Ralf Schuler / 07.04.2020 / 14:00 / Foto: Európa Pont / 30 / Seite ausdrucken

Orban und die Panikmache

Vier Sitzungstage des ungarischen Parlaments sind in dieser regulären Sitzungswoche vor Karfreitag am Budapester Donau-Ufer vorgesehen. Eine Meldung, die in normalen Zeiten so spannend ist, wie der Plattensee hügelig. Doch die Zeiten sind nicht normal.

Seit die ungarische Regierung und Ministerpräsident Viktor Orban am 30. März das Gesetz Nr. XII aus dem Jahre 2020 zur Eindämmung des Coronavirus“ durchs Parlament brachte, muss der Konsument deutscher und europäischer Kommentare zum „Fall Ungarn“ den Eindruck gewinnen, der fast 600 Quadratkilometer große Flachsee (max 12,5 m tief) habe dem Berg Kékes (1014 m) im nordungarischen Mátra-Gebirge den Rang als höchste Erhebung des Landes abgelaufen.

Wütende Kommentare sprechen von „Staatsstreich“ (FAZ), von der Abschaffung der Demokratie in Ungarn, Vergleiche mit Hitlers Ermächtigungsgesetz sind so inflationär wie wohlfeil zu haben, Orbán könne jetzt das Parlament auflösen, regiere per Dekret durch, entsende Militär in Betriebe, schaffe Wahlen ab und verhänge  drakonische Strafen gegen Falschnachrichten.

Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk will Orbáns Partei FIDESZ jetzt erst recht aus den Reihen der konservativen Europäischen Volkspartei werfen; Bayern Orbán den „Franz-Josef-Strauß-Orden“ aberkennen (Nimm dies, Orbán! Davon erholt er sich nie!). 13 EU-Staaten sind alarmiert und geben in tiefer Sorge eine gemeinsame Erklärung heraus zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundwerten in Ungarn heraus „Wir müssen diese Krise gemeinsam überwinden und auf diesem Weg gemeinsam unsere europäischen Prinzipien und Werte hochhalten“, heißt es darin.

Was war geschehen?

Am 11. März hatte Orbáns FIDESZ-Regierung (FIDESZ steht für Verband junger Demokraten) ein Gesetz zur Gefahrenabwehr eingebracht, dass vom Parlament mit der Zweidrittelmehrheit von FIDESZ angenommen wurde.

Laut ungarischer Verfassung bedürfen solche Sonderregelungen alle 15 Tage einer erneuten Bestätigung durch das Parlament. Nachdem absehbar war, dass diese Verlängerung künftig im Zwei-Wochen-Abstand erfolgen müssten, legte FIDESZ am 20. März einen Entwurf vor, der anstelle der 15-Tage-Regel (Art 53.3 der ungarischen Verfassung) eine Befristung „bis zum Ende der Gefahrensituation“ vorsieht.

Die ungarische Opposition kritisierte in der entsprechenden Debatte weniger die von der Verfassung vorgesehenen Durchgriffsrechte (u.a. Regieren per Dekret) für den Ministerpräsidenten, sondern vor allem die Entfristung. Am schärfsten meldete sich dabei übrigens die rechtsextreme Jobbik-Partei zu Wort.

Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens hat Ungarn nach der Inkraftsetzung der geltenden Verfassung im Jahre 2012 eine sehr detailreiche Diskussion mit der EU über von Brüssel kritisierte Passagen geführt. Dabei konnten die Streitpunkte bis auf einen (Stellung von NGOs) ausgeräumt werden. Und zweitens gilt entsprechendes Sonderrecht zur Gefahrenabwehr in nahezu allen Ländern dieser Welt. Der Bundestag etwa erklärte sich in Änderung seiner Geschäftsordnung bei seiner Sondersitzung am 25. März bereits ab einem Viertel der Abgeordneten für beschlussfähig. Ein in der Tat schmerzhafter Eingriff in die Herzkammer der Demokratie, der aber durchaus plausibel ist, wenn man bedenkt, dass durch die Pandemie auch viele Abgeordnete am Erscheinen gehindert sein könnten. In die gleiche Richtung zielt Orbáns Aussetzung der 15-Tage-Regel.

Doch auch sonst muss man mit Blick auf große Teile der Berichterstattung über die ungarischen Maßnahmen den Eindruck gewinnen, dass hier in Zeiten der Krise ein beträchtlicher Mindestabstand zu den Fakten gehalten wird.

Das Parlament ist nicht aufgelöst

Nein, das Parlament ist nicht aufgelöst, und Viktor Orbán kann es auch künftig nicht auflösen. (Dazu gibt es drei Wege: Neuwahlen, Selbstauflösung oder der ungarische Präsident leitet es unter bestimmten Bedingungen ein.)

Nein, das Parlament ist nicht entmachtet. Wer das Gesetz liest, findet in §3 Abs 2 direkt hinter der Entfristung den Satz: „Das Parlament kann seine Ermächtigung gemäß Absatz (1) vor dem Ende der Gefahrensituation widerrufen.“ Und zwar jederzeit. Wenn dies sinnvoll erschiene, noch vor Ostern. Parlamentspräsident und Fraktionen MÜSSEN über die Schritte der Regierung informiert werden. Abgesehen von der 15-Tage-Frist, werden die Rechte des ungarischen Parlaments NICHT beschnitten, was nicht selbstverständlich ist in anderen europäischen Notstandsverordnungen.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble plädiert etwa dafür den „Gemeinsamen Ausschuss“ (Art. 53 GG), der insgesamt 48 Vertreter aus Bundestag und Bundesrat als eine Art Notstandsparlament auch für den Seuchenfall zu ermächtigen. Bislang ist dies ausschließlich im Kriegsfall (eingefügt ins GG im Jahr 1968) möglich. 48 Personen wären dann die einzige Kontrollinstanz der Bundesregierung.

Nein, die Ermächtigung der ungarischen Regierung ist nicht unbegrenzt. Sämtliche Maßnahmen müssen „verhältnismäßig und angemessen“ sein und dem Zweck der Pandemie-Bekämpfung dienen. Sämtliche Behörden unterliegen weiterhin dem verfassungsrechtlichen Rahmen. Und das ungarische Verfassungsgericht erhält Sonderrechte, kann während der Gefahrenzeit online tagen oder in geringerer Richterzahl, als von der Geschäftsordnung vorgesehen.

Nein, Wahlen werden nicht abgeschafft. So genannte Zwischen- oder Nachwahlen können auf die Zeit nach der Gefahrensituation verschoben werden. Parlamentswahlen sind ausdrücklich ausgenommen.

Ein Blick ins Gesetzblatt erleichtert die Rechtsfindung

Nein, Ungarn schafft die Meinungsfreiheit nicht ab. In §10 des Gesetzes („Behinderung der Seuchenbekämpfung“) werden in der Tat drakonische Strafen (bis fünf Jahre Haft)  für „Angstmacherei“ angedroht, wie es im ungarischen Sprachgebrauch genannt wird. Wer „unwahre Tatsachen“ oder „verdrehte Tatsachen“ in Umlauf bringt, die nachweislich „epidemiologische Maßnahmen“ behindern, kann davon belangt werden. Dies muss nachweisbar absichtsvoll und im Zusammenhang mit der Seuchenbekämpfung geschehen.

Neue Tatbestände wurden hier nicht eingeführt. Es wurde lediglich der bisher schon existierende Passus zu „Angstmacherei“ aus dem Strafgesetzbuch ausdrücklich auf die Seuchen-Situation erweitert. Ungarn sieht sich hier im Einklang mit dem Aktionsplan der Europäischen Kommission gegen Desinformation. „Meinungen, so kritisch sie gegenüber der Regierung auch sein mögen, sowie Spekulationen oder Prognosen fallen nicht in ihren Geltungsbereich“, sagt zumindest Justizministerin Judit Varga.

Nein, auch viele andere Behauptungen, die man dem neuen Gesetz jetzt unterjubeln will, stehen gar nicht drin. Weder regelt das Gesetz, dass man das bei Geburt eingetragene Geschlecht nicht mehr ändern darf, noch werden Universitäten aufgelöst und Bürgermeister entmachtet.

Man muss kein Fan von Viktor Orbán sein, man darf über seine Kampagne gegen den US-Investor George Soros diskutieren, aber man sollte auch in Pandemie-Zeiten nicht grundlos Fakten und Wahrheit unter Quarantäne stellen. In Ungarn, wie im Übrigen auch in allen anderen Staaten mit Notstandsgesetzen, wird über Wohl und Wehe der Demokratie am Ende der Krise entschieden: Wenn Machthaber an Durchgriffsrechten und Mitbestimmung in Stummschaltung Gefallen finden und diese beibehalten wollen, dann ist die Zeit, Alarm zu schlagen. Bis dahin gilt der alte Juristenspruch: „Ein Blick ins Gesetzblatt erleichtert die Rechtsfindung.“

Ein Europa, das seine Pawlowschen Reflexe an Ungarn und Orbán testet, widerlegt sich und seinen Gründungsgedanken selbst.

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Leserpost

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Alexander Schilling / 07.04.2020

Az hihetetlen dolog! Wenn überhaupt, werden es unsere Nachfahren dereinst ausgerechnet dem gescholtenen V. Orbán zu danken wissen, dass es einmal zu einer “renovatio Europae Christianae” kommen kann, die dann von Győrszentmárton (Pannonhalma) ausgehen wird: vexilla regis prodeunt…

Jo Waschl / 07.04.2020

Die Demokratie wird bei UNS abgeschafft und dass mit ganz linken Methoden - ich wundere mich seit geraumer Zeit, dass in den TV-Sendern außerhalb der ÖR mittlerweile auch nur noch seltenst kritisch berichtet wird und grad jetzt immer wieder das Gedöns mit Zusammenhalt / Danke / wir bleiben Zuhause in Dauerschleife läuft. Schaut man sich die Strukturen an; von wem da in letzer Zeit z. B. Sendelizenzen für Pro Sieben Sat 1 Media vergeben wurden und wer da in den Gremien der MABB so alles Sitz, kann einem richtig übel werden. Wer die Medien hat, hat die Macht - wir sind im A….

Andreas Rochow / 07.04.2020

Ein großartiger und wichtiger Beitrag. “Ungarn sieht sich hier im Einklang mit dem Aktionsplan der Europäischen Kommission gegen Desinformation.” Man muss sich diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen. Wenn die Top-Institutionen der EU sich der Deutungshoheit darüber ermächtigen können, was Desinformation ist, schrumpfen sie auf das Niveau antidemokratischer NGOs. Man darf sich freilich Sorgen machen, welchen unheimlich antidemokratischen Einfluss der zynische György Soros auf Brüssel hat und warum. Ich erwarte schon lange eine Stellungnahme des EU-Parlaments zur Einflussnahme dieses Multimilliardärs auf die Top-Themen der EU und was das mit Demokratie und Selbstbestimmung,  Recht und Moral zu tun hat. Viktor Orbán ist ein ganz Großer. Das ungarische Volk hat eine gute Wahl getroffen. DIE KAMPAGNEN GEGEN ORBÁN SIND PURE EU-DESINFORMATION!

H.Roth / 07.04.2020

Danke für den Artikel. Nun bin ich beruhigt! In der allgemeinen deutschen Presse war nicht ein einziger dieser Fakten zu finden, und der Leser konnte nichts anderes vermuten, als eine hinterhältige, faschistische Machtergreifung durch Ungarns Premier.

Ferenc v.Szita - Dámosy / 07.04.2020

@Lieber Herr Mühlenbruch, bei allem Respekt: wie kommen Sie darauf, daß in Ungarn die Wahlen verschoben oder gar AUSGESTZT werden sollen…???!!! davon steht NICHTS im Corona-Gesetz, im Gegenteil: dort ist ausdrücklich vermerkt, daß die Einschränkungen AUSSCHLIESSLICH zum Zwecke dieser Pandemiebekämpfung angewandt werden dürfen und zu keinem Zweck sonst….!!! also lesen Sie doch bitte, bitte einmal die Texte der Verlautbarungen und Erlasse der ungarischen Regierung (in englischer wie auch deutscher Sprache weltweit zugänglich unter www.kormany.hu) ...denn diese ewige Leier vom vermeintlichen “Ende der Demokratie in Ungarn” hören wir doch in den hiesigen Medien schon ununterbrochen seit dem Amtsantritt Orbáns, mittlerweile seit 10 Jahren, und wir haben es auch während seiner allerersten Amtszeit 1998-2002 gehört, ebenso während der ersten frei gewählten konservativen Regierung nach der Wende unter József v.Antall 1990-1994 (damals hieß es, aus ‘besorgten’ Kreisen, es werde bald “brauner Regen über Ungarn” fallen…) -kurz, IMMER wenn in Ungarn eine rechtskonservative Regierung im Amt war (sic!), dröhnte es hierzulande vom dortigen “Ende der Demokratie” (übernommen von der linksliberalen bzw. rechtsextremen ungarischen Opposition und von hieseigen Politikern und Meinungsmachern kritiklos nachgeplappert…). Soweit so gut -aber nun soll Orbán ABERMALS die “Demokratie abschaffen”...? schon wieder…? wo es selbige doch bereits seit zehn Jahren in Ungarn gar nicht mehr gegeben haben soll…? allein diese Widersprüchlichkeit mußte einem doch schwer zu denken geben…!!! und mal abgesehen davon: die nächsten ungarischen Parlamentswahlen finden ohnehin erst 2022 statt, die nächsten Kommunalwahlen sogar erst 2024 -bis dahin dürfte dieser Corona-Spuk doch wohl hoffentlich vorbei sein, denn wenn etwa nicht: mit Verlaub, dann werden wir weltweit GANZ andere Probleme haben, als uns mit irgendwelchen herbeiphantasierten angeblichen “Demokratiedefiziten” in Ungarn zu befassen…

E. Albert / 07.04.2020

Das ist klassische Ablenkungstaktik: immer schön mit dem Finger auf andere zeigen, wenn dann das Publikum in die ihm gewiesene Richtung schaut, einfach selber jede Menge Schweinereien durchziehen…das ist alles so durchschaubar! Um so verzweifelter bin ich, wenn ich feststellen muss, dass die Mehrheit da draußen dieses Spiel immer noch nicht zu durchschauen scheint und stattdessen in Mutti nebst Entourage tatsächlich die einzige Rettung sieht! Dabei sind die nicht die Lösung des Problems - die SIND das Problem! - Wollen wir wetten, wer die nächste Kanzlerin wird?!

Paula Bruno / 07.04.2020

Langsam finde ich es wirklich ekelhaft, wie ausländische Politiker angefeindet werden. Vor allem dann, wenn sie Entscheidungen für ihr Land treffen, die Deutschland + EU nicht in den Kram passen. Erst Trump und nun Viktor Orbán. Da werden Tatsachen verdreht und uminterpretiert, nur um zu diffamieren. Nagyon szép, Úr Orbán, daß Sie nicht nach der Pfeife tanzen! Sie sind eben noch eine wirkliche Politiker-Persönlichkeit, mit Liebe zum eigenen Land! Hatte letzten Sommer Gelegenheit, den ungarischen Nationalfeiertag mitzuerleben. Beim Blick aus dem Hotelfenster auf das Budapester Parlament (mit grandiosem Feuerwerk in den ungarischen Nationalfarben) habe ich die Magyaren echt beneidet. Und obwohl ich in Deutschland ziemlich verwurzelt bin, wäre ich in diesem Augenblick gerne eine von ihnen gewesen. Nutze die derzeitige Corona-Situation zum Auffrischen meiner Fremdsprachen-Kenntnisse. Eine Sprache ist noch dazu gekommen. Welche? Richtig! Szeretlék Magyarország!

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