In öffentlichen Verkehrsmitteln in Paris ereignete sich zum zweiten Mal binnen weniger Wochen ein antisemitischer Angriff. Selten wird dagegen eingeschritten.
Der öffentliche Personennahverkehr wird für Frankreichs Juden immer mehr zu einem angst- und risikobesetzten Raum. Nachdem am 6. August ein Rentner in Montpellier in der Straßenbahn beschimpft, bedroht und zusammengeschlagen worden war, weil er – fälschlich – für einen Juden gehalten wurde (möglicherweise aufgrund des traditionellen Huts, den er zum Tatzeitpunkt trug), kam es rund eine Woche später, am 14. August, zu einem antisemitischen Übergriff in der Pariser Metrostation Richelieu-Drouot:
Ein Mann sprach auf aggressive Weise eine religiöse jüdische Familie an, beleidigte und bespuckte sie. Empört über die antisemitischen Äußerungen des Angreifers – eine davon lautete „Hitler hatte recht“ – filmte eine 25-jährige Frau die Szene. Der Mann, der im Gang der U-Bahn hin- und herlief, brüllte mit heiserer Stimme:
„Ihr tötet Kinder, ihr Judenbande. Bastard, deine Mutter, die Hure. Ihr tötet Kinder. Bastard, Drecksau, Hurensohn. Ich ficke deine Toten.“
Als die filmende Frau den Mann zum Schweigen aufforderte und von diesem ebenfalls verbal beflegelt wurde, erstattete sie Anzeige bei der Polizei. Nach wenigen Stunden Ermittlung wurde der Täter verhaftet. Nachdem der private Nachrichtensender BFM TV über den Vorfall berichtet hatte, griffen auch Tageszeitungen wie Le Figaro den Vorfall auf.
Das Video veranschauliche den Anstieg des Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober 2023 zu verzeichnen sei, kommentierte Vincent Vantighem, Polizei- und Justizreporter von BFM TV. Nun erhalte die Frau Unterstützung, doch zu ihrem Bedauern habe ihr niemand geholfen, als sie in der Metro den Mann zur Rede stellte: „Ich konnte nicht schweigen, die Worte kamen aus meinem Mund, weil ich eingreifen musste, aber ich war die Einzige, die eingriff, und ich hatte Angst. Schließlich verließ der Mann die Metro, niemand griff ein.“
Ein Nutzer namens Jérémy Benhaïm kommentierte auf X:
„Wieder einmal werden wir feststellen, dass die U-Bahn-Passagiere (erschreckenderweise) keine Reaktion zeigten, mit Ausnahme dieser mutigen Frau, die wusste, wie man die Situation wieder in Ordnung bringt. Genauso sollte man auf Antisemiten reagieren. Es sollte ihnen niemals erlaubt sein, solche Kommentare öffentlich abzugeben. Niemals. Bravo an sie!“
Gegenüber Le Figaro erzählte die Frau: „Er fing an, Leute zu beleidigen. Er griff eine jüdische Familie an. Ein junges Mädchen und ihre Eltern. Er hat sogar den Vater angespuckt. Er hat mich auch angegriffen.“
Bei ihrer Anzeige erklärte ihr ein Polizeibeamter, dass dieser Mann nicht „in seinem normalen Zustand“ zu sein scheine und er „wahrscheinlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln“ stehe. Die Frau hofft, dass dies nicht als mildernder Umstand gewertet werden wird. „Das ist kein Grund, solche schrecklichen Dinge auszusprechen.“
Jeder dritte Jugendliche rechtfertigt Angriffe
Am 9. August fand im Pariser Marais-Viertel eine Gedenkzeremonie für die Opfer der Anschläge in der Rue des Rosiers statt, in der am 9. August 1982 ein palästinensisches Terrorkommando das jüdische Restaurant Jo Goldenberg mit einer Handgranate und Maschinenpistolen angegriffen hatte. Sechs Menschen wurden getötet, zwanzig verletzt. Bei der Gedenkrede sagte Innenminister Gérald Darmanin, antisemitische Taten hätten sich seit dem 7. Oktober 2023 verdreifacht, 887 Taten wurden allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres erfasst.
In einer vom Meinungsforschungsinstitut IFOP für den französischen Zweig des American Jewish Committee (AJC Paris) im Mai durchgeführten Umfrage gaben 86 Prozent der französischen Juden an, seit letztem Oktober mehr Angst davor zu haben, Opfer antisemitischer Angriffe zu werden, 56 Prozent empfinden sehr große Angst. 73 Prozent sind selbst schon antisemitisch beschimpft, 32 Prozent in den sozialen Medien bedroht worden.
Seit 2019 wurde laut der Umfrage fast jeder fünfte (18 Prozent) französische Jude körperlich angegriffen. 44 Prozent gaben an, keine religiösen Symbole mehr zu tragen; jeder Fünfte hat seine Mesusa von der Wohnungstür entfernt; sechzehn Prozent geben bei Essenslieferdiensten einen falschen Namen an, um ihre jüdische Herkunft zu verbergen.
In einer Pressemitteilung wies das AJC Paris darauf hin, dass die Zahl der tatsächlichen antisemitischen Taten wahrscheinlich höher sei als die offiziell vom Innenministerium und dem SPCJ (Sicherheitsdienst der jüdischen Gemeinden) registrierten.
Anne-Sophie Sebban-Bécache, Direktorin des AJC Paris, sagte bei der Präsentation der Umfrage, in den letzten zwanzig Jahren habe ihre Organisation „Alarm geschlagen und auf die Gefahren hingewiesen, die für Frankreich und seine Juden von einer neuen Form des als Antizionismus getarnten Antisemitismus“ ausgingen. Seit dem 7. Oktober habe sich dieser explosionsartig verbreitet:
„Es ist keine Überraschung, dass die Jugend am stärksten betroffen ist. Es gibt einen klaren Generationenwechsel in der Wahrnehmung der Franzosen von Juden und Israel. Der bösartige Diskurs, der jahrzehntelang darauf abzielte, Juden, Zionismus und Israel zu Synonymen für Unterdrücker, Rassismus und Siedlerkolonialismus zu machen, hat sich ausgebreitet und ist für die jüngere Generation zur neuen Normalität geworden, wobei 35 Prozent der 18- bis 24-Jährigen erklären, es sei gerechtfertigt, Juden anzugreifen, weil sie Israel unterstützen.“
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Mena-Watch.
Stefan Frank, geboren 1976, ist unabhängiger Publizist und schreibt u.a. für Audiatur online, die Jüdische Rundschau und MENA Watch. Buchveröffentlichungen: „Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise“ (2009); „Kreditinferno: Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos“ (2012).