Von Professor Walter Krämer
Politik macht Panik. Und Panik macht Politik. Fangen wir mit dem zweiten an. Wäre am 14. Juli 1789 bei dem dilettantischen Versuch einer erbosten Volksmenge, aus einem Pariser Luxusgefängnis irgendwelche Waffen zu entwenden, unter den Konfizierern keine Panik ausgebrochen – die Weltgeschichte wäre vielleicht anders abgelaufen. Wenn man dem Historiker Gerhard Prause glauben darf, war es vor allem eine Panik unter den Belagerern, die zu einem völlig unnötigen Gemetzel in der Bastille und zu dem Mythos von deren Erstürmung führte – in Wahrheit wollte die aus einigen Invaliden bestehende Besatzung die Festung kampflos übergeben.
Dergleichen Massenpaniken sind aber eher selten. Der Normalfall ist Panik als individualpsychologisches Phänomen. Man hat Angst, und weil man Angst hat, tut man Dinge, die man sonst nicht täte. Nach diesem Prinzip funktioniert die Katholische Kirche seit fast 2000 Jahren ganz ausgezeichnet. Und es wäre fast schon ein Wunder, würde dieser Mechanismus nicht auch von anderen interessierten Kreisen im privaten und öffentlichen Leben ausgenutzt. Von politischen Parteien sowieso, aber auch von anderen. Im Deutschen Ärzteblatt war Ende der 80er Jahre zu einem Fehler in der AIDS – Statistik, durch den die aktuellen Krankenstände höher erschienen, als sie damals wirklich waren, schwarz auf weiß zu lesen: „Wenn die Kumulierung zu diesem Effekt beiträgt [der Verbreitung von Angst in der Bevölkerung und damit der Bereitschaft von Geldgebern, die Aids-Forschung zu fördern], dann sollten wir es noch eine Weile dabei belassen.“
Aber wer redet heute noch von AIDS? Die Gefahr durch diese Seuche hat zwar im Weltmaßstab gewaltig zugenommen, aber die meisten Opfer leben weit weg, und die potentiellen Opfer hierzulande haben inzwischen verstanden, was sie schon von Anfang an hätten wissen können, nämlich daß AIDS eine der am leichtesten zu verhütenden Krankheiten ist, die es überhaupt nur gibt.
Nach AIDS kam der Asbest. Anders als das Betrachten von Pornoheften, für das wir ins Fegefeuer kommen, ist das Inhalieren von Asbestfasern tatsächlich gefährlich. Z.B., wenn man es in großen Mengen tut. Aber was ist eine große Menge? Der Eingreifwert für eine Asbestsanierung ist eine Belastung von 1000 Fasern pro Kubikmeter Luft (zum Vergleich: die sogenannte MAK-Liste hält eine Belastung von 250.000 Fasern pro Kubikmeter Luft für ungefährlich). Wenn wir einem Menschen, der dieser Belastung ein Jahrzehnt lang unterliegt, ein Risiko von 1 zuordnen, dann hätte Tod durch Blitzschlag den Risikowert drei, ein tödlicher Fahrradunfall 75, ein ebensolcher Fußgängerunfall 290, ein Flugzeugabsturz 730 und der Tod durch Lungenkrebs 8800. Das Krebs-Risiko von Kindern, deren Eltern rauchen, ist durch Passivrauchen etwa hundertmal höher als die Krebsgefahr durch Asbest in einem Schulgebäude. Die durch die Medien ausgelöste Asbest-Panik war eine der unsinnigsten Geldvernichtungsaktionen der Nachkriegsgeschichte in Deutschland, aber auch in anderen reichen Industrienationen, und die einzigen, denen die Asbestsanierung wirklich geholfen hat, waren die Asbestsanierer selbst.
Die Zeitschrift Science hat für die USA errechnet, daß dort höchstens 1 Mensch von 10 Millionen jährlich durch erhöhte Asbestbelastung in den Schulen stirbt. Dagegen kommen unter 10 Millionen Schülern mehr als 300 jährlich als Fußgänger durch Verkehrsunfälle um. Science schließt daraus, daß die durch die Asbestsanierung der Schulgebäude erzwungenen Zwangsferien weit mehr Schülern das Leben gekostet haben, als durch Asbest auch unter schlimmsten Annahmen jemals zu befürchten gewesen wäre. Ein weiteres Lehrbuchbeispiel für eine verfehlte und rein politisch motivierte Risikobekämpfung, die durch Panikmache überhaupt erst möglich wurde, ist das Verbot des Insektenvertilgungsmittels DDT. Auslöser der weltweiten Anti-DDT-Kampagne war das 1962 erschienene Buch Der Stumme Frühling (Im Original: Silent Spring) der amerikanischen Journalistin Rachel Carson. Darin warnt Carson vor dem bevorstehenden Aussterben unserer Vögel: die in Insekten angereicherten Insektenvertilgungsmittel, besonders DDT, würden sich in den Insektenfressern, besonders in den Vögeln, nochmals stärker konzentrieren; die Schalen der Vogeleier würden dadurch dünner und leichter zerbrechlich, es würden weniger Jungvögel nachwachsen und langfristig würden die Vögel als Folge der chemischen Insektenbekämpfung völlig aussterben.
Diese These war schon bald als falsch entlarvt. Zwar wurde bei ausgewählten Vogelarten ein Zusammenhang zwischen DDT und der Dicke der Eierschalen nachgewiesen, aber der von Carson darüber hinaus behauptete Zusammenhang zwischen DDT und Vogelbestand war nicht vorhanden. Gewisse Vogelarten waren lange vor der Einführung von DDT zurückgegangen, andere hatten lange nach der Einführung von DDT an Umfang zugenommen, und wieder andere, wie etwa der englische Wanderfalke, dessen Aussterben Frau Carson ganz besonders fürchtete und der in der Tat seit Einführung von DDT sehr selten geworden war, nahmen noch vor dem DDT-Verbot an Zahl wieder zu.
Trotzdem wurde DDT verboten. In 72 Ländern darf DDT heute in der Landwirtschaft nicht mehr verwendet werden, in 34 Ländern, darunter auch Deutschland, ist der Gebrauch und die Herstellung von DDT generell verboten.
Die Folge: andere, zum Teil für Menschen gefährlichere, dafür aber teurere und weniger wirksame Insektenvertilger traten an dessen Stelle, und - ganz besonders tragisch - die in vielen Weltgegenden dank DDT fast völlig ausgerottete Malaria nahm wieder zu. Allein in Ceylon zähle man 1946, vor Einführung von DDT, über 2 Millionen Malariainfektionen. Bis zum Jahr 1993, dem Jahr des DDT-Verbots, hatte diese Zahl dank der durch DDT vernichteten Malariafliege auf weniger als 20 Infektionen jährlich abgenommen. Nur 5 Jahre später war sie wieder auf über 2 Millionen angestiegen.
Die Dosis macht’s
Der immer wieder frappierende Erfolg der Panikmacher hat mehrere Quellen. Eine ist die oft mit Absicht verwischte Distanz zwischen Qualität und Quantität. Oberhalb einer bestimmten Dosis ist jeder Stoff giftig, selbst reines Trinkwasser, unterhalb einer bestimmten Dosis ist kein Stoff giftig, selbst Zyankali oder Dioxin. Dieser Lehrsatz des Paracelsus ist vermutlich die einzige noch heute anerkannte naturwissenschaftliche Theorie, deren Geltung seit 500 Jahren niemals angefochten wurde, wird aber immer wieder gern vergessen. „Eine Substanz, welche lediglich durch ihre qualitative Beschaffenheit unter allen Umständen geeignet wäre, die Gesundheit zu zerstören, existiert nicht“, erklärte das deutsche Reichsgericht in einem Urteil vom 14. Januar 1884. „Die gesundheitszerstörende Wirkung ist vielmehr stets eine relative; sie ist nicht bloß von der Qualität, sondern auch von anderen Bedingungen, insbesondere von der Quantität des beigebrachten Stoffes und von der körperlichen Beschaffenheit der Person, welcher derselbe beigebracht worden ist, abhängig. Je nach Verschiedenheit der in Frage kommenden Bedingungen kann derselbe Stoff bald als gesundheitszerstörend, bald nur als gesundheitsschädlich, bald als durchaus unschädlich, endlich sogar als Heilmittel erscheinen.“
Leider ist diese Einsicht der deutschen Panik-Mafia kaum zu vermitteln. Ihr Ober-Guru Ulrich Beck z.B. meint, wer Grenzwerte festlege, toleriere die Vergiftung unterhalb der Grenzwerte. Grenzwerte seien Persilscheine dafür, so Beck, die Menschheit ohne Strafe zu vergiften. Den Grenzwertfestsetzern ginge es darum, das zulässige Maß an Vergiftung zu definieren, was bedeute, Vergiftung grundsätzlich zuzulassen. „Würde man sich auf den nicht völlig abwegigen Grundsatz einigen, überhaupt nicht zu vergiften, gäbe es keine Probleme.“ Ein größerer Schwachsinn ist von einem deutschen Hochschullehrer seit dem 2.Weltkrieg nicht geäußert worden. Was diskutiert und festgelegt werden muß, ist nicht das Ob, denn die Gifte sind immer da, sondern das Wie, die Grenze, die Gut von Böse scheidet. Nicht das absolute toxische Potential einer Substanz ist das entscheidende für Entstehung und Ablauf einer Vergiftung, sondern die tatsächlich aufgenommene Menge. Die Aussage, das Seveso-Dioxin sei „eine Substanz, die Chemiker zu den giftigsten Verbindungen schlechthin zählen“ (wie es in dem bekannten Buch Seveso ist überall von Egmont Koch und Fritz Vahrenholt heißt), ist genauso wahr wie uninteressant. Es kommt darauf an, mit welcher Menge der Mensch tatsächlich belastet wird und nicht, ob sich irgendwo in Boden, Wasser oder Luft ein problematischer Stoff befindet.
Denn der ist, wenn auch in minimalen Dosen, immer da. Und mit den immer feiner werdenden modernen Analysemethoden werden wir ihn irgendwann auch sicher finden. Ein frühes deutsches Opfer dieser immer feineren Analyseverfahren war die Drogeriemarktkette Schlecker. Denn Schlecker verkauft auch Baby-Fertignahung. Und Baby-Fertignahrung hat in Deutschland keine Pestizide zu enthalten. „Keine Pestizide“ heißt: es können mit dem Stand der Technik keine Pestizide nachgewiesen werden. Und wenn der Stand der Technik sich ändert, sind plötzlich Pestizide da, wo vorher keine Pestizide waren. Zum Zeitpunkt der seinerzeitigen Affäre war die Nachweisgrenze je nach Substanz für die damals üblichen chemisch-analytischen Verfahren unter 0,01 Milligramm pro Kilogramm abgesunken, und damit unter die Werte des Schlecker-Breis gefallen. Oder andersherum betrachtet: Die Nachweisgrenze wurde nun bei Routineproben in einigen Gläschen Schlecker-Babynahrung überschritten. Die Folge: Alarmartikel in der Zeitschrift Öko-Test, die Firma Schlecker zieht die beanstandete, aber gesundheitlich völlig einwandfreie Ware, deren Schadstoffgehalt um mehr als das tausendfache unterhalb jeglicher Gefährdungsgrenze lag, aus dem Verkehr.
Risiko ist nicht gleich Risiko
Die zweite Quelle, aus der Panikmacher gerne Panik schöpfen, ist eine verbreitete, geradezu groteske Fehleinschätzung von Risiken je nach Verursacher. Etwa, ob ein Risiko natürlich oder künstlich, also ein Werk von Menschen ist. Ob Pestizide in der Babynahrung oder BSE-Erreger in Hackfleischbrötchen, ob krebsverdächtige Weichmacher in Beißringen für Kleinkinder oder Uran in Nato-Munition, die hiervon ausgehenden Gefahren werden im Vergleich zu den in der Natur vorkommenden Risiken und Giften ungeheuer überschätzt. Auch wenn noch so viele Menschen an Salmonellen, Morbus Krohn oder Listerose-Bakterien in der Rohmilch von Bio-Bauernhöfen sterben, die seit jeher in Fleisch und Milch zu finden waren: davor fürchten wir uns nicht. Zumindest ändern wir deswegen kaum unsere Eßgewohnheiten. Jahr für Jahr sterben über 200 Bundesbürger an Lebensmittelvergiftungen und –infektionen, über 800 ersticken an verschluckten Fischgräten und Schinkenscheiben, ohne daß auch nur mit einer Zeile, und sei es auf der letzten Seite einer Provinzzeitung, davon Notiz genommen würde. Dann torkelt eine Kuh, und die Republik steht Kopf. Wie das Kaninchen auf die Schlange starren wir vor allem auf die von Menschen verursachten Gefahren und auf die von Menschen hergestellten Gifte wie das berühmte Tetrachlorodibenzodioxin, kurz Dioxin. Obwohl in der Natur mindestens vier Gifte vorkommen, welche die Wirksamkeit des Dioxins um ein Vielfaches übertreffen, bleibt unsere Aufmerksamkeit auf das von Menschen hergestellte Gift gefangen.
Vor allem im Umkreis unserer Ernährung hat diese Ungleichbehandlung von Risiken, dieser Gleichmut gegen natürliche und diese Panik bei menschengemachten Gefahren inzwischen groteske Ausmaße erreicht. Nach einer vielzitierten Arbeit des amerikanischen Biochemikers Bruce N. Ames von der University of Berkeley sind 99,99% aller giftigen oder krebserregenden Substanzen in unserer Nahrung von der Natur gemacht; angefangen von den 49 natürlichen Giften im guten deutschen Kopfsalat über das tödliche Solanin in den Knollen und Blätter von Kartoffeln, das Nervengift Carotatoxin in den Karotten (die noch eine Reihe weiterer gefährlicher Substanzen wie Myristicin, ein Halluzinogen, und sogenannte Isoflavone enthalten, die eine östrogene Wirkung besitzen, also weibliche Sexualhormone imitieren), über Kaffeesäure in Äpfeln, Birnen oder Plaumen, Chlorogensäure in Aprikosen, bis hin zu Perchlorethylen in kaltgepreßtem Olivenöl,
Viele dieser Stoffe sind nicht nur giftig, sondern auch als Krebserzeuger oder Chromosomebrecher (sog. Klastogene) nachgewiesen. Z. B. kann das Allylisothiocyanat, ein Abbauprodukt des in Kohl enthaltenen Sinigrin, schon in einer 200.000 mal niedrigeren Konzentration – bei 0,0005 Milligramm pro Kilogramm - Chromosomenbrüche erzeugen (abgekürzt auch ppm = „parts per million“ = Teilchen pro Million). Und Kohl enthält bis 590 ppm natürlich hergestelltes Sinigrin, Rosenkohl bis zu 1500 ppm, brauner Senf sogar bis zu 72.000 ppm. Aber darüber scheint sich niemand ernsthaft aufzuregen. Werden dagegen in Dosenbohnen im Supermarkt auch nur kleine Rückstände eines Schädlingsbekämpfungsmittels aufgefunden, oder in deutschen Mineralwässern Alkyphenole entdeckt (eine giftige, früher gerne den Waschmitteln beigemengte Chemikalie), dann setzt Herr Bednarz von Monitor am nächsten Mittwoch seine bekannte Leichenbittermine auf und verkündet den Skandal.
Dabei werden die menschengemachten Gefahren von den natürlichen um Dimensionen übertroffen. Die in zwei Muskatnüssen enthaltenen Mengen der Gifte Myristicin und Elemicin reichen aus, ein Kind umzubringen; einer der stärksten krebsfördernden Stoffe überhaupt, das Aflatoxin, wird in der Natur von einem Schimmelpilz gebildet, der auf Brot, Wurst oder Käse wächst, und das stärkste Nervengift der Welt, Botulinustoxin, von dem zwei Milliardstel Gramm einen Menschen töten, wird von einem Bakterium produziert, das in Fleischwaren gedeiht; weniger als ein Gramm davon würden ausreichen, ganz Deutschland zu entvölkern.
Die vom Menschen beigetragenen Pflanzengifte und Krebserreger machen etwa ein zehntausendstel der natürlich hergestellten aus. Eine Portion biologisch angebauter Broccoli enthält die 15.000-fache „Referenzdosis“ des in der Öffentlichkeit gern als Krebsgift Nr. 1 angesehenen Tetrachlorodibenzodixins, kurz auch TCDD oder Dioxin, denn das in Borccoli wie auch in Kohl und Blumenkohl enthaltene Indolcarbinol wird im Magen in Moleküle umgewandelt, die im Körper die gleichen Enzymreaktionen ablaufen lassen wie TCDD. Aber dieses „natürliche“ Dioxin scheint anders als das künstliche, von dem man etwa glaubt, daß es über Verpackungsmaterialien unser Obst und unser Gemüse verunreinigen könnte, niemand um den Schlaf zu bringen.
Auch unsere Angst vor Strahlen entspricht in keiner Weise der jeweiligen Gefahr. Denn die mit Abstand gefährlichste Strahlenquelle ist nicht die vielfach gefürchtete Kernkraftindustrie, sondern das radioaktive, fast überall im Gesteinsmantel der Erde vorkommende Edelgas Radon, das zusammen mit anderen Erdstrahlen für durchschnittlich 50 Millirem Strahlenbelastung pro Jahr und Bundesbürger verantwortlich zeichnet. Aus der anderen Richtung, nämlich aus dem Weltall, kommen nochmals 30 Millirem natürlicher Strahlung per annum auf uns zu (im Gebirge und bei Flugreisen noch weit mehr), und mit unserer Nahrung, etwa über natürliches radioaktives Kalium, setzen wir uns nochmals 30 Millirem Belastung aus. Verglichen damit ist die menschengemachte Belastung etwa durch Röntgengeräte, Farbfernseher und erst recht durch Atomkraftwerke minimal: die Strahlenbelastung für Anrainer von Atomkraftwerken liegt unter einem Millirem pro Jahr.
Aber die meisten Betroffenen scheinen weniger auf das Ausmaß als auf den Verursacher von Strahlen zu achten. So kommt es, daß wir, um von Frankfurt nach New York zu fliegen, ohne zu murren große Dosen Radioktivität ertragen, aber in Panik geraten, wenn ein Castor-Behälter an unserem Dorf vorüberzieht, dessen maximal bisher gemessene Emmissionsrate um ein vielfaches unter derjenigen der natürlichen Höhenstrahlung liegt. Ganz besonders wichtig ist auch, ob wir ein Risiko gezwungen oder aus freien Stücken übernehmen. Bei freiwillig eingegangenen Risiken wird ein etwa 1.000 Mal höheres Risiko akzeptiert als bei unfreiwillig zugemuteten, schätzt der Amerikaner Chauncey Starr. „Wenn man anderen die Gefahren zumuten könnte, die man für sich selbst als Risiko akzeptiert, würde das Proteststürme auslösen. Wenn noch gälte: ‘Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst’, könnte dieser sich auf allerhand gefasst machen“, kommentiert der Soziologe Niklas Luhmann diese Haltung. Warum z. B. fürchtet sich in Deutschland kaum jemand vor der Hepatitis B? „Der Hauptauslöser von Leberkrebs wird nicht ernst genommen“, schreibt die Zeitschrift Verbrauchernews. Die Hepatitis B sei die häufigste Infektionskrankheit der Leber und Hauptursache für den Leberkrebs. Jedes Jahr infizieren sich über 50.000 Menschen in Deutschland, ein Viertel davon Jugendliche und junge Erwachsene, 2000 davon sterben an der Infektion. Aber weil diese Infektion vor allem beim Sport und beim Geschlechtsverkehr, auch beim Piercen und Tätowieren entsteht, erntet dieses Risiko kaum mehr als nur ein Achselzucken.
Geradezu grotesk wird diese Mißachtung selbst auferlegter Risiken bei unserem Umgang mit Alkohol und Nikotin. Raucher haben zweimal häufiger ein Herz- oder Leberleiden, dreimal häufiger ein Magengeschwür, und sechsmal häufiger Bronchitis als gleichaltrige Nichtraucher, um nur einige der Krankheiten herauszugreifen, an denen die Freunde des Nikotins heute mehr als andere zu leiden haben. Das Rauchen macht pro Jahr rund 100.00 Bundesbürger zu Frühinvaliden, verursacht ein Drittel aller Krebsgeschwüre in Europa, bei Lungenkrebs sogar noch weitaus mehr, und ist mit großem Abstand vor Unfällen und Selbstmord die vermeidbare Todesursache Nr.1.Trotzdem werden pro Jahr in Deutschland über 140 Milliarden Zigaretten, 2 Milliarden Zigarren und 1 Million Kilogramm Pfeifentabak abgesetzt und vermutlich auch geraucht.
So ist es auch zu erklären, daß die regelmäßigen Horrormeldungen über „Tumor per Telefon“ überhaupt nicht zu den üblichen hysterischen Reaktionen führen, die man gewöhnt ist, wenn irgend etwas Krebs erzeugen soll. Der Mediziner Andreas Stang von der Uni-Klinik Essen hatte 148 Patienten mit dem sogenannten Uvea-Melanom – einem Augenkrebs –zu ihren Lebensumständen vor der Erkrankung befragt. Das Ergebnis: Menschen, die mehre Stunden täglich ein Funktelefon benutzen, erkranken dreimal häufiger an diesem Krebs als andere. Wieviele Menschen werden deshalb ihr Handy in der Hosentasche lassen? Funktelefone stören die Elektronik von Flugzeugen, von Schiffen, auch von Herzschrittmachern; sie erhöhen den Blutdruck, vervierfachen das Unfallrisiko beim Autofahren, lassen Menschen schlechter schlafen und machen außerdem noch dick: nach Auskunft von Ernährungswissenschaftlern sparen Funktelefone jährlich rund 16 Kilometer Fußweg und tragen damit eine Mitschuld an der alarmierenden Zunahme von Übergewichtigen in modernen Industrienationen. Wären sie, statt freiwillig benutzte Verständigungshilfen, Bestandteil unserer Arbeitsplätze, müßten sie sofort verboten werden.
Sie werden aber nicht verboten, aus dem gleichen Grund, warum auch Alkohol und Nikotin und Piercing nicht verboten werden: Weil freiwillige Risiken uns wenig schrecken und deshalb auch keinen politischen Druck in Richtung auf Verbot erzeugen. Deshalb wird auch die Touristenklasse im Flugzeug nicht verboten, trotz der angeblich Tausenden von Toten jährlich wegen Flugthrombosen. Auch hier das gleiche Phänomen: Hätte es diese Todesfälle in Schulbussen gegeben, wäre am nächsten Tag der Bundesverkehrsminister zurückgetreten, und sämtliche Landeskultusminister gleich dazu. Unfreiwillig übernommene, von Dritten aufgezwungene Risiken lassen viele Menschen allergisch bis hysterisch reagieren. Kaum jemand hat Angst vor dem Alkohol im Bier, dem Nikotin in der Zigarette, vor unreifem Obst, nicht abgekochter Milch. Aber dann panschen ein paar Winzer Glykol in ihren Wein, und die Zeitungen schreiben von nichts anderem.
Ein Lehrstück: REACH.
Welcher Politiker käme da nicht in Versuchung, diese Gemengelage auszunutzen? Nehmen wir als pars pro toto Frau Margot Wallström, von 1999 bis 2004 EU-Umweltkommissar, seitdem Vizepräsidentin und Kommissar für institutionelle Beziehungen und Kommunikationsstrategie. Frau Wallström führt einen Krieg gegen die europäische Chemieindustrie. Nicht mit Panzern, aber mit Panik. Denn die Chemie, so Wallström, bringt uns um. Und tatsächlich: Chemikalien können Krebs und Allergien, Asthma und sonstige Gesundheitsstörungen erzeugen, von Groß-desastern wie Seveso, Bhopal usw. ganz zu schweigen. Das Beseitigen solcher Risiken ist damit ein unbestreitbar verdienstvolles Unterfangen.
Was tut Frau Wallström? Sie propagiert ein Gesetz zur Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien (REACH). Dieses Gesetz zwingt Unternehmen, die mehr als eine Tonne einer chemischen Substanz pro Jahr herstellen oder importieren, diesen Stoff in einer zentralen Datenbank zu registrieren sowie einen sog. Sicherheitsbericht (“Chemical Safety Report”) an eine zentrale Überwa-chungsagentur zu übermitteln. Mögliche Risiken sind vorab zu identifizieren und wenn möglich auszuschalten. Gefährliche Substanzen werden nur noch nach Autorisierung durch die EU-Kommission zugelassen und bleiben bei Nichtzulas-sung für den europäischen Markt verboten “REACH is a groundbreaking propo-sal,” so Margot Wallström in einer EU-Pressemitteilung vom 29. Oktober 2003. “Once adopted, it will allow us to take advantage of the benefits of chemicals without exposing ourselves and the environment to risks. Thus it will create a win-win situation for industry, workers and citizens, and our ecosystem. It will give Europe’s citizens the high level of protection that they have the right to expect. The EU will have one of the most progressive chemicals management systems in the world.”
Was tut Frau Wallström nicht? Die Kosten und Nutzen dieses Gesetzes zu vergleichen. Obwohl in einem “extended impact assessment” der EU immer wieder davon die Rede ist, daß man bei der Würdigung von Chemikalien alle Effekte, die positiven und negativen Wirkungen ihres Einsatzes wie auch die positiven und negativen Wirkungen ihres Nicht-Einsatzes berücksichtigen müsse, werden diese uner-wünschten Nebenwirkungen eines Chemikalienverbotes durchweg ignoriert. Auch ein Strategiepapier der Weltbank, auf welches die EU-Kommission sich immer wieder stützt, blendet dergleichen unerwünschte Nebenwirkungen in aller Regel aus. Das Weltbank-Strategie-Papier z.B. weist zwischen 0,6% und 2,5% des gesamten Morbiditätsgeschehens in entwickelten Industrienationen von Menschen gemachten Chemikalien zu (“pollution from agro-industrial chemicals and chemical pollution from diffuse sources”), ohne jede Rücksicht auf denjeni-gen Teil eines möglichen Morbiditätsspektrums, der durch diese Chemikalien verhin-dert worden ist, und ohne abzuschätzen, welche neuen Krankheiten durch Verbote dieser Chemikalien zur Ausbreitung gelangen könnten. Damit befinden sich die EU-Kommission und die Weltbank, im Widerspruch zu einer in anderen Weltbank-Dokumenten festgelegten Vorgehensweise . bei allen öffentlichen Gesundheits-maß-nahmen immer auch eine “Was-wäre-wenn-Analyse” anzustellen. Was wäre, wenn es die durch das REACH-Programm vom Markt ferngehaltenen Gefahren-stoffe tatsächlich nicht mehr gäbe? Hier ist die EU-Kommission mit ihrer Brutto-Analyse ganz offenbar auf einem Auge blind.
Selbst diese Brutto-Analyse ist aus verschiedenen Gründen angreifbar. Sie berücksichtigt z. B. nur ungenügend die in den letzten Jahren vermehrt an den epide-miologischen und statistischen Grundlagen der Risikozuweisung für Gesundheits-störungen aller Art vorgebrachte Kritik, einmal an den zwei aus Tier-experimenten nötigen Extrapolationen, von hoher zu niedriger Dosis und von Tier zu Mensch, wie darüber hinausgehend an der übertrieben Betonung künstlicher Karzinogene und Umweltgifte im Vergleich zu genetischen und natürlichen Risiken überhaupt, die inzwischen in der seriösen Forschung weltweit unisono als die weitaus gefährlicheren angesehen werden. Daher ist die in dem Extended Impact Assessment der EU-Kommission getroffene Annahme, 1% des gesamten Krankheitsgeschehens in der EU ginge auf Chemi-kalien zurück, nicht konservativ, wie dort behauptet, sondern schlichtweg falsch.
Und selbst wäre sie korrekt, könnte man immer noch nicht der EU-Kommission in ihrer Aussage folgen, ein beträchtlicher Teil dieser Krankheitslast könnte durch REACH verhindert werden. Ein einfacher Vergleich der durch REACH betroffe-nen Chemikalien mit den im Weltbank-Papier genannten Verursachern dieser 1% des gesamten Krankheitsgeschehens zeigt nämlich, daß es zwischen diesen nur minimale Überschneidungen gibt. Mit anderen Worten, die durch REACH bekämpften Gefahrenquellen sind nicht diejenigen, auf welche sich das Weltbankszenario mit seiner Abschätzung des auf künstlichen Chemikalien beruhenden Krankheitsgeschehens stützt; die immer wieder zitierten, auf Chemikalien zurückzuführenden 1% dieses Krankheitsgeschehens sind nichts als eine Schätzung aus der hohlen Hand.
Was sind die Konsequenzen von Frau Wallströms Tun? Daß weit bedrohlichere Risiken für Umwelt und Gesundheit als die vom REACH-Programm erfaßten nicht beachtet werden, angefangen bei Luftverschmutzung, UV-Strahlung, Feuer, Wasser (über 500 Todesfälle durch Ertrinken jedes Jahr allein in Deutschland), Infektio-nen in Krankenhäusern, plötzlicher Kindstod, langes Reisen in engen Flugzeug-sitzen, natürliche radioaktive Strahlung, durch Freizeitaktivitäten verbreitete Krankheiten wie Hepatitis oder Aids, Verkehrsunfälle, Arbeitsunfälle, exzessiver Lärm, Drogen, Gewalt und selbst unvorsichtig ausgeübter Sport – alles Risiken, die erheblich preiswerter zu beseitigen wären, aber von REACH nicht angespro-chen werden (bei deutschen Frauen unter 20 fast der häufigste Grund für Tod oder Invalidität der Sturz von einem Pferd).
Die größten Gesundheitsrisiken für die Bürger der EU sind heute Alkohol, Tabak, Fett und mangelnde Bewegung. Eben-falls sehr weit oben auf dieser Gefahrenliste rangieren Luftverschmutzung, hoher Blut-druck, Drogen oder Sexualverhalten. Nach Auskunft von Gesundheitsökonomen ließen sich etwa durch eine bessere Sexualerziehung zwanzigmal mehr zusätzliche Lebensjahre gewinnen als durch REACH. Und der Gesundheitsnutzen, der etwa dadurch erzielbar wäre, daß man gesunden Menschen verböte, in öffent-lichen Gebäuden einen Aufzug zu benutzen (oder auf andere Art und Weise die Bevölkerung Europas zu mehr physischer Aktivität anregen könnte), ist noch viele erstaunlicher (und erheblich preiswerter zu erzielen): 48 mal so hoch wie der gesamte mögliche Nutzen des gesamten REACH-Programms.
Selbst zu der am meisten gefürchteten Todesursache Krebs tragen Chemikalien nur wenig bei. Nach übereinstimmender Meinung fast aller Epidemiologen, die sich dieses Themas angenommen haben, ist der auf Lebensmittelzusätze, Industrieprodukte oder Be-lastung am Arbeitsplatz zurückzuführende Anteil der Krebsmortalität (d.h. die Todesfälle, die auch durch REACH eventuell verhindert werden könnten), der schon seit jeher eher klein gewesen ist, inzwischen nochmals weiter abgesunken und liegt heute bei weniger als 1%. Viele der übrigen 99% an frühzeitigem Tod durch Krebs wären durch geeig-nete, von REACH unabhängige Präventionsprogramme vergleichsweise leicht zu vermeiden; es gäbe ein riesiges Betätigungsfeld für sinn-volle staatliche Eingriffe aller Art, wenn denn das Ziel dieser staatlichen Eingriffe wirklich die Maximierung unserer Gesundheit wäre. Genau das ist das Ziel des REACH-Programmes aber nicht. Wir haben es hier vielmehr mit einem weiteren Beispiel der Stigmatisie-rung syntheti-scher Chemi-kalien zu tun, eines von sachlichen Gege-benheiten völlig losgelösten Herausgreifens eines kleinen Gau-ners bei gleichzeiti-gem Laufenlassen aller wirklich großen Kriminellen, einer extremen Scharf-sichtigkeit auf dem einem bei völlige Blindheit auf dem anderen Auge. REACH ist damit ein weiterer Ausfluß einer weltweit zu beobachtenden Syntheto-phobie (“synthetic risk bias”, wie die Amerikaner sagen), ein immer wieder in den verschiedensten Regulierungszusammenhängen zu beo-bachtendes Muster, daß es nicht die Höhe oder die Bedeutung, sondern in erster Linie der synthetische Charak-ter eines Risikos ist, welcher mögliche gesetzliche Eingriffe provoziert, und als Folge dieser Synthetophobie läuft das REACH-Programm Gefahr, knappe Ressourcen von mehr Erfolg versprechenden Projekten abzuziehen; es macht damit die Bürger Europas nicht reicher, sondern ärmer. Anders als Kommissarin Wallström glaubt, versetzt REACH „all parties concerned in a lose-lose situation”, und wird, statt des „most progressive chemicals management systems in the world“, eines der größten je durch Gesetz verordneten Ressourcen-Verschwendungs-programme aller Zeiten sein.
Walter Krämer ist Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund.