Vorsicht: Die Sache ist verwirrend, und sie soll es sein. An der Stelle lächle ich dann geheimnisvoll. Denn für deutsche Parteien bin ich kein verlässlicher Partner.
Sind die Grünen die neuen Konservativen? – In der Frankfurter Rundschau äußert sich der ukrainische Euromaidan- und Ökologie-Aktivist, der Kiewer Kulturwissenschaftler Vasyl Cherepanyn, zu den Fehlern Europas im Umgang mit den ehemaligen Staaten des Ostblocks: Europa sei in sein postkoloniales Gegenteil verfallen, bis hin zu einer „Fetischisierung“ des „Nie wieder Krieg“, lasse aber koloniale Interessen anderer auch an seiner Grenze bereitwillig zu, in einem bemerkenswerten Desinteresse an den aus dem ehemaligen Ostblock hervorgegangenen Staaten, das seinerseits in unmittelbarer Kontinuität zur früheren Ostpolitik stünde, die gar keine gewesen sei, sondern ein Hinnehmen sowjet-russischer Hegemonialstrukturen. Hört, hört! Für uns Deutsche ist diese Ostpolitik immerhin mit dem Namen Willy Brandts verbunden.
Solche Einschätzungen wie die des Vasyl Cherpanyn hat man früher ausschließlich von rechts zu hören bekommen, von Konrad Adenauer, Rainer Barzel oder Gerhard Löwenthal. Letzteren sehen manche immer noch in erster Linie als einen Exponenten des Kalten Krieges, obwohl – oder weil – er noch nach 1989 warnte, erneut „auf die Russen reinzufallen“. Heute liest man solche Argumente und Warnungen also in der FR oder, aus derselben Feder Vasyl Cherepanyns, in einer europäischen Publikation für Ökologie, dem Green European Journal. Cherepanyn selbst hat mit seinem Eintreten für eine von Russland unabhängige, „europäische“ Ukraine bereits reichlich Prügel kassiert, doch auch mit Europa hadert er weiterhin und zweifelt an dessen „Werten“, eine Einschätzung, die hierzulande ebenfalls nicht gerade mit dem Mainstream assoziiert wird, sondern üblicherweise „rechts“ verortet oder zumindest „separatistisch“.
An dieser Stelle ist es sehr wichtig, überhaupt erst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass der hiesige Mainstream für den Zentralismus, Bürokratismus und dessen supranationale Dysfunktionalität in der EU nicht im Geringsten den Vorstellungen der Osteuropäer entspricht. Auch in diesem Blog war dies zuletzt an prominenter Stelle in den Worten des Ministerpräsidenten Polens nachzulesen, der sicher einem ganz anderen politischen Kontext entstammt als Vasyl Cherepanyn.
Appeasement als neue „Entspannungspolitik“?
Dieser Diskurs ist politisch verblüffend und geistesgeschichtlich hoch interessant, denn für Deutschland gilt unter umgekehrten Vorzeichen Ähnliches, und auch hier betrifft er alle politischen Lager und legt deren innere Widersprüche schonungslos offen.
Jene aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP, die vorgeben, sich für den postkolonialen Osten Europas auch über die bloße Erweiterung der EU hinaus zu interessieren, sind gleichzeitig diejenigen, die die Alleingänge Polens, Ungarns und zuweilen Tschechiens am schärfsten kritisieren, während sie deutsche Alleingänge in der Migrationspolitik diesen Ländern nur allzu gern überstülpen möchten.
Linke und AfD dagegen sind vielleicht am wenigsten mit der „Entspannungspolitik“ verbunden, obwohl man die Linkspartei als ihre posthume Nutznießerin betrachten kann, und auch die AfD eine starke ostdeutsche Verankerung hat. Beide Parteien reden zwar Osteuropa auf den ersten Blick weniger ins Wort; dafür aber reden sie dem Nachgeben als Reaktion auf die russische Aggression das Wort, dem Appeasement gegenüber dem Kreml, der neuen „Entspannungspolitik“, mit deren Wurzeln sie selbst historisch am wenigsten zu tun haben. SPD und CDU/CSU aber haben sich durch ihre jahrzehntelange Politik der wachsenden Abhängigkeit von Russland zutiefst verstrickt und sehen daher in Sachen „Interesse an Osteuropa“ ebenfalls wenig glaubwürdig aus.
Man muss Vasyl Cherepanin in seiner Kritik an Europa also zustimmen. Gerade Deutschland ist für Osteuropa kein verlässlicher Partner, schon fast ohne Ansehen des politischen Lagers, vielleicht mit Ausnahme der Grünen und Teilen der FDP; doch auch für sie dürfte diese Rolle als Hoffnungsträger und potenzieller Partner Polens, Ungarns, Tschechiens und der Ukraine verblüffend und neu sein.
Ein Europa freier Nationen kein „rechter“ Blödsinn
Ebenso unvorhergesehen argumentieren die Grünen gegenüber dem Kreml in etwa auf einer Linie mit Konrad Adenauer, Rainer Barzel und Gerhard Löwenthal, worüber auch dem Neuen Deutschland ein bisschen mulmig wird. Das ND bleibt noch erstaunlich zurückhaltend. Dafür wird der freitag deutlicher, indem er feststellt, der „Westen“ verbaue sich durch seine Unterstützung der Ukraine diplomatische Chancen und lasse China den Vortritt. Siehe da, Die Grünen, die Sprösslinge und Hätschelkinder der Linken, sind die neuen Konservativen, gar die neuen Kalten Krieger! Es ist hier politisch Einiges in Bewegung geraten, in den Parteien, in der Presse. Und die Nachkriegszeit endet erst jetzt. Kunststück: Es ist ja wieder Krieg in Europa.
Mein Dank gilt dennoch dem Kiewer Kulturwissenschaftler, weil er sich ein anderes Europa, eine andere EU für sich und sein Land wünscht als jenen Zustand, den er und ich heute kennen. Mein Dank gilt auch der FR, dass sie einen so scharf EU- und Ostpolitik-kritischen Artikel überhaupt abdruckt – und allen anderen aus den deutschen politischen Parteien, denen es nun in all ihrer Zerrissenheit und historischen Verstrickung klar werden könnte, dass ein Europa freier Nationen kein „rechter“ Blödsinn ist.
Klar doch, den nächsten Grünen oder SPD-Zeitenwende-Protagonisten, den nächsten Merkel-Jünger aus CDU oder CSU, der mir begegnet, und auch die Scharfmacher aus der FDP spreche ich gern auf Konrad Adenauer, Rainer Barzel und Gerhard Löwenthal an, unter Verweis auf Vasyl Cherepanyn. Es wird mir ein Vergnügen sein. Aber, Vorsicht: Die Sache ist verwirrend, und sie soll es sein. An der Stelle lächle ich dann geheimnisvoll. Denn für deutsche Parteien bin ich kein verlässlicher Partner.