Hat der Kulturredakteur von Spiegel online seine politisch korrekten Ansichten zur diesjährigen Oscarverleihung teilweise aus dem linken amerikanischen Lifestylemagazin Rolling Stone kopiert? Gleich am Morgen nach dem Mediengroßereignis – die Entscheidung, den Film Green Book mit dem Oscar für den besten Film (Academy Award for Best Picture) auszuzeichnen, liegt erst rund vier oder fünf Stunden zurück – geht Andreas Borcholte, der Ressortleiter Kultur von Spiegel online, in einem auf der Spon-Website zunächst prominent ganz oben platzierten Beitrag hart mit der die Auszeichnung vergebenden Academy ins Gericht: Sie habe den falschen Film gewählt; einen, dessen Macher den neuesten, hippesten politischen Diskurs der Linken gar nicht mitbekommen hätten. Borcholte schreibt:
Hätte es doch ein neues "Envelopegate" gegeben! Zu gern hätte man am Ende der 91. Oscarverleihung erlebt, wie sich Julia Roberts, die den Preis für den besten Film präsentierte, kokett korrigiert - und dann doch "Roma" als Gewinner ausruft. Oder "BlacKkKlansman". Oder "The Favourite", selbst "Bohemian Rhapsody" wäre irgendwie okay gewesen. Aber nicht "Green Book". Es fühlte sich ein wenig so an wie 2006, als der seifige Episodenfilm "L.A. Crash" gegen das revolutionäre - und rührende - Liebesdrama um zwei Männer "Brokeback Mountain" gewann: ein reaktionärer Schlag gegen die progressiven Kräfte in Hollywood.
Borcholte rügt, dass der Gewinnerfilm sich nicht auf die richtige, zeitgemäße Art mit dem Thema des Rassismus beschäftige (und deshalb nicht hätte ausgezeichnet werden dürfen), weil er seine Geschichte – „eine wahre Geschichte über Rassismus in den US-Südstaaten der frühen Sechzigerjahre“, so Borcholte – nämlich „vorrangig aus der Perspektive des "White Saviour" erzähle. (Anmerkung: „White saviour“ oder weißer Retter meint einen weißen Charakter im Film, der in der Handlung Menschen, die dunklere Haut haben als er selbst, etwas Gutes tut, wie etwa Old Shatterhand. Das ist aus progressiver Sicht abzulehnen).
Er sei ein „Publikumsfilm der altmodischen Hollywood-Schule, von Weißen für Weiße gemacht“. Das belegt Borcholte mit etlichen Sätzen, die noch etwas anderes gemein haben, als dass sie dem Werkzeugkasten der Kritischen Weißseinsforschung entstammen: Die Behauptungen und Argumente sind zum großen Teil, ohne Nennung der Quelle, aus dem Rolling Stone kopiert, teilweise wörtlich. Darauf machte gleich einer der ersten Spon-Leser, die einen Kommentar hinterließen, aufmerksam:
Ich würd den Kommentar für ziemlich gut halten, wenn ich nicht gestern dasselbe fast 1:1 im amerikanischen Rolling Stone gelesen hätte… https://www.rollingstone.com/movies/movie-features/oscars-2019-what-does-it-mean-if-green-book-wins-best-picture-795587/ Das Internet ist schon ne bitch, wa? :)
Tatsächlich zeigt schon ein flüchtiger Vergleich eine weitgehende Übereinstimmung beider Beiträge, was die Argumente und das Vokabular betrifft. Hier sind die zentralen Thesen und die entsprechenden Stellen im Rolling-Stone:
1. These: „Ein gutes, ein wichtiges Thema…“
Spiegel online: „Mit der Wucht von Viggo Mortensen und Mahershala Ali in den Hauptrollen erzählt [Green Book] eine wahre Geschichte über Rassismus in den US-Südstaaten der frühen Sechzigerjahre, eigentlich ein gutes, ein wichtiges Thema.“
Rolling Stone: „No one should question Farrelly’s honorable intentions…“
2. These: „White saviour“: Geschichte wird aus der Perspektive eines Weißen erzählt, statt, wie es richtig wäre, aus der eines Schwarzen.
Spiegel online: „Aber Green Book erzählt diese Geschichte eben vorrangig aus der Perspektive des white saviours Vallelonga und dringt kaum in die existenzielle Krise des afroamerikanischen Musikers Don "Doc" Shirley ein, dessen Chauffeur und Bodyguard Tony Lip auf der Tour durch den deep south ist.“
Rolling Stone: Green Book nonetheless continues a frustrating, persistent habit of white filmmakers attempting to depict American racism, often from the perspective of an unaffected white protagonist. Tony Lip is Green Book’s main character, just as Jessica Tandy’s Daisy is the lead in Driving Miss Daisy. Even if they’re not those films’ saviors, per se, we learn about bigotry through their eyes — it’s something they come to realize is a scourge, as opposed to their African-American cohorts, who have to endure it.“
3. These: Versöhnung.
Spiegel online: „Stattdessen strickt der Film eine versöhnliche, für Weiße sehr beruhigende Mär, dass sich mit ein bisschen gegenseitigem Verständnis und Empathie der verdammte Rassismus schon erledigen wird.
Rolling Stone: „A distressing, recurring Oscar trend continues apace, which is that the Academy prefers these stories of racial healing told from a safe, white distance.
4. These: Green Book wäre viel besser, wenn er so wäre wie BlacKkKlansman von Spike Lee.
Spiegel online: „Anders als der nicht minder massenkompatible, aber weitaus schärfere ‚BlacKkKlansman’ von Spike Lee stellt ‚Green Book’ keinerlei Verknüpfungen zum immer noch sehr aktuellen Konflikt um Rassismus in den USA her.“
Rolling Stone: „But unlike Spike Lee’s BlacKkKlansman — the Do the Right Thing to Green Book’s Driving Miss Daisy — which prefers militant resistance and a skeptical outlook, Farrelly’s film views social ills as eminently curable, tidily resolving its tensions rather than giving them back to the audience to further ponder their complexities.“
5. These: Green Book ist ein „Crowd-Pleaser“.
Spiegel online: „Green Book ist ein Crowd-Pleaser, ein Publikumsfilm der altmodischen Hollywood-Schule, von Weißen für Weiße gemacht.“
Rolling Stone: It’s worth acknowledging that many people enjoyed this crowd-pleasing comedy-drama
6. These: Hollywood ist zwar auf dem Weg des Fortschritts, doch dieser Oscar wird noch zu Diskussionen führen.
Spiegel online: „Aber Hollywood, so sehr es sich auch im Aufbruch befinden mag, hat noch einen weiten Weg vor sich. Das zeigte sich an diesem Sonntagabend durch den überraschenden Gewinnerfilm, dessen Oscar-Triumph sicher noch für Diskussionen und Kontroversen sorgen wird.“
Rolling Stone: „Yes, no large voting bloc is perfect or uniform — and it’s unfair to paint with too broad a brush when discussing the Academy’s disparate members. But if the bulk of them think Green Book is the most vibrant or challenging work that their art form produced in 2018, it’s more than fair to question their judgment. And their taste.“
Als Journalist liegt es mir fern, den Kollegen dafür zu schelten, dass er einen großen Teil seiner Hausaufgaben abgekupfert hat. Um neun Uhr morgens einen Artikel abliefern zu sollen zu einem Ereignis, das erst um fünf zu Ende gegangen ist, ist eine Zumutung. Was sagt die Berufsgenossenschaft dazu, ist das überhaupt erlaubt? Wie Claas Relotius ist auch dieser Fall zudem ein Beleg für die unmenschlichen Arbeitsbedingungen beim Spiegel. Es wird Schwachsinn in einem Reinheitsgrad gefordert, den nur wenige Textproduzenten aus eigenem Unvermögen erreichen. Wer solch einen Quark nicht selbst anrühren kann, muss ihn eben von anderen holen.