Obwohl deutsche Medien immer wieder darauf hinweisen, dass es sich bei der österreichischen Regierung unter Sebastian Kurz um eine populistische, gefährliche und obendrein dilettantische Administration handelt, genießt die Koalition in Wien ihre soliden Umfragewerte, die sich von den Beliebtheitswerten der Berliner Koalition deutlich unterscheiden, erst recht von der Zustimmung zu Emmanuel Macron in Frankreich.
In einer Umfrage vom 17. November erreichte Kurz’ ÖVP 35 und die FPÖ 24 Prozent (SPÖ ebenfalls 24 Prozent). Zur Wahl 2017 lagen die Ergebnisse noch bei 31,5 Prozent für die ÖVP und 26 Prozent für die FPÖ. Die Grünen rangierten in Österreich Ende 2018 bei zwei Prozent. Es ist also paradox – trotz aller medialen Warnungen legte die Kurz-Partei sogar noch zu. Seit genau einem Jahr amtiert Sebastian Kurz als Bundeskanzler, er zog am 18. Dezember 2017 am Ballhausplatz ein. Für die „Süddeutsche“ lag es nah, weniger auf volkswirtschaftliche Daten zu schauen, sondern zur Erklärung der Popularität von Kurz ein Interview mit dem österreichischen Historiker Oliver Rathkolb zu führen, Autor des Buchs „Die paradoxe Republik“.
Auf die Frage nach der Bilanz für das Mitte-Rechts-Kabinett, das seit einem Jahr Österreich regiert, meint Rathkolb:
„Kanzler Kurz lässt der FPÖ eine lange Leine. Dafür steht sie ihm nicht im Weg. Die ÖVP setzt ihre konservative und wirtschaftsfreundliche Politik um… Die FPÖ beschränkt sich auf Symbolpolitik. Dazu gehören die Erhöhung des Tempolimits auf Autobahnen oder dass weiterhin in der Gastronomie geraucht werden kann. Was mich irritiert, ist die fehlende Zukunftsvision. In Fragen zu Klima, Migration oder Bildung ist die österreichische Regierung in Richtung Vergangenheit unterwegs.“
Was fällt dem Historiker noch auf?
„Kurz hat erkannt, dass die Österreicher Streit in der Politik ablehnen. Ihm gelingt es, nach außen hin zu vermitteln: Das ist die erste Koalition, die arbeitet und nicht streitet. Das kommt bei den Österreichern sehr gut an.“
Sein statt Sehnen
Oliver Rathkolb ist auch Herausgeber einer Studie, die sich mit dem beschäftigt, was er „autoritäre Sehnsucht“ nennt. Beziehungsweise, ins Nüchterne übersetzt: mit dem verbreiteten Wunsch der Wähler, einigermaßen vernünftig und unter Berücksichtigung ihrer Interessen regiert zu werden. Diese autoritäre Sehnsucht jedenfalls, stellte Rathkolb fest und referiert es gegenüber der Süddeutschen, habe mit dem Amtsantritt von Kurz und dessen Vizekanzler Heinz-Christian Strache 2017 deutlich abgenommen – weil sich offenbar viele Österreicher nicht mehr sehnen, sondern meinen, die Regierung erledige ihr Programm nicht schlecht.
Rathkolb: „Seit seinem Amtsantritt ist unseren Umfragen zufolge die autoritäre Sehnsucht nachweislich nach unten gegangen – weil viele das Gefühl haben: Jetzt werden wir geführt. Er fährt zudem einen härteren Asyl- und Migrationskurs, was seine Wähler und Wählerinnen goutieren.“
„Seine Fans“, fragt die Münchner Zeitung besorgt, „beklatschen auch, dass Kurz Österreich zurück auf die internationale Bühne und auf viele Magazincover gebracht hat. Schwingt da auch ein ‚Wir sind wieder wer’ mit?“
Auch dazu weiß der Historiker eine Antwort, die auf die Fragesteller möglicherweise irritierend wirkt:
„Interessanterweise haben Kurz und Strache dasselbe politische Vorbild: den früheren SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky. In der Erinnerung der Österreicher ist das der letzte große Staatsmann. Kurz hat in einem Punkt auch Ähnlichkeit mit Kreisky: Er schafft es so zu kommunizieren, dass ihn jeder versteht.“
Mit anderen Worten: Sebastian Kurz verfolgt seit einem Jahr eine wirtschaftsfreundliche Politik, vermeidet Koalitionskrach, die Partei rechts von ihm treibt die Alpenrepublik nicht etwa in die Diktatur, sondern beschränkt sich auf Kleinthemen. In der Migrations- und Asylpolitik verfolgen beide einen mehrheitsfähigen Kurs. Außerdem pflegt Kurz eine politische Rhetorik, die Schachtelsätze meidet und einigermaßen klare Aussagen enthält.
Mit Tricks dieser Art ist es natürlich keine Kunst, gut in Umfragen abzuschneiden.
Es folgt noch eine Frage der Süddeutschen zu den Protesten in Österreich gegen die Kurz-Regierung, die unter dem Motto „Wehret den Anfängen“ stehen. Die Zahl der Protestler, trübt Rathkolb die Stimmung, sei sehr übersichtlich. Vor allem – das erwähnt er zwar nicht, aber es fällt in diesen Tagen besonders auf – im Vergleich zu den Anti-Macron-Demonstranten in Paris.
Neben dem zeitgeschichtlichen lohnt sich noch mehr der ökonomische Blick auf Österreich nach einem Jahr der Kurz/Strache-Regierung. Denn erst die volkswirtschaftlichen Daten erklären, warum Kurz bei der nächsten Wahl wahrscheinlich sogar ein deutlich besseres Ergebnis holen dürfte als 2017. Und warum sich seine Koalition nach einem Jahr Amtszeit über Zustimmungswerte von fast 60 Prozent freuen darf, während die Unions-SPD-Koalition in Deutschland hartnäckig unter 50 Prozent liegt, und die Medienhoffnung Macron gegen die Gelbwesten um das politische Überleben kämpfen muss.
Österreich kann sich faire Renten leisten
Wie sieht die volkswirtschaftliche Bilanz nach einem Jahr Kurz-Regierung aus?
• Das Wirtschaftswachstum zeigt eine deutliche Dynamik: 2017 plus 2,6 Prozent, 2018 plus 3 Prozent (2015: plus 1,1 Prozent, 2016 plus 2 Prozent).
• Die Arbeitslosenquote sank 2017 auf 8,5 und 2018 auf 7,7 Prozent. (2015 und 2016 je 9,1 Prozent).
• Mit 3,661 Millionen Erwerbstätigen erreichte Österreich 2018 die höchste Erwerbsquote seit 1995.
• Seit vielen Defizitjahren weist der Staatshaushalt für 2018 ein leichtes Plus aus.
So weit ähneln die Daten den deutschen, der Aufschwung ist natürlich nicht nur das Verdienst des Kanzlers. Österreichs Regierung profitiert von der guten Konjunktur in Europa. Umso interessanter sind die Unterschiede. Kurz halbierte die Steuer für nicht ausgeschüttete Unternehmensgewinne und führte eine sogenannte Forschungsprämie ein, eine pauschale Steuergutschrift für Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen. Die durchschnittliche reale Unternehmensbesteuerung liegt in Österreich bei 22,4 Prozent, in Deutschland bei 29,3 Prozent. Das dürfte noch an Bedeutung gewinnen, da der Höhepunkt der Konjunktur auch in Deutschland mittlerweile überschritten ist und Firmen in den nächsten Jahren stärker gezwungen sind, knapper zu kalkulieren und womöglich umzuziehen.
Viel wichtiger ist allerdings ein sozialpolitisches Projekt der Regierung Kurz/Strache. Sie führte ab 2019 eine Mindestrente von 1.200 Euro für Versicherte nach 40 und von 1.000 Euro nach 30 Jahren Erwerbstätigkeit ein. Das ist zwar teuer – aber das Land kann sich die Absicherung der Senioren leisten. In Deutschland – diese Zahl benutzen deutsche Politiker gern – liegt die rechnerische Rentenhöhe im Schnitt, wohlgemerkt, im Schnitt, also nicht in der Untergrenze bei 1.383 Euro im Westen und 1.313 Euro im Osten. Allerdings handelt es sich bei der rechnerischen Figur um den sogenannten „Eckrentner“ nach 45 Jahren ununterbrochener Tätigkeit und um eine Bruttozahl, also noch vor Abzug der Sozialabgaben. Die reale Rentenhöhe in Deutschland ist weit niedriger: Sie lag als reine Altersrente im Schnitt – also nicht Untergrenze – 2017 bei 875,68 Euro; in allen Rentenarten, also auch Hinterbliebenenrente, bei 1.078 Euro. Geringverdiener profitieren in Österreich außerdem von dem großzügigen Grundfreibetrag von 11.000 Euro pro Jahr für Alleinstehende (Deutschland: 8.652 Euro).
Klassisch liberal, nicht neoliberal
Wie sieht ein wichtiger Punkt außerhalb von Lohn, Steuern und Renten gerade für Bezieher kleiner Einkommen aus, nämlich der Strompreis? In Österreich bewegt er sich zwischen 13 und 23 Cent pro Kilowattstunde für Haushaltsstrom (Graz 14,1; Wien 15,99; Kärnten 18,08 Cent). In Deutschland liegt er bei gut 30 Cent pro Kilowattstunde. 52 Prozent des Preises sind Steuern und Abgaben, die höchste davon die Erneuerbare-Energien-Umlage, weitere 20 Prozent Netzgebühren, also auch Kosten für den Trassenausbau und so genannte Netzeingriffe, die durch den erratischen Grünstrom nötig werden. Die deutschen Strompreise sind die höchsten in Europa. Der günstige Tarif in Österreich ist nicht das Verdienst von Sebastian Kurz, sondern vor allem Folge der schon länger verfolgten Politik, in der nichtfossilen Energiegewinnung stark auf unsubventionierten Wasserkraftstrom zu setzen. Aber der Kanzler blieb bei diesem Kurs.
Die schwarz-blaue Regierung in Wien betreibt also eine wirtschaftsfreundliche Angebotspolitik, ergänzt sie aber durch einen Kurs, der vor allem Kleinverdienern und Rentnern eine Sicherheit bietet, nicht abzurutschen. Alles in allem: die Kurz-Ökonomie ist klassisch liberal, nicht vulgär neoliberal, sie fällt insgesamt deutlich sozialer aus als der Kurs Merkels, erst recht der von Macron. Frankreichs Präsident hatte Steuervorteile für Unternehmen und Hochverdiener geschaffen, die Renten eingefroren, das Steuersystem umgestellt. Bisher bekamen die Arbeitnehmer abzüglich der Sozialabgaben Bruttosummen aufs Konto, und mussten erst im Mai des folgenden Jahres en bloc Steuern bezahlen. Durch die Systemumstellung ist zwar im Mai 2019 noch die Zahlung für 2018 fällig; ab Januar 2019 fließen allerdings nur noch Nettosummen aufs Konto. Dazu kam die (wegen der Proteste zurückgenommene) Dieselsteuer-Erhöhung, die vor allem Pendler traf.
In Deutschland trifft die zweithöchste Steuerlast innerhalb der EU (nach Belgien) auch Geringverdiener. Die Energiewende stellt eine klassische Umverteilung von unten nach oben dar. Die neueste Volte, das Diesel-Fahrverbot, trifft hauptsächlich Arbeitspendler.
Der als neuer Mittelinks-Held von vielen Medien gerade in Deutschland gefeierte Macron praktizierte eine dezidiert arbeitnehmerfeindliche Politik, Merkels Kabinette in 13 Jahren eine Politik, von der Arbeitnehmer und Rentner kaum etwas hatten. Und Kurz vergleichsweise eine arbeitnehmer-, rentner- und gleichzeitig wirtschaftsfreundliche Strategie.
Jedenfalls in Wien wie in Paris ziehen Wähler diese Bilanz sehr genau.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Alexander Wendts Publico