Die Olympischen Spiele brauchen eigentlich keine zur Schau gestellte Diversität. Menschen aus allen möglichen Schichten und Gesellschaften messen sich im sportlichen Wettbewerb. Das ist die wahre Vielfalt, die nicht von außen inszeniert werden muss.
Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2024 in Paris feierte sich die personifizierte Diversität in all ihrer schillernden Pracht. Farbenfrohe Kostüme, Federfächer, ein blau angemalter Mann mit rotem Bart, Drag Queens beim letzten Abendmahl und die Betonung auf Inklusion und Gleichberechtigung prägten das Bild der Eröffnungsparty in Paris. Doch stellt sich die Frage, ob es tatsächlich Vielfalt war, die dort zelebriert wurde, oder nicht vielmehr eine Form von Dekadenz.
"Was ist der Dritte Stand?" Diese berühmte Frage stellte der französische Priester und Revolutionär Emmanuel-Joseph Sieyès im Jahr 1789. Sieyès stellte damit die soziale und politische Struktur Frankreichs infrage, die sich in drei Stände unterteilte. Der Klerus war der Erste Stand, der Adel stellte den Zweiten Stand und den Dritten Stand umfasste die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, darunter Bauern, Handwerker und das aufstrebende Bürgertum. Es war der Dritte Stand, der die Gesellschaft am Laufen hielt. Er bestellte die Felder, stellte die Produkte her und zahlte die Steuern, während Adel und Klerus, die kaum oder gar keine Steuern zahlten, in luxuriösem Überfluss lebten.
Die Dekadenz des Adels am französischen Königshof ist gut dokumentiert. Die königliche Familie und der Adel gaben Unmengen von Geld für extravagante Bälle, Mode, Kunst und Kultur aus. Schloss Versailles, ein Symbol dieser Pracht, war ein Ort ständiger Feste und des Luxus. Diese Dekadenz brachte jedoch nicht nur finanzielle Probleme mit sich, sondern beförderte auch kulturelle und philosophische Entwicklungen. Adelige Frauen hatten oft Zugang zu Bildung und kulturellen Aktivitäten, die ihnen in den unteren Ständen verwehrt waren. Salons, die von adeligen Frauen geführt wurden, waren Zentren der Aufklärung, in denen neue Ideen und philosophische Konzepte, wie Menschenrechte und Freiheit, diskutiert wurden.
Auch der Klerus trug zur intellektuellen und kulturellen Diversität bei. Viele Geistliche spielten eine Schlüsselrolle bei der Förderung von Bildung und wissenschaftlichem Fortschritt. Dennoch profitierten auch sie von einem System, das auf den Schultern des Dritten Standes ruhte. Die Steuern und Abgaben, die zur Finanzierung des verschwenderischen Lebensstils der ersten beiden Stände dienten, kamen von den Bauern und Bürgern, die selbst oft in Armut lebten.
Die Revolution schuf eine neue Ordnung
Während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele gab es eine eindrucksvolle Szene, in der eine Heavy Metal Band gemeinsam mit einer Opernsängerin unter viel pyrotechnischem Spektakel die Französische Revolution nachspielte. Zahlreiche Frauen waren als geköpfte Marie Antoinette verkleidet, eine Anspielung auf das Ende des französischen Adels und Klerus in ihrer dekadenten Pracht. Die Inszenierung erinnerte an die historische Zäsur, die die Französische Revolution markierte. Die Revolution war eine gewaltsame Umwälzung, die den jahrhundertelangen, verschwenderischen Lebensstil der oberen Stände beendete. Der Adel und der Klerus, die in Luxus und Abgehobenheit lebten, wurden von den revolutionären Kräften gestürzt.
Die Französische Revolution war jedoch nicht nur das Ende einer Ära von Prunk und Ungerechtigkeit, sondern auch eine Zeit großer Brutalität. Tausende Menschen wurden während der Revolution hingerichtet, viele von ihnen auf der Guillotine. Schreckensherrschaft wird diese Epoche genannt. Es kam zu einem enormen Blutvergießen. Trotz der Gewalt legte die Revolution dennoch den Grundstein für die moderne Republik und Demokratie. Die Revolution schuf eine neue Ordnung, die auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit basierte.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren die Prinzipien der Französischen Revolution. Bei der Eröffnungszeremonie wurden diese Werte jedoch um neue ergänzt, darunter Solidarität und Diversität. Springen wir also von der Zeit der Französischen Revolution ins Heute.
Die Inszenierung zeigte die Abgründe der heutige Gesellschaft
Sind der Adel und der Klerus mit all ihrer Dekadenz wirklich verschwunden? Nein, die Dekadenz ist nicht verschwunden, sie hat lediglich ihre Form gewechselt. Die Dekadenz tanzt wieder in Paris, ganz so, als sei der Sonnenkönig wieder auferstanden. Der Sonnenkönig lag nun bei der Eröffnungsfeier, blau angemalt und mit rotem Bart, auf einer üppig geschmückten Tafel, die an das Bild „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci erinnerte und wurde von schrillen, wohlgenährten, bunten, reich geschmückten Menschen wild umtanzt. Es war ein Bild, das den heutigen Westen perfekt darstellt.
Die Inszenierung zeigte, vermutlich ungewollt, die Abgründe der heutige Gesellschaft. Die westliche Welt, in der wir heute leben, zeigt oft ähnliche Tendenzen zur Dekadenz wie der Adel von einst. Der neue Adel schwelgt heute in opulenten Festen und Luxus, während die weniger Privilegierten die Last tragen. Es ist eine moderne Parallele zu den Ereignissen, die zur Französischen Revolution führten.
Der heutige Adel, oft bestehend aus einer reichen Elite und einer einflussreichen kulturellen Schicht, feiert seine bunten Feste, ähnlich wie es der französische Adel tat. Auf den Modenschauen, Musikfestivals und andere Veranstaltungen präsentieren sich Menschen in einer schillernden Vielfalt. Doch wer finanziert diese Feste?
Die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2024 an der Seine zog zahlreiche Zuschauer an, die ebenfalls in farbenfrohen und extravaganten Kostümen gekleidet waren. Ähnlich wie bei anderen Paraden, wo die Zuschauer sich schrill kostümieren, wurden auch hier viele Kleidungsstücke präsentiert, die häufig in Billiglohnländern unter prekären Bedingungen produziert werden. Die Menschen, die die Kleidung des Westens herstellen, sind durchaus vergleichbar mit dem Dritten Stand der Französischen Revolution.
Eine tiefe soziale Kluft
Nehmen wir nur einfach mal die Smartphones, womit wieder so viele Zuschauer Szenen der Eröffnungsfeier selbst aufgenommen haben. Die Herstellung von Smartphones erfordert Seltene Erden und Materialien wie Kobalt, das häufig unter unmenschlichen Bedingungen abgebaut wird. In den Minen, oft in afrikanischen Ländern, arbeiten Männer, Frauen und sogar Kinder unter gefährlichen und ausbeuterischen Umständen, um diese wertvollen Rohstoffe zu gewinnen. Dieser Rohstoffabbau erinnert an die Zeiten, als Edelsteine und Diamanten aus kolonialisierten Ländern geplündert wurden, um die Kronen europäischer Monarchen zu schmücken. Heute finden sich diese modernen Edelsteine in den elektronischen Geräten, die wir täglich nutzen.
Dieser Kreislauf aus Ausbeutung und Luxus zeigt, dass die Dekadenz, die einst den Adel und den Klerus der alten Welt kennzeichnete, nicht verschwunden ist. Sie hat sich lediglich in neue Formen gewandelt und zeigt sich heute in den extravaganten Konsumgewohnheiten und dem unkritischen Genuss von Luxusgütern. Die Menschen, die bei solchen Anlässen feiern und die neuesten Modetrends präsentieren, sind die neuen Dekadenten. Dass sie dabei Begriffe wie Gleichheit und Solidarität feiern, ist völlig absurd, aber das waren die Feste des Adels und des Klerus damals auch.
Die heutige Grenze zwischen dem modernen Äquivalent des Dritten Standes und den neuen Formen von Adel und Klerus verläuft jedoch nicht nur zwischen Ländern, sondern zieht sich auch durch die Gesellschaften der westlichen Welt selbst. In den entwickelten Ländern existiert eine tiefe soziale Kluft.
Die Künstlerinnen des modernen Adels
Ein Sänger, der diese Themen in seinen Liedern anspricht und nicht bei der Eröffnungsfeier anwesend war, ist Oliver Anthony. In seiner Musik kritisiert er die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Elite, die er oft in den politischen Kreisen Washingtons verortet. Sein Lied "Rich Men North of Richmond" thematisiert die Ungleichheit und die Schwierigkeiten, denen sich die einfache Bevölkerung gegenübersieht, während die Elite weiterhin in Dekadenz schwelgt. Statt Oliver Anthony traten Lady Gaga und Céline Dion bei der Eröffnung auf. Sie wurden gefeiert wie Königinnen. Sie sind die Künstlerinnen des modernen Adels.
Die Dekadenz des heutigen Adels erinnert sehr an die Dekadenz des alten Adels. Dies zeigt sich besonders in der Art und Weise, wie heute oft Diversität gefeiert wird. Obwohl der Westen in vielerlei Hinsicht Freiheiten und Rechte ermöglicht, die in anderen Teilen der Welt undenkbar sind, besteht ein Unterschied zwischen echter Diversität und bloßer Dekadenz. Während echte Diversität die Anerkennung und Inklusion unterschiedlicher Gruppen bedeutet, oft durch schwere Kämpfe für gleiche Rechte erreicht, kann Dekadenz bedeuten, dass die Vielfalt nur oberflächlich zur Schau gestellt wird. In einigen Fällen dient sie eher der Selbstbeweihräucherung als einem echten Engagement für Gerechtigkeit.
Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür sind die aktuell überall im Westen stattfindenden pro-palästinensischen Demonstrationen, die sich oft mit islamischen oder anderen fundamentalistischen Bewegungen solidarisieren, die Rechte von Homosexuellen und Frauen nicht respektieren. Es gibt sogar Organisationen wie "Gays for Palestine", obwohl die Rechte von homosexuellen Menschen in palästinensischen Gebieten massiv verletzt werden. Diese Widersprüche zeigen, dass die Feier der Vielfalt manchmal mehr mit Dekadenz zu tun hat als mit wahrer Diversität. Es ist nichts mehr als ein Luxus, der sich auf moralische Hoheit beruft, während die Realität ignoriert wird.
Vielfalt ist nicht nur eine Frage der Repräsentation, sondern auch eine Frage der Verantwortung. Der westliche "Adel" feiert Vielfalt bloß als Selbstinszenierung.
Die Diversität entsteht bei Olympia ganz natürlich
Bei den Olympischen Spielen muss Diversität nicht eigens hervorgehoben oder erzwungen werden, denn sie ist das Fundament der olympischen Idee. Athletinnen und Athleten aus aller Welt, mit unterschiedlichen Hautfarben, Religionen, kulturellen Hintergründen und sexuellen Orientierungen treten gegeneinander an. Dieser Wettstreit ist die Essenz der Diversität. Menschen aus allen möglichen Schichten und Gesellschaften messen sich im sportlichen Wettbewerb. Das ist die wahre Vielfalt, die nicht von außen inszeniert werden muss.
Bei den Olympischen Spielen zählt nur die Leistung. Egal, welche Hautfarbe man hat, woher man kommt oder mit wem man schläft, wenn man der schnellste Mann ist, dann ist man der schnellste Mann. Eine Frau, die am höchsten springt, ist die Frau, die gewinnt. Leistung lässt sich nicht täuschen oder politisch beeinflussen. Es gibt keine Quotenregelung für Erfolg im Sport. Niemand wird sagen: „Es muss aber auch ein weißer Mann unter den zehn schnellsten Läufern sein“, oder „Es muss ein Athlet mit einer bestimmten sexuellen Orientierung unter den Medaillengewinnern sein.“ Die schnellsten Läufer sind eben diejenigen, die die besten Zeiten laufen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Identität.
Bei den Olympischen Spielen bestimmt allein die sportliche Leistung, wer sich an die Spitze setzt. Keine Eliten oder mächtigen Persönlichkeiten können die Regeln so biegen, dass sie eine bestimmte Verteilung von Hautfarben, Religionen oder anderen Merkmalen erzwingen. Die Diversität entsteht hier ganz natürlich, getragen von den Anstrengungen und dem Können der Athletinnen und Athleten. Es ist ein ehrlicher Wettbewerb, in dem nur das individuelle Talent und die harte Arbeit zählen.
Sport ist unbestechlich. Es gibt auch kein selbstbestimmtes Pronomen für sportlichen Erfolg. Es gibt keine Möglichkeit, sich einfach durch Selbstdefinition oder Identifikation als sportlich zu erklären. Nur wer trainiert und hart arbeitet, kann Erfolge erzielen. Es gibt keine Abkürzungen und keine Möglichkeiten, den Prozess durch bloße Identifikation oder Selbsterklärung zu umgehen. Ein gibt keinen Satz wie: „Ich identifiziere mich als sportlich“.
Gerd Buurmann. Als Theatermensch spielt, schreibt und inszeniert Gerd Buurmann in diversen freien Theatern von Köln bis Berlin. Er ist Schauspieler, Stand-Up Comedian und Kabarettist. Im Jahr 2007 erfand er die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Mit seinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und den von ihm entwickelten Begriffen des „Nathan-Komplex“ und des „Loreley-Komplex“ ist er in ganz Deutschland unterwegs. Seit April 2022 moderiert er den Podcast „Indubio“ der Achse des Guten. Sein Lebensmotto hat er von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!“