Für Politiker, die aus dem Amt scheiden, scheint es kein Patentrezept zu geben. Manche, wie der frühere US-Vizepräsident Al Gore, widmen sich fast ausschließlich einem bestimmten Anliegen, gründen Vereine, machen Filme (und hoffen insgeheim, dass sie endlich jemand bittet, wieder für ein Amt zu kandidieren). Andere wiederum verarbeiten ihre Erfahrungen in Büchern und Vorträgen, wobei sie nicht mit Ratschlägen für ihre Nachfolger geizen. Helmut Schmidt und Bill Clinton dürften zu dieser Kategorie gehören. Wieder andere halten es nach einer Zeit gar nicht mehr in ihrem Privatleben aus und drängen mit aller Macht zurück in die Politik, Oskar Lafontaine zum Beispiel.
Der frühere britische Premierminister John Major gehört in keine dieser Kategorien. Öffentlich tritt er kaum noch in Erscheinung, und wenn er es dann doch tut wie gestern Abend bei einem Auftritt an der London School of Economics, dann erlebt man einen Menschen, der mit dem Politiker, den man vielleicht noch in Erinnerung hat, kaum mehr etwas gemein hat. Selbst seine unförmigen Brillengläser, für die Karikaturisten stets dankbar waren, sind verschwunden.
In seiner Zeit als Premierminister galt Major als der Mann mit dem gewissen Nichts, als jemand, den man sich besser als Kassierer oder Buchhalter einer Bankfiliale in den Midlands hätte vorstellen können, nicht aber als Bewohner von 10 Downing Street. So langweilig und unpopulär war Major, dass selbst der Vorname John nach Jahrzehnten aus der Liste der beliebtesten englischen Vornamen verschwand.
Auch im Rückblick erscheinen die Major-Jahre von 1990 bis 1997 wie eine Sandwich-Zeit. Wenn man in Londoner Buchhandlungen nach Literatur über die Premierminister des Vereinigten Königreiches sucht, dann findet man zahllose Abhandlungen von und über Margaret Thatcher und inzwischen kaum weniger über Tony Blair. Zwischen diesen beiden charismatischeren Persönlichkeiten wirkt Major beinahe wie eine Fehlbesetzung für das höchste britische Regierungsamt. Hört man sich um, was die Briten heute über Major denken, bekommt man ebenfalls kaum Positives zu hören. Major, das war doch der Premierminister, der das Pfund aus dem Europäischen Währungssystem herausnehmen musste. Der eine misslungene Eisenbahnprivatisierung einleitete. Der ständig mit den vielen Flügeln seiner konservativen Partei zu kämpfen hatte. Aber sonst? War da noch etwas?
Wer nun erwartete, einen etwas biederen, gescheiterten Ex-Premier zu hören, der wurde gestern Abend überrascht. Auf der Bühne des Old Theatre der London School of Economics saß ein Ex-Politiker, der mit sich selbst im Reinen ist und im Gespräch mit der Journalistin Elinor Goodman humorvoll, ja selbstironisch, und mit großer Gelassenheit von seiner Zeit in der britischen Regierung erzählte. Vor allem wirkte er entspannt und merkwürdigerweise jünger als sein Nachfolger Tony Blair, dem die Spuren seiner Amtszeit immer deutlicher anzusehen sind.
Major hingegen hat es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht, seine Brille ist kleiner und modischer als Anfang der 1990er Jahre, und wenn man von der Farbe von Sir Johns Hemd, Krawatte und Socken auf seinen Gemütszustand schließen müsste, dann sieht er die Welt inzwischen wohl durchgängig rosarot.
Elinor Goodman geht freundlich, aber bestimmt die lange Liste von Majors angeblichen Fehlern im Amt mit ihm durch, doch Major lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er gesteht ein, dass er bis heute nicht sicher sei, ob er nicht am “Schwarzen Freitag”, dem Tag des Ausscheidens des Pfunds aus dem Europäischen Währungsmechanismus, hätte zurücktreten müssen. Er gibt unumwunden zu, dass er die Privatisierung der Staatsbahn heute anders angehen würde. Er wirft sich vor, dass er zu sehr auf den Zusammenhalt seiner Regierungsfraktion geachtet habe, statt seinen eigenen Zielen zu folgen. Er bemüht sich gar nicht erst, irgend etwas zu verklären, was ihm ohnehin niemand abnehmen würde. Aber er erklärt, wie er seine Entscheidungen damals zu treffen hatte, und dabei stellt sich heraus, dass hinter dem öffentlichen Eindruck eines zaudernden und uncharismatischen Regierungschef ein Politiker stand, der mehr an der Regierungsarbeit als an der Darstellung derselben interessiert war. Um Popularität hatte er nie gebuhlt - und sie daher auch nie wirklich gewonnen. Er hat einfach seinen Job gemacht.
Aber im Nachhinein ist es doch ungerecht, wenn einige Erfolge seiner Regierung Majors Nachfolgern zugeschrieben werden. Der nordirische Friedensprozess, den die Regierung Blair mit dem Karfreitagsabkommen besiegelte, wäre ohne Majors Vorbereitung wohl nie zustande gekommen. Und bei der Beschreibung der britischen Wirtschaft, die sich in den vergangenen 15 Jahren durch niedrige Zinsen, eine niedrige Inflationsrate und eine hohe Beschäftigung auszeichnete, wird häufig übersehen, dass Schatzkanzler Gordon Brown sie in eben diesem Zustand von John Major übernommen hatte, nachdem dieser Zinsen, Inflation und Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen hatte. “Das Dankschreiben von Gordon muss irgendwo in der Post verlorengegangen sein,” witzelt Major. “Wir hätten die Royal Mail doch privatisieren sollen, dann wäre das nicht passiert.”
Was er denn heute unternehme, will die Interviewerin von Major wissen. Er reise viel, sagt er, bestimmt vier Monate im Jahr verbringe er im Ausland und spreche mit allen, die ihn um seinen Rat fragten und sicher sein wollten, davon am Ende nichts in der Zeitung lesen zu müssen. Er habe die Welt seit 1997 besser kennen gelernt als in all seinen Jahren als Mitglied der britischen Regierung. Es sei schade, dass das Leben so verlaufen sei, denn sein heutiges Wissen hätte ihm damals sehr geholfen. Aber in die Politik treibe ihn nichts zurück.
Nach seinem Ausscheiden hatte Major geschworen, nie wieder einen Fuß ins Parlamentsgebäude zu setzen, und seitdem widersetzt er sich auch Versuchen, ihm einen Lordtitel zu verleihen. Dies würde er im übrigen auch Tony Blair raten: Es gebe ein Leben außerhalb der Politik, und so wie er ihm 1997 bei der Amtsübergabe eine Flasche Champagner in den Kühlschrank von 10 Downing Street gelegt habe, damit Blair auf sein neues Amt anstoßen könne, so wünsche er ihm nun, dass er die Welt außerhalb Westminsters kennenlerne. Es gebe viel zu entdecken.
So erlebte das Publikum an der London School of Economics einen Ex-Politiker, den kaum etwas mit dem heutigen Spitzenpersonal der großen Parteien verbindet. Jemand, dem es auf seine öffentliche Wirkung nicht mehr ankommt und der gerade dadurch eine sympathische, unprätentiöse Gelassenheit ausstrahlt.
Entweder, wir alle haben uns in Premierminister John Major getäuscht, als er als leerer Anzug mit zu großer Brille verspottet wurde. Oder John Major hat sich seit seiner Wandlung zum Privatmann neu erfunden. Aber eigentlich fehlen solch nüchterne, unaufgeregte Typen wie er in der heutigen Politik. Vielleicht muss man erst einen Blair erlebt haben, um sich einen Major zurück zu wünschen.