Chaim Noll / 22.04.2019 / 16:00 / Foto: Freud / 24 / Seite ausdrucken

Notre Dame oder: Wie wir aufhören sollen zu denken

Unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, ist eine besondere Qualität, mit der wir von der Schöpfung ausgezeichnet wurden. Wir Menschen vermögen einzelne Erscheinungen zu größeren Bildern zu konfigurieren, zu verallgemeinern, Schlüsse zu ziehen, Konklusionen, Induktionen, Deduktionen und wie all diese wunderbaren Denkprozesse genannt werden. Doch in Europa geht man daran, sie zu behindern und zu diskreditieren. Wir sollen, erfahren wir täglich, „keine vorschnellen Schlüsse“ ziehen, nicht „voreilig verallgemeinern“, keinen „Generalverdacht“ hegen.

Noch eine Woche vor dem Brand von Notre Dame, am 9. April, schrieb Jürg Altwegg in der Frankfurter Allgemeinen darüber, dass „täglich in Frankreich drei Gotteshäuser Opfer von Vandalismus“ würden: „Zu Beginn des Jahres brannte in Grenoble die Kirche Saint-Jacques. Mehr als hundert Menschen mussten aus umliegenden Wohnhäusern evakuiert werden (…) Im März brannte es an einem Sonntagmorgen in der Kirche Saint-Sulpice im sechsten Pariser Arrondissement (…) Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, wollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen: 'Noch wissen wir nichts über das Motiv.'“ Doch die polizeiliche Untersuchung ergab, wie Altwegg wissen ließ: „Es war Brandstiftung.“

Das gleich Muster verfolgt Erzbischof Aupetit nun bei seiner eigenen Kirche, Notre Dame. Wieder dürfen wir keine „voreiligen Schlüsse“ ziehen. Und viele wollen es auch gar nicht mehr, da alle Autoritäten so dringend davon abraten. Auch die Pariser Staatsanwaltschaft teilte (laut Bild-Zeitung) schon vor Beginn der Ermittlungen mit, man gehe von einem Unglücksfall aus und werde nicht in Richtung Brandstiftung ermitteln (was eigentlich genau das darstellt, wovor unermüdlich gewarnt wird: einen „voreiligen Schluss“).

„Viele werden in die Kirche Saint-Sulpice emigrieren, sie ist nun die größte Kirche von Paris“, zitierte das deutsche Leitmedium Die Zeit eine Pariserin, ohne zu erwähnen, dass es auch dort schon gebrannt hat. Der Vorfall wurde in den großen Medien ohnehin kaum erwähnt. Es musste Notre Dame sein, das Flaggschiff der französischen Katholiken, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Notre Dame hüllt sich inzwischen in Schweigen. (Wo ist der berühmte Glöckner?)

Progressive Menschen wenden sich dem Neuaufbau zu, ohne nach dem Feuer von gestern zu fragen. Der Brand kann ad acta gelegt, die Frage nach der Ursache vergessen werden, weil es Grund zur Freude gibt: französische Milliardäre und Wirtschaftsunternehmen haben hunderte Millionen Euro für den Wiederaufbau zugesagt. Vielleicht reicht das Geld, um hinterher einen Wachdienst zu engagieren. Europa wird seine Kirchen bewachen müssen wie bisher die Synagogen.

Die Frage nach der Ursache des Feuers werden wir alle vergessen (zum aktuellen Stand siehe hier). Auf sanfte Weise, Schritt für Schritt, erfolgt unsere Entmündigung. Nachdem uns das offene Aussprechen dessen, was wir wahrnehmen, abgewöhnt wurde, meiden wir auch das klare Denken. Wie offenkundig auch immer die Umstände, wir ziehen möglichst keine Schlussfolgerungen. Die Erfolgsmeldung aus Paris kam schon in der selben Nacht: Die Fassade von Notre Dame steht noch. Damit kann sich Europa trösten. Damit trösten wir uns schon lange. Es ist sowieso nur noch die Fassade, was von Europa geblieben ist.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Martin Landner / 22.04.2019

Natürlich kann es sein, dass Notre Dame zufälligerweise einem Kurzschluss zum Opfer gefallen ist. Kurz vor Ostern. Während Brandanschläge auf Kirchen üblich geworden sind. Die größte und bekannteste Kirche Frankreichs. Das Problem ist, dass das Jahr 365 Tage hat, viel Zeit, um Kurzschlüsse zu verursachen, ohne in die Nähe eines christlichen Feiertages zu kommen. Und im Zweifel vertraue ich eben eher der Macht der Statistik als unseren Medien.

Dr. Hans Wilhelm Meier / 22.04.2019

Das ist nicht ganz korrekt, Herr Maxeiner.  Europa ist noch so, wie vor hundert oder tausend Jahren und es reicht immer noch bis an den Ural. Wovon nur noch die Fassade übrig ist, ist diese unsägliche EU. Eigentlich TEU für teileuropäische Union. (Dann bekäme der Teuro auch einen ganz anderen Sinn.)  Statt der Vernunft zu folgen und zu versuchen, die de Gaullesche Idee vom Europa der Vaterländer zu verwirklichen, versuchte man ein Vaterland der Europäer (zumindest eines Teils davon)  aus dem Boden zu stampfen. Das wird es aber nie geben.

Frank Holdergrün / 22.04.2019

“Es ist sowieso nur noch die Fassade, was von Europa geblieben ist.” Wie wahr, eine jämmerliche zudem, die es gewohnt ist, vor einer ewig klagenden Opferreligion zu kuschen, fernab davon, für die Angriffe klare Worte zu finden. Mein Gott, was ist aus der europäischen Aufklärung geworden, wenn sie ihre Werte vor der Ideologie des politischen Islam verschleiern muss.

Frank Heyer / 22.04.2019

Genauso ist es: ” Es ist sowieso nur noch die Fassade, was von Europa geblieben ist.” Und am Abriss dieser Fassade wird weiter fleissig gearbeitet, speziell durch unsere relativierenden Eliten, Medien, Politiker und wer auch immer sonst dazugehoert. Aber die Mehrheit will es so, sonst wuerde sie auch gelbe Westen anziehen und den o.g. ein Stopschild vor die Nase setzen oder es ihnen um die Ohren hauen wenn nichts passiert. Ein saft- und kraftloses Grossmuseum entsteht gerade, “Notre Europe”.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Chaim Noll / 25.03.2024 / 06:30 / 43

Die Juden-Selektion der deutschen Linken

Einige aus der NS-Zeit bekannte Methoden im Umgang mit Juden erfreuen sich zunehmender Beliebtheit bei deutschen Linken, besonders bei grünen Funktionsträgern. Betroffen sind israelische Staatsbürger,…/ mehr

Chaim Noll / 11.03.2024 / 06:15 / 68

Deutschlands Dunkel – das Licht der Linken

Sollte der „Kampf gegen Rechts“ sein Endziel erreichen, wird Deutschland das, wovon die Betreiber der Kampagne träumen: ein durchgängig linkes Land. Die sich „links“ nennen,…/ mehr

Chaim Noll / 02.03.2024 / 10:00 / 31

Ist Yuval Avraham ein „Antisemit“? Oder Claudia Roth? Oder ich?

Das Wort „Antisemitismus" taugt noch als Popanz im „Kampf gegen Rechts“, aber am eigentlichen Problem geht es glücklich vorbei. Fasziniert verfolge ich aus der Ferne…/ mehr

Chaim Noll / 27.01.2024 / 06:00 / 128

Der Faschismus von Links

Der stupide Aufruf eines Spiegel-Kolumnisten zur „gesellschaftlichen Ächtung“ von AfD-Wählern ist faschistoid, weil er auf die Ausgrenzung und Vernichtung Andersdenkender zielt.  Manchmal, wenn ich deutsche Medien lese,…/ mehr

Chaim Noll / 20.01.2024 / 06:00 / 46

Südafrika-Klage gegen Israel: Wer im Glashaus sitzt…

Vor dem Hintergrund des massenhaften Mordens im eigenen Land ist die Klage Südafrikas vor dem Gerichtshof in Den Haag nichts als eine Farce. Für viele…/ mehr

Chaim Noll / 06.01.2024 / 06:00 / 72

Deutschlands Pakt mit dem Terror

Westliche Staaten, allen voran Deutschland, pumpen seit Jahrzehnten üppige Summen Geldes in die Palästinensergebiete, ohne dass sich dort etwas Nennenswertes entwickelt hätte. Die Milliarden landen…/ mehr

Chaim Noll / 31.12.2023 / 12:00 / 32

Warum ich mich trotzdem auf 2024 freue

Der Autor lebt im Süden Israels, und nur wenige Kilometer von ihm entfernt ist Krieg. Welche Hoffnungen verbindet er mit dem Jahr 2024 für Israel…/ mehr

Chaim Noll / 10.12.2023 / 10:00 / 112

Was ist seit 2015 an deutschen Schulen geschehen?

In der neuesten Pisa-Studie, die vergangene Woche vorgestellt wurde, schneiden die deutschen Schüler so schlecht ab wie noch nie. Der Abstieg nahm nach 2015 dramatische…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com