Manfred Haferburg / 19.03.2020 / 11:00 / Foto: Cezary p / 43 / Seite ausdrucken

Paris 20:00 Uhr – Ovationen für alle Mediziner

Wir sitzen beim Abendbrot und die Uhr schlägt achtmal. Plötzlich ruft meine Holde ganz aufgeregt: „Es ist 20:00 Uhr – klatschen.“ Sie reißt das große Fenster auf und ich glaube zu hören, dass gerade die Opera Garnier ihren Vorhang nach einer gelungenen Aufführung senkt. Auf den Pseudo-Balkonen der Wohngebäude um uns herum stehen hunderte von Menschen und klatschen Beifall.

Die 20:00 Uhr Beifalls-Sitte ist aus Spanien nach Frankreich übergeschwappt. In einem Madrider Viertel gab es ein großes Krankenhaus. In dem kämpft das medizinische Personal um das Leben der Corona-Erkrankten. Und irgendein emotional kluger Kopf kam auf die Idee, den Schwestern und Ärzten um 20:00 Uhr auf den Balkonen für ihre selbstlosen Bemühungen ein wenig Beifall zu zollen. 

Die sozialen Medien machten ihrem Namen Ehre, und nach wenigen Tagen war das Klatschen bis ins Krankenhaus zu hören. Die Mediziner hielten inne und traten ans Fenster. Und klatschten mit. Und freuten sich, dass ihre Leistung anerkannt wird.

Es mag trivial klingen. Ich stand heute Abend an meinem Pariser Fenster bis ins Innerste gerührt. Seit zwei Tagen haben wir jetzt Ausgangssperre. Die Leute halten sich daran, die Stadt ist wie ausgestorben. Als ich gestern zum Supermarkt gehen wollte, allein – weit und breit kein Mensch, stoppte mich eine Polizeistreife: „Mein Herr, haben Sie einen Bestätigungsschein?“ Freundlich wurde mir erklärt, dass ich mir den auf der Regierungsinternetseite selbst ausstellen könnte und ich durfte Einkaufen gehen – vive la tolérance! 

„La tolérance“ – die Mutter der französischen Nation 

Als ich nach Hause kam, traf ich unseren Nachbarn, den Herrn Gaston im Hausflur. Er ist 83 Jahre alt und war ganz aufgeregt. Auch ihn hatte eine Polizeistreife gestoppt. Er wusste nicht, wie er ohne Computer und Internet an die „Attestation de déplacement dérogatoire“ kommen sollte. Ich vertröstete ihn erstmal mit dem Hinweis auf „la tolérance“ – die Mutter der französischen Nation. 

Später erzeugte die Holde an ihrem Laptop für mich und Herrn Gaston je einen kleinen Stapel von Ausgeh-Erlaubnisscheinen, auf denen wir ankreuzen konnten, ob wir zum Einkaufen, zur Arbeit, zum Arzt oder zum individuellen Sport gehen. Gassi gehen mit dem Hund ist auch erlaubt, aber bitte nur mit Hund. Herrn Gaston kamen fast die Tränen, als ich ihm die Zettel zur Tür seiner Miniwohnung in die sechste Etage brachte.

Die ganze Geschichte vom Klatschen mag dem verehrten Leser ein wenig trivial vorkommen, unnötig, sehr gefühlig, vielleicht gar kitschig. Doch ich wage hinsichtlich der Corona-Krise mal eine Prognose. 

Corona und das, was danach kommt, wird uns wahrscheinlich wieder eine Bescheidenheit und Demut lehren, die uns in den letzten Jahren ein wenig abhandengekommen ist. Wenn es ans Eingemachte geht, dann werden wir nämlich plötzlich dankbar für die kleinen Sachen. Die Italiener singen in ihrer Not gemeinsam mit ihren Nachbarn, zu denen sie nicht mehr gehen können, auf ihren Balkonen. Die Spanier und Franzosen zollen dem medizinischen Personal ihre Dankbarkeit mit Beifall, an den offenen Fenstern. 

Wenn wir gemeinsam klatschen, dann sind wir zusammen – auch wenn ein paar Meter Abstand uns trennen. Das tut nicht nur den Geehrten gut, sondern auch den Beifallklatschern – es tut uns gut, wenn wir gemeinsam anderen Gutes tun. Und vielleicht schwappt ja diese gute Sitte von Frankreich nach Deutschland über. Es wäre den Deutschen zu wünschen.

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Frances Johnson / 19.03.2020

Vive la France!

Eugen Richter / 19.03.2020

Kann man nicht einfach mal eine ehrliche, spontane und freiwillige Geste als das annehmen was sie ist? Danke, dass es euch gibt. Aber nein, Mäkeln, nörgeln und Erbsen zählen.

Friedrich Richter / 19.03.2020

@Frau Wilhelmi, das ist nicht irre, sondern das ist eine eidesstattliche Erklärung. Ich lebe in Frankreich und praktiziere das seit drei Tagen, und es funktioniert. Es ist ein wirksames Mittel zur Selbstdisziplinierung in dieser Situation, die wohl keiner von uns genau einschätzen kann. Die meisten in meiner Umgebung halten sich daran und können auch weiterhin, ohne sich zu schämen, in den Spiegel schauen. Wenn ich Ihre Ansicht lese, selbst ohne zu wissen, ob sie repräsentativ ist, bin ich ganz froh, dass die Grenzen zu Deutschland scharf kontrolliert werden.

Bernd Schreller / 19.03.2020

@Mandy Freitag. ???. Was schreiben Sie denn da? Ich schrieb, dass man auch bei den Billigarbeitern bedanken soll. Und Sie als Ärztin machen mich an? Wieso fühlen Sie sich deswegen angep…t? Sehr seltsam, was da in Ihnen vorgeht.

Eleonore Weider / 19.03.2020

Passend dazu habe ich gerade ein Video erhalten, wo ein Deutscher auf einem Balkon das Lied anstimmte: Hast heute Zeit für mich - die Antworten waren: RUHE!!!!!! Es ist Mittagspause !!!!! Kennst du die Hausordnung nicht!!!!! Ich hol die Polizei!!!!!! Ich glaube nicht, das es hier so funktionieren kann obwohl es allemal wünschenswert wäre, die Leute auch zu loben, die in diesen Zeiten ihren Kopf für uns hinhalten.

Mattes Schütz / 19.03.2020

Lieber Herr Haferburg, Ich lese ihre Artikel schon seit einigen Jahren. In diesen taumelnden Zeiten waren sie mir, und sicherlich vielen Menschen da draußen, eine große Hilfe. Das fürchterlich missachtete Personal in Pflege und Medizin bekommt jetzt endlich seine überfällige Wertschätzung, hoffentlich bleibt was davon hängen. Mit dem Veröffentlichen von informativen und teils köstlichen Beiträgen rettet man keine Leben, man baut seine Leser aber zumindest ein bisschen auf und die können dann wiederum für ihr Umfeld stark sein. Sie leisten einen sehr wichtigen Beitrag. Den, den andere trotz geplanter Beitragserhöhung nicht leisten wollen.

B.Rehfeldt / 19.03.2020

Bei aller Ungewissheit und teilweise auch Ängsten um meine 89 jährige Mutter durch das Virus, ich hoffe , dass ein Umdenken erfolgt. Die Frage, was ist wichtig im Leben, stellt man sich schon nach einer schweren Erkrankung, und nimmt sich vor, bewusster zu leben. Der Alltag ist allerdings schnell wieder präsent und die guten Vorsätze dahin. Diese Pandemie aber ist ein so einschneidendes Ereignis, dass es wahrscheinlich bei vielen doch zu einem veränderten Denken führen wird. Eine Erkenntnis habe ich jetzt schon gewonnen, es gibt im Moment Berufe, ohne die das ganze Geschehen nicht händelbar wäre. Krankenschwestern, Ärzte, Pfleger, Verkäuferinnen, LKW Fahrer, Lagerarbeiter, Polizisten usw.  Aufgefallen ist mir, dass niemand Sawsans, Saschas, Antons, Kathrins , Claudias usw. vermisst ( Nachnamen bitte einsetzen) Umschulungen wären eine Idee für dieses Klientel, um oben genannte Gruppe zu entlasten.

Heiko Engel / 19.03.2020

In Deutschland ?!? Sicher ist Kerzenkette um Binnenalster, Betroffenheits - und Erregungsjournalismus, Terroristen mit Plüschteddy am Hauptbahnhof begrüßen, mit unbezahlter und zu großer Karre rumfilmen, NSDAP 2.0 wählen, Sozialismus 3.0 implementieren, Baerbumms zur Bundeskanzlerin machen, ständig über die eigenen Verhältnisse leben und anderer typisch piefketesker Schwachsinn. Nach dem beliebten deutschen Motto: NIVEAU ? Ist ein Badeort in Frankreich. Aber es wäre und bleibt ein schöner Traum, wenn bürgerliches Bewusstsein, gepaart mit Herz, Verstand UND Niveau in diesem Land einmal gelebt werden würden. Aber DAS bleibt einTraum. Zumindest die nächsten 250.000 Jahre.

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