Am Sonntagmorgen weckt mich die Pariser Sonne und ich schlurfe zum Espressoautomaten, um ihn vorzuwärmen. Das ist so mein Morgenritual, mit dem duftenden Kaffee erst mal Achse lesen. Doch heute stört etwas die Ruhe, es schnurrt immer noch ein Hubschrauber irgendwo über uns – ach, heute ist Paris-Marathon. Also nichts wie in die Laufschuhe und ab zum Champs Elysée.
Draußen wimmelt es heute von Joggern, die mit Ihren Unterstützern in Richtung Etoile pilgern. Ein Gott hatte erbarmen und aus dem miesen Wetter von Gestern ist herrlicher Sonnenschein geworden, die Temperatur war schon früh auf 16 Grad gestiegen. Ich halte nach den Gendarmen und der Armee Ausschau – alles wie sonst. Mutig, diese Pariser.
Auf der schönsten Straße der Welt haben sich etwa 50.000 Läufer und ebenso viele Zuschauer versammelt. Als ich ankomme, starten gerade die Handicap-Roller. Während sich ein Gymnastik-Gogo-Girl auf einem Podest verrenkt, um die Massen anzuheizen, bestaune ich die Pompier, die Pariser Feuerwehrleute. Sie gehören in Frankreich zur Armee, müssen regelmäßig mehrmals die Woche joggen und stellen in ihren roten Laufshirts die größte und beliebteste Läufer-Gruppe. Die Pariser lieben ihre Feuerwehr, hilft sie ihnen doch aus so mancher Bredouille.
160 Nationen sind vertreten. Der Lauf führt über 42,195 km zweimal quer durch Paris vom Arc de Triomphe auf der Champs Elysées vorbei am Louvre zur Bastille (km5), weiter zum östlichen Stadtwald Bois de Vincennes, zurück entlang der Seine zur Notre Dame (km 25), zum Eiffel-Turm (km 30) und über den westlichen Stadtwald Bois de Bologne zum Ziel auf der Avenue Foch. Für potentielle Neider: der schönste Teil dieser Strecke im Zentrum ist meine morgendliche Joggingtour. Wenn man die Kilometer aller Teilnehmer zusammenrechnet, kommt mit 1 744 425km zweimal die Strecke zum Mond und zurück heraus. „Pas mal du tout“, wie der Franzose gerne untertreibend sagt: „gar nicht so schlecht“.
Ich drängle mich durch die fröhlichen Massen. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Für die Irren vom Daesh ist das hier ein ideales Ziel. Boston fällt mir ein. Da war ich gerade, als es passierte. Wie asymmetrisch muss ein Krieg sein, wenn jemand sich solche friedlichen und wehrlosen Menschen aussucht, um sie in die Luft zu sprengen? Überhaupt, wie blöd muss Derjenige sein, sich auf das Entjungfern einer knappen Hundertschaft Mädchen zu freuen?
Ein paar Dreiergruppen der Police National sind mir schon begegnet. Auch glaube ich diesen oder jenen Zivilbeamten zu sehen, der sich unauffällig unter die Zuschauer gemischt hat. Später erfahr ich, dass es 3000 freiwillige Sicherheitsbeobachter „Vigiles de Securité“ gibt, die vorher geschult ihre Augen und Ohren offenhalten. Die am Ziel deponierten Gepäckstücke der Läufer werden mit Metalldetektoren gecheckt. Na ja, mulmig bleibt es doch, besonders in der Start- und Zielzone. « Nein, in keinem Moment war es eine Frage für uns, das Marathon zu annullieren, genauso wenig wie die Fußballmeisterschaft 2016 oder die Tour de France. Diese Frage stellt sich nicht », sagte Yann Le Moenner am 31 März, der Generaldirektor der Amaury Sport Organisation (ASO), die das Marathon organisierte.
Ich habe heuer kein Marathon-Dossier, meine Knie sagten eindeutig und mehrmals nein, als ich darüber spekulierte. Aber jetzt ist Start, der Laufreflex kommt. Also laufe ich wenigstens den ersten Kilometer auf dem Champs Elysée bis zum Place de la Concorde mit. Zügig geht es vorbei an einer dreißig köpfigen Drum-Band, die einen enormen Alarm macht, der richtig in die Beine geht. Dann biege ich ab zur Seine, um durch die Abkürzung von 30 Kilometern rechtzeitig mit den Siegern am Ziel auf der Avenue Foch zu sein.
Von den 50.000 Läufern wird mit 10.000 Abbrechern gerechnet, die buchstäblich „auf der Strecke bleiben“ und enttäuscht nach Hause humpeln. Das ist bei Weitem keine Schande. Wer je den Kilometer 36 erlebt hat, wird mir zustimmen.
Gesiegt hat der Kenianer Cyprian Kotut in 2 Stunden 7 Minuten und 10 Sekunden. Er spurtete einer Gruppe von neun Afrikanern vier Kilometer vor dem Ziel in einem Endspurt davon. Wie ein Mensch so etwas kann, wird mir ein ewig Rätsel bleiben. Aber eins steht fest: die Afrikaner sind beim Marathon genetisch besser drauf, als wir Europäer. Als Cyprian durchs Ziel gelaufen war, fiel er auf die Knie und bekreuzigte sich. Dann stand er auf und ging locker auf die wartenden Reporter zu. Der Kerl war nicht mal außer Atem.
Bis zum Abend sind die Terrassen der Brasseries im Zentrum mit erschöpften Läufern besetzt, die stolz ihre Finisher-Shirts und die untertassengroßen Medaillen mit gutem Essen und Wein feiern, fotografiert von amerikanischen und chinesischen Bewunderinnen. Nicht alle federn so elegant wie Cyprian, einige hinken und humpeln, dass es zum Gotterbarmen aussieht. Aber morgen ist es schon besser und der Stolz bleibt erhalten: „Ich habe das 40igste Marathon de Paris gelaufen“.
Das Marathon de Paris ist 2016 ohne Attentat davongekommen - dank den Gendarmen, der Polizei und den vielen Freiwilligen. Im Vorfeld war in einem Pariser Vorort ein ganzes Waffenarsenal ausgehoben worden.
Das Paris-Marathon kann jeder Gesunde mitlaufen, hier gibt es keine Diskriminierung. Man muss sich nur aufraffen und ein Jahr lang mehrmals die Woche trainieren. Und 42,195 Kilometer joggen ist auch gut gegen die stockdämliche Lust auf 72 Jungfrauen im Paradies.