Alle Jahre wieder kommt ein Politiker daher und fordert eine Änderung des Wahlrechts. Mal geht es um Wahlgerechtigkeit, mal um Inklusion und immer darum, mehr Wähler und Stimmen zu mobilisieren.
Eine überparteiliche Initiative von Grünen, Sozial- und Christdemokraten machte vor Jahren den Anfang: Jedes Kind sollte von Geburt an ein Wahlrecht haben, das von den Eltern treuhänderisch ausgeübt würde, bis das „Kind“ 18 wird. Die ehemalige Familienministerin Manuela Schwesig schlug die Einführung eines „Familienwahlrechts“ vor, bei dem „ein Elternteil pro Kind eine zusätzliche Stimme“ bekäme. Ein Ehepaar mit drei Kindern hätte dann fünf Stimmen.
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Burkhard Lischka, fand, es sei „höchste Zeit, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung wählen können“. Denn: „Wählen ist ein Grundrecht“, das auch Menschen, die eine „Vollbetreuung“ brauchen, nicht vorenthalten werden dürfe.
Zuletzt hat, anlässlich der 100. Jahrestages der Einführung des Frauenwahlrechts, der Volljurist und stellvertretende Präsident des Bundestages, Thomas Oppermann, SPD, gefordert, die Zahl der Wahlkreise sollte verkleinert und in jedem Wahlkreis ein Mann und eine Frau direkt gewählt werden.
Heute Mann und morgen Frau
Der Vorschlag ist hilfreich, aber noch nicht ausgereift. „Mann“ und „Frau“ sind, wie wir inzwischen wissen, keine biologischen Tatsachen, sondern soziale Konstrukte. Und zwischen Mann und Frau gibt es inzwischen mindestens 70 Gender-Optionen, eine davon heißt „gender-fluid“ und bedeutet, dass man und frau täglich neu entscheiden kann, ob er bzw. sie ein Mann oder eine Frau sein will.
Hinzu kommt: Im Bundestag sitzen nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Christen und Atheisten, Muslime und Juden, Buddhisten und Zarathustrier, Vegetarier und Karnivoren, Menschen mit Laktoseintoleranz und Glutenunverträglichkeit, Raucher und Nichtraucher, Alkoholiker und Abstinenzler, Radfahrer und Petrolheads, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund – und jede dieser Gruppen hätte einen Anspruch darauf, paritätisch im Bundestag vertreten zu sein.
Es würde die Debattenkultur enorm beleben. Nur müsste das Hohe Haus umbenannt werden: in Deutscher Paritätischer Bundestag.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche