Vera Lengsfeld / 26.07.2022 / 16:00 / 15 / Seite ausdrucken

Oper? Ein Grund, nach Neukölln zu fahren!

Von der Neuköllner Oper hatte ich bis vor Kurzem nichts mitbekommen. Tatsächlich verfügt die Truppe über starke Stimmen und grandiose Tänzer, die eine neuartige und ungewohnte Inszenierung zum Erlebnis machen.

Berlin ist immer noch eine Kiezstadt, das heißt, man kommt selten über seinen Kiez hinaus. Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee und Mitte, was braucht man mehr? Es gibt wenig Grund, nach Neukölln zu fahren, und deshalb habe ich von der Neuköllner Oper bisher nichts mitbekommen. Ein großes Manko, wie ich bei der Premiere von „Mexiko Aura: The Myth of Possession“, die ich im Humboldt-Forum gesehen habe, feststellen musste. Die Truppe verfügt über starke Stimmen und grandiose Tänzer, die eine neuartige und ungewohnte Inszenierung zum Erlebnis machen.

Die Idee entstand, wie das Programmheft verrät, bei der Begegnung mit der mexikanischen Komponistin und Sängerin Diana Syrse, die auch eine der beiden Hauptrollen übernommen hat, und dem Tänzer und Choreographen Christopher Roma. Es sollte versucht werden, über Musik, Tanz, mehrsprachigen Text, Körper und Stimmen die Kulturen Mexikos einzufangen. Das ist gelungen.

Ich gestehe, dass ich keine Freundin moderner Kompositionen bin, aber Syrses Musik hat mich nach kurzer Eingewöhnung in ihren Bann gezogen. Sie hat etwas Magisches. Das liegt nicht nur an den präspanischen Instrumenten aus Mexiko, die sie einsetzt, sondern an der Kunst, auch Nichtinstrumenten wie Plastiktüten Töne abzuringen, was völlig neue Klangeffekte erzeugt. Und dann die Symbiose, die Musik und Tänzer eingehen – das ist meisterhaft!

Sehr komplexe Assoziationen

Mich hat die Dirigentin Melissa Panlasigui so fasziniert, dass ich ab und zu Gefahr lief, das Geschehen auf der Bühne zu verpassen. Bewundernswert, wie Panlasigui dafür sorgte, dass alle Einsätze auf den Punkt gebracht wurden.

Überraschend war, wie Teile von Reportagen des Claas Relotius von Texter John von Düffel aufgegriffen und für das Stück verarbeitet wurden. Schließlich scheint Relotius Mexiko ebenso wenig besucht zu haben, wie einst Karl May Amerika. Das war der weniger überzeugende Teil des Ganzen.

Einer der „Augenzeugenberichte“ von Relotius ist „Das Zuhause auf der größten Müllkippe Lateinamerikas“. Da ist das erschütternde Thema, dass Menschen von den Abfällen unserer Lebensweise existieren, eher unzureichend behandelt. Das hat Sebastian Fitzek in seinem Buch „Noah“ mit der Beschreibung der philippinischen Müllkippe viel überzeugender behandelt. Dazu kommt, dass das reinweiße Plastiktuch, in dem die Tänzer sich bewegten, auch eher an eine Wolke als an einen Abfallhaufen erinnert.

Dafür ist Teil zwei, dessen Text von Eva Hibernia stammt, um so gelungener. In einem Museum begegnen sich des Nachts eine Kuratorin und eine geheimnisvolle Künstlerin oder Aktivistin. „In einem halb konkreten, halb mystischen Raum (Vier Mosaiksteine, vier Himmelsrichtungen, vier Farben) entfaltet sich eine Geschichte über ihr Verhältnis zueinander und über Traditionen und Mythen aus ihrem Heimatland“, so steht es im Programmheft. Und weiter, dass die Geschichten weniger komplex als in Stereotypen erzählt werden. Wenn das so sein sollte, sind es jedenfalls Stereotypen, die sehr komplexe Assoziationen auslösen.

Von nacktem Sänger in die Flucht geschlagen

Ganz mystisch wird es, wenn auf die Enema-Vase Bezug genommen wird, die demnächst im Ethnologischen Museum zu sehen sein wird. Sie zeigt Riten der Maya, die sich halluzinogene Substanzen durch den After einführen. Da die Figuren nackt sind, ist auch der vortragende Sänger nackt, was bei manchen Damen Herzrasen verursacht haben könnte, denn zwei verließen fluchtartig den Saal.

Aber das übergreifende Thema der Oper ist das Problem, was eine Kultur, die so viel Müll produziert (in der Tiefsee kann ein Plastikbecher offenbar Jahrhunderte überdauern, ohne eine Spur von Verwesung zu zeigen), bedeutet. Was das für unser Leben heißt. Das Bühnenbild und die Kostüme von Sängern und Tänzern bestehen überwiegend aus Plastikmüll. Mit roter Plastikplane kann man sogar ein Autodafé darstellen. Mit Müll kann man also Eindruck erzeugen.

Das ganze Stück atmet Untergangsstimmung. Es endet damit, dass der fälschlich für den 12. Dezember 2012 berechnete Weltuntergang laut Mayakalender – die Schnapszahl 12.12.12 lag nur wenige Tage vor dem Ende des Kalenders – auf den 12.12.22 verlegt wird. Allerdings muss der Weltuntergang nicht das Ende, sondern könnte die Transformation, die durch die Sonne ausgelöst wird, bedeuten.

Da ist dann also der notwendige Hoffnungsschimmer am Schluss, den zwei Tänzer darstellen. So viel Schönheit und Grazie darf einfach nicht enden!

Nächste Vorstellungen:  29. Juli im Humboldt-Forum

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Vera Lengsfeld

 

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Lutz Herzer / 26.07.2022

Wenn zuvor kein Wunder geschieht, werde ich am 12.12.22 nackt unter der eiskalten Dusche mit Inbrunst das Gebet des Rienzi singen. Und Frau Lengsfeld wird nicht darüber berichten.

Lutz Herzer / 26.07.2022

Herr Ober, ich hätte gern das Gleiche wie Frau Lengsfeld.

Dr. med. Jesko Matthes / 26.07.2022

In den 1990ern gab es dort John Gay / John Pepys (Johann Christoph Pepusch), “The Beggar’s Opera”. Ich war da und fand es wirklich sehr schön, ein bisschen improvisiert, sympathisch amateurhaft, mit geringen Mitteln, die den hehren Zweck heiligten, mit ein paar Anspielungen auf Bert Brecht, so gut sie es konnten; insgesamt also irgendwie lustig und erfrischend, erfreulich Underground, “off Unter den Linden” und “off Bismarckstraße”. Damals war Westberlin bereits gefangen in der Independent-Nostalgie der 1980er Jahre, als es noch schick war, nach Westberlin zu flüchten, selbst für David Bowie, als es “in” war, auf CDU-wählende Wilmersdorfer Witwen zu schimpfen, “Linie 1” im Grips-Theater für ein Musical zu halten und nicht für eine bemüht-subtile linke Indoktrination. Das Ganze ist typisch für das gesamte Berlin nach 1932. Man träumt von Weltgeltung und schafft selten mehr als Provinz, lässt sich ultrarechts oder ultralinks regieren und macht immer mit, egal, ob Frontstadt des Nationalsozialismus, des Kapitalismus oder des Sozialismus. Ausnahmen wie jene in der Chausseestraße 131 bestätigen die Regel. So ist meine Heimatstadt. Spree-Athen schwankt immer zwischen “uns kann keena” und “mir is’ janz blümerant” - und täuscht sich damit, so oder so erfolgreich, über die eigene Bedeutungslosigkeit.

Rudhart M.H. / 26.07.2022

Ich freue mich schon auf die nächste Kritik von Frau Lengsfeld. Obwohl , - eigentlich bräuchte ich sie auch nicht, denn ich weiß bereits vorher, daß ich mir solche großartigen künstlerischen Genüsse lieber versage, als daß ich mich auch noch echauffieren würde , ob der herbeiphantasierten Bedeutung. Es ist schon etwas gruselig geworden , was sich heute Kunstschaffende und ihre Rezensenten so alles ausdenken und deuten und als Inhalt verkaufen. Ist das nun Kunst, oder kann das weg?

Martha Geist / 26.07.2022

Ja, Neukölln hat AUCH liebenswerte und ästhetische Seiten : die, die wir kennen- und lieben gelernt haben, war der Schillerkiez dort. Ein noch komplett erhaltener kleiner Gründerzeitstadtteil mit Pflasterstraßen und der wunderbaren Schillerallee, direkt neben dem “Feld” (Tempelhofer) , voller schöner Jugendstil-Stadthäuser.  Da hatten wir eine süße kleine Wohnung…

Sam Lowry / 26.07.2022

“Oper?” Deutlich spannender ist für mich die Frage, ob statt mit Eiern die Reibekuchen auch mit Schmand gelingen… und wenn ja, ob diese mit Apfelmus und Zucker in wenigen Minuten mein Herz erfreuen… Oper? Opfer?

Thorsten Gutmann / 26.07.2022

Hilary Hahn spielt Mozarts drittes Violinkonzert (kann sich jeder, der mag, im Netz anhören), und ich halte allein schon als Zuhörer - aber bei Frau Hahn die Augen zu schließen, wäre die Sünde schlechthin -  die Welt in meinen Händen. Kein Klimbim, nur pure Freude.

Franz Klar / 26.07.2022

Ich gehe grundsätzlich nur in Opern , in denen die SängerIN nackt ist ( sog. “Herrenopern” ) . Alles andere ist Müll ...

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