang-Partys“, besteht eine logische Verbindung zu den Themen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Ebenso stellen die diskutierten verpflichtenden Gesundheitsuntersuchungen für die Prostituierten und räumliche und hygienische Auflagen für Bordelle zwar massive staatliche Kontrollunterfangen da, diese richten sich aber in den Augen von Prostituiertenorganisationen eher gegen die Prostituierten selbst als gegen die organisierte Kriminalität. [11]

Familienleben

Ein ganz anderer Schauplatz des heutigen Paternalismus ist das Familienleben. Er drückt sich am deutlichsten in der wachsenden Anzahl staatlicher Interventionen in das Leben sogenannter „Problemfamilien“ – vor allem aus einkommensschwachen oder auf staatliche Transferleistungen angewiesenen Bevölkerungsgruppen, die seit vielen Jahren von Politik und Medien u.a. aufgrund ihrer nichtmittelschichtkompatiblen Ernährungs- und Konsumgewohnheiten als „verwahrlost“ oder „asozial“ stigmatisiert werden. Mit Hilfe sozialpädagogischer oder psychologischer Betreuungsangebote und regelmäßigen Hausbesuchen wird zum Teil massiv in das Leben der betroffenen Familien interveniert. So wird etwa immer mehr Eltern im Namen des „Kindeswohls“ das Sorgerecht entzogen, wobei sich allerdings auch die hinterher von Gerichten wieder korrigierten Fehler der Jugendämter immer mehr häufen. Auch die Zahl derer, die von Nachbarn oder Fremden beim Amt angeschwärzt worden sind, wächst – 16.000 allein in Bayern im letzten Jahr, wobei es sich bei einem Drittel der Anrufe um Fehlalarm handelte. [12] An der Popularität dieser Denunziationshotlines und der hohen Fehlalarmquote wird deutlich, welch zersetzende Wirkung der bürokratische Imperativ des modernen Paternalismus auf das Nachbarschafts- und Gemeinschaftsleben ausüben kann. Anstatt Probleme gegenüber dem Betroffenen anzusprechen, verpetzt man ihn lieber
anonym beim Amt.

Johannes Richardt ist Redaktionsleiter der Zeitschrift NovoArgumente in der dieser Artikel zuerst erschien.

Anmerkungen:

5 Pressemitteilung Jahrbuch Sucht 2014: „Public Relation der Suchtgüterindustrie – Zwischen Schein und Desinformation“, 19.05.2014 .

6 UN News Centre: „UN expert urges global regulatory regime to battle artery-clogging junk foods“, 19.05.2014.

7 John Stuart Mill Institut: „Freiheitsindex Deutschland 2013“, S. 10.

8 Werner Bartens: Es reicht! Schluss mit den falschen Vorschriften. Eine Polemik, Weissbooks 2014.

9 Juanita Hennig / Gerhard Walentowitz:  „10 Jahre Prostitutionsgesetz: Mehr Menschenhandel durch Legalisierung von Prostitution?“ in: Kritische Justiz, Heft 4, 2012 (Jahrgang 45).

10 Vgl. Unterzeichnerliste des Appells auf Emma Online.

11 Vgl. die Positionen der diversen Prostituiertenorganisationen wie dem „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“, dem „Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter“ oder dem „Verein für soziale und politische Rechte von Prostituierten Doña Carmen“.

12 Wolfgang Janisch / Charlotte Theile:  „Sorge um das Sorgerecht“ in: SZ, 29.7.2014.

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