Passt England überhaupt zu Europa?

Das herrliche oder – je nach Stimmungslage – unerträgliche Rambazamba im britischen Unterhaus ist vorerst beendet. Zwangsbeendet von Boris Johnson, der als Premierminister das Privileg hat, das Parlament zu suspendieren und dies für ungewöhnlich lange fünf Wochen tat. Normal sind ein bis zwei Wochen, um ein Regierungsjahr abzuschließen und die nächste Regierungserklärung, vorgetragen von der Queen, vorzubereiten. Wie auch immer: Jetzt war die Zeit für ruhigere Einblicke in das politische Leben auf der Insel gekommen. Drei Tage lang wurde vor dem Obersten Gericht des Königreichs argumentiert, ob Boris Johnson durfte, was er tat, und wenn ja oder nein, warum?

Die drei Tage boten nicht nur ruhigere, sondern auch tiefere Einblicke in die Verfasstheit des Königreichs. Und, um gleich eine erste Bilanz zu ziehen: Noch nie habe ich mich so sehr gefragt, ob Großbritannien überhaupt zu Kontinental-Europa und insbesondere zur Europäischen Union passt.

Es beginnt schon damit, dass dieser Supreme Court eines Landes, in dem alles eine vielhundertjährige Tradition hat, gerade mal zehn Jährchen alt ist. Wie ist das überhaupt möglich? Was haben die vorher getan? Na ja, die Jahrhunderte davor waren die obersten Richter Mitglieder des Oberhauses. Sie haben als Law Lords letztes Recht gesprochen, aber eben als Lords und später auch Ladies, die, wie die anderen Adeligen, in der zweiten Parlamentskammer saßen.

Ja, gab es denn kein unabhängiges Verfassungsgericht? Gibt es im Prinzip immer noch nicht. Die obersten Richter von heute sind am ehesten mit unserem Bundesgerichtshof zu vergleichen, der die letzte Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen ist. Das ist auch die eigentliche Aufgabe der Ladies und Lords, die jetzt aufgerufen sind, in Sachen Unterhaus gegen Boris Johnson zu entscheiden. Es ist ein komplizierter Streit, in dessen Mittelpunkt die Frage steht: Hat dieses Gericht in diesem Konflikt überhaupt etwas zu sagen? Darf es sich überhaupt in die Politik einmischen?

Eine lebendige Tradition entwickelt immer neue Lebensformen

Unser deutsches Verfassungsgericht darf das, auch wenn mancher Politiker klagt, dass es sich zu sehr einmischt. Und zwar gerne dann, wenn die Verfassungsrichter ein Gesetz, das der Bundestag beschlossen hat, als verfassungswidrig zurückweisen. Soetwas dürfen die obersten britischen Richter nicht. Oder sagen wir besser: höchst wahrscheinlich nicht. Warum nur höchst wahrscheinlich? Weil in der britischen Verfassung nichts hundertprozentig sicher ist. Sie ist nur stückweise in Stein gemeißelt beziehungsweise aufgeschrieben. Sie lebt von der Tradition, und eine lebendige Tradition entwickelt nun mal immer neue Lebensformen.

Entscheidender aber ist: Das letzte Wort – auch das ist Verfassungstradition – hat in Großbritannien das Parlament. Es ist vom Volk gewählt und in dessen Auftrag der Souverän. Nicht gewählte Richter haben – nach britischer Auffassung – den gewählten Abgeordneten gefälligst nicht ins Handwerk zu pfuschen. Die Gewaltenteilung in England ist nicht die unsere. Sie ist älter, sie ist organischer, also ein bisschen wild gewachsen, sie ist insular.

Jetzt aber stehen oder sitzen elf der eigentlich zwölf obersten Richter unter Führung von Lady Hale of Richmond mitten in einem politischen Disput. Der Anwalt der Regierung sagt: Dieser Disput geht euch acht Lords und drei Ladies einen feuchten Kehricht an. Also gut: So unhöflich hat Richard Keen, selber ein wohlerzogener Lord, das nicht gesagt. Aber er argumentierte, dass die Zwangsverschickung des Parlaments, egal, ob für zwei oder für fünf Wochen, eine rein politische Entscheidung war, die dem Premierminister zusteht, und die nicht justiziabel ist, also vor kein Gericht gehört, auch nicht vor das oberste.

Das sah David Pannick, ebenfalls ein wohlerzogener Lord, mit Verlaub, ganz anders. Er und seine Mitstreiter aus Schottland sahen in der verlängerten Beurlaubung einen unlauteren Versuch des Premierministers, seine Brexit-Politik durchzusetzen und dabei der Kontrolle durch das Parlament auszuweichen. Ein solcher Versuch, sagte er, stellt die (ungeschriebene) Verfassung auf den Kopf. Denn die sagt nun mal: Das Parlament kontrolliert die Regierung, und diese Kontrolle kann nicht willkürlich ausgeschaltet werden.

Es geht also um eine Verfassungsentscheidung, und die Damen und Herren des Obersten Gerichts müssen nun doch in die Rolle von Verfassungsrichtern schlüpfen. Es sei denn, sie sagen, wie der Anwalt der Regierung: Das ist nicht unsere Rolle. Das ist Politik und sonst gar nichts. Geht uns nichts an. Machen sie sich aber für das Parlament stark und erklären Johnsons umstrittene Zwangsbeurlaubung des Parlaments für unzulässig, weil verfassungswidrig, dann sind sie eben doch Verfassungsrichter, auch wenn das nicht in ihrem Arbeitsvertrag steht. Und als solche schaffen sie eine neue Verfassungswirklichkeit. Ein Schock oder ein Meilenstein im Verhältnis zwischen Parlament und Regierung. 

Seit langem eine dicke Kröte

Ab und zu sind die Lords und Ladies allerdings jetzt schon Verfassungsrichter, wenn nämlich britische Gesetze mit den Gesetzesvorgaben der Europäischen Union abgeglichen werden müssen. Aber allein dieser Vorgang läuft der britischen Tradition zuwider: Das souveräne Parlament, das sich daheim die Richter möglichst vom Hals hält, muss sich den fernen Richtern auf dem Kontinent beugen. Das ist seit langem eine dicke Kröte, die da in London geschluckt werden muss.

Und noch etwas: Die Argumente der Anwälte vor den Ladies und Lords glichen einer Wanderung durch frühere mehr oder weniger exakt passende Entscheidungen anderer Gerichte in mehr oder weniger ähnlich gelagerten Fällen. Nicht Paragraphen nach kontinental-europäischer Art waren die schlagenden Argumente der Anwälte, sondern ältere Entscheidungen, die als Präzedenzfälle präsentiert wurden. Auch in der Art der Rechtsfindung gleicht der Kanal, der die Insel von Europa trennt, einem Ozean.

Mit anderen Worten: Für den Beobachter aus Deutschland, der allerdings selber viele Jahre in England gearbeitet hat, tat sich wieder eine Welt auf, deren Schnittmenge mit der kontinentalen ziemlich gering ist. Da war Demokratie von fast wilder Ursprünglichkeit zu sehen, ein archaisch anmutendes Chaos auf langen grünen, zwei Schwertlängen voneinander getrennten Bankreihen, ein ganz eigenes Verständnis von Gewaltenteilung und eine altehrwürdige, selbstbewusste und andersartige Rechtsfindung. Es war ein kontinentaler Blick auf eine Insel – nicht nur in geografischer Hinsicht.

So schön die gemeinsame Basis der Demokratie und der Menschenrechte ist, auf der wir stehen – beides wird doch sehr unterschiedlich gelebt. Es ist kein Wunder, dass zwei verwandte, aber doch so verschieden gewachsene Gestalten große Schwierigkeiten haben, miteinander in einer immer engeren Union zu leben. Dass man zusammenzog, war eine politische Entscheidung, aber es war von Beginn an eine angespannte Wohngemeinschaft. Die Scheidung, die jetzt ins Haus steht, kommt nicht als Überraschung. Man hat versucht, sich zusammenzuleben. Aber man blieb, wie im Film Walter Matthau und Jack Lemmon, ein seltsames Paar.

Der Preis, den die EU und die Insel als Scheidungskosten zahlen müssen, lässt sich noch nicht beziffern. Aber Scheidungen tun immer weh und sind immer teuer. Mir tut die Scheidung ganz persönlich weh. Ich meine, dass England, gerade weil es so anders ist, dem bewegungsarmen und selbstgerechten Kontinent auch in Zukunft gut getan hätte. Aber die letzten Monate haben auch mir gezeigt, dass die Zeit der Scheidung wohl gekommen ist. 

Es sei denn, alles kommt ganz anders. Überraschungen gehören auch zum britischen Make-up. Das starre Ordnungs- und Planungswesen, das in Deutschland (mit Ausnahme Berliner Flughafenbauer) oberste Priorität hat, steht im Wertekatalog der Briten einige Stellen tiefer. Wer sich die Briten weiter als EU-Partner wünscht, muss noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Wer weiß, was demnächst die Wahlen bringen. Aber das ist, wie der wettende Brite sagt, ein long shot. Manchmal wächst eben doch auseinander, was nicht zusammen gehört.            

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Leserpost

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herbert binder / 21.09.2019

“GB ist einfach antiquiert!”, schreibt ein Leser, und meint das eher negativ. Nie aber waren Antiquitäten wertvoller als heute, deshalb ist gute Pflege das Gebot der Stunde, liebe Briten. Welcher Kobold mir da im Nacken sitzt - ich weiß es nicht. Aber mir täte eher ein Scheitern des Ausstiegs weh, lieber Herr Bonhorst, weil ich daran glaube, daß die Briten im Fall des Falles den Dreh bekomnen werden und als wieder souveränes Land viel bessere und größere Wirkung entfalten können. Quasi als leuchtendes Beispiel - “geht doch!” In EUropa wirst “du” nur zermahlen, heruntergebrochen.

Ulv J. Hjort / 20.09.2019

Die briten gehen ! Ein grosser verlust fuer Europa und zum schaden fuer die insel UND fuer Resteuropa . Ich bedaure diesen schritt sehr . Besonders aus der sicht meines heimatlandes , Danmark .  Fehlt jetzt nur noch ,dass die Tuerkei nachrueckt . Dann bin ich restlos bedient ...Das schlimme ist obendrein , dass eure mutti nicht ganz unschuldig an der misere ist . Die “fluchtligspolitik ” dieser tante , haben die nøtigen paar prozente nein stimmen gebracht .

Georg Winter / 20.09.2019

Wie kommen der Autor nur auf die Idee, dass ein Supermarktbetrieb stattfinden wird, wenn die elektronischen Registrierkassen außer Betrieb sind?

Gabriele Klein / 20.09.2019

Ja, die EU scheint die einzige “krumme”  Gurke auf dem Gurkenmarkt….. und die Engländer, ja die Engländer mögen halt keine “krummen” Sachen…...

Dragan Isakovic / 20.09.2019

“Für den Beobachter aus Deutschland, der allerdings selber viele Jahre in England gearbeitet hat, tat sich wieder eine Welt auf, deren Schnittmenge mit der kontinentalen ziemlich gering ist.” Als Beobachter mit internationalem Hintergrund, der inzwischen in Südamerika lebt, stelle ich fest, das die Schnittmenge zwischen Deutschland und dem Rest Europas ziemlich gering ist und erkenne, das selbst EU-kritische Deutsche ohne nationalistische Attitüden größte Probleme haben, Deutschland neutral zu betrachten und seine Werte nicht als Maßstab für Europa zu nehmen. Muss man wirklich andere europäische Staaten aufzählen, von Spanien bis nach Russland, um das zu verdeutlichen? Deutschland ist nicht Europa, nur weil es seit 20 Jahren die Gremien der EU dominiert. Das werden die Deutschen hart zu spüren bekommen, sobald es die Transfers über die EU/EZB nicht mehr stemmen kann.

B.Kröger / 20.09.2019

Ach ja, leider begreifen viele unserer sich kosmopolitisch kostümierten Landsleute die Unterschiede in dieser Welt nicht. Und in diesem Kostüm voller Missverständnisse wollen sie mal wieder die Welt retten. Rette sich, wer kann. Ich verstehe die Briten gut! Es ist schon traurig.

Ilona G. Grimm / 20.09.2019

@Max Wedell: Womöglich werden Sie demnächst strafrechtlich belangt, wenn Sie die EU diffamieren. (“Moloch EU”). In den 13.00 Uhr-Nachrichten heute auf Bayern 1 habe ich gehört, dass irgendein Elitepolitiker verlangt, dass künftig die Diffamierung der EU strafrechtlich verfolgt werden müsse. Da frage ich mich, was aus GG 5 geworden ist.  // Majestätsbeleidigung ist (dank Böhmermann) abgeschafft; Jesus Christus und seine Lehre darf nach Herzenslust diffamiert und seine Anhänger von Muslimen bedroht, bedrängt, verfolgt werden; Deutschland und seine Insignien dürfen verunglimpft werden (siehe Merkels Umgang mit der deutschen Fahne und Hymne; dt. Parlamentarier folgen Parolen wie „Deutschland verrecke“ und „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ – und sitzen als VP Parlamentssitzungen vor! Und leben von deutschen Steuerzahlungen.) ...... Aber die EU ist – wie der Islam und sein Prophet – sakrosankt!  // Eigentlich weigere ich mich, das zu glauben. Aber der erste April ist heute nicht.

Dr. Gerhard Giesemann / 20.09.2019

Nein! Ich will das nicht!. No divorce! I want them back, the silly buggers! I need you so, my darling, I miss you right now ... . Don’t break my heart, please stay with me, ... . Kann achgut das zitieren lassen, abkupfern, streuen bei den limeys, war es nicht Churchill, der gesagt hat: we will never surrender, we will fight them on the hills, we will fight them on the beaches ... . We will never surrender.  Blast denen in Brussels den Marsch - mais nous ne quittez pas, verlasst uns nicht. Noch flammender kann ich es nicht, Herrgott noch mal. Europa ohne die Brits, fahrt zur Hölle, idiots. What is life? A tale, told by an idiot, full of sound and fury, signifying: nothing.

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