Die Italiener bewegten nicht nur die Europawahlen, sondern auch die Aufregung um eine Bemerkung des Staatspräsidenten oder eine Palästinenserflagge am Dom zu Mailand.
Am 2. Juni, dem Gründungstag der Italienischen Republik, Feiertag seit 1947, enthielt die Festrede von Staatspräsident Mattarella eine bemerkenswerte Feststellung: Die Wahlen zum Europäischen Parlament seien die „consacrazione“ der Souveränität der Europäischen Union. Außerhalb der religiös-liturgischen Bedeutung von Weihe heißt das so viel wie Krönung, also ein Vorgang, der etwas Bestimmtes über alles andere stellen soll.
Dass die europäische Elite die Schicksale Europas gerne von Brüssel aus steuern würde und die Nationalstaaten tendenziell im Wege sind, ist seit der einschlägigen Bemerkung des ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker klar, dass in Brüssel Schritt für Schritt, möglichst unterhalb der öffentlichen Wahrnehmung, vorgegangen wird, bis ein Schritt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Was Juncker ausgeplaudert hat, hat Festredner Mattarella auf seine Weise bestätigt. Vielleicht wäre die Wortwahl ohne große Resonanz geblieben, wenn nicht ein Abgeordneter der Lega Salvinis gefragt hätte, welchen Sinn das Amt des italienischen Staatspräsidenten noch hat, wenn der Souverän nicht mehr das italienische Volk, sondern die EU ist.
Bei der italienischen etablierten Presse wie dem Corriere della Sera, der Stampa oder der Repubblica hat Mattarella einen ähnlichen Stand wie bei den deutschen korrespondierenden Blättern der Bundespräsident – die Worte sind Offenbarungen jenseits kritischer Interpretation. Rücktrittsforderung für seine respektlose Bemerkung bekam nicht nur dessen Verfasser, sondern auch der Chef der Lega Salvini, der sich sofort bemühte, den Tweet seines Parteifreundes so niedrig wie möglich zu hängen.
Die Entweihung
Am Dom von Mailand hing über Stunden die palästinensische Flagge, unübersehbar zwischen zwei Pfeilern der Hauptfassade. Urheber dieser Schändung des Domes waren keine radikalen Moslems oder palästinensische Araber, sondern ein Abgeordneter der Liste „Verdi e Sinistra“. Grüne und Linke kandidieren gemeinsam für das EP, eine dankenswerte Klarheit!
Dem Skandal folgte ein zweiter: Weder die Kurie von Mailand noch der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, sonst schnell bereit, sich politisch zu positionieren, verloren ein Wort darüber. Und ebenso reagierte die oben in einem anderen Zusammenhang angeführte Presse. Ohne Internet wäre das Ganze eine Mailänder Lokalnotiz geblieben.
Ein Leser des konservativen Liberos meinte, das sei doch eine Staatsflagge, die mit dem Islam nichts zu tun habe. Man stelle sich vor, an der Fassade der Hagia Sophia würde die israelische Flagge befestigt, ebenfalls eine Staatsfahne. Die Bedeutung einer solchen Aktion würde dort sofort verstanden! Hier droht dem Kandidaten der Verdi e Sinistra eine Ordnungsstrafe. Wie der linke Bürgermeister von Mailand, Beppe Sala (Partito Democratico), korrekt feststellte, handelt es sich bei der Anbringung von Flaggen am Dom um einen Regelverstoß!
Das Opfer
Emotional bewegt hat die Italiener vor den Europawahlen eine menschliche Tragödie. Eines der großen Politik- und Diskussionsformate des Rete 4 machte am Vorabend der Wahl mit einem Video auf, das wohl jeden erschüttert hat, der das Video gesehen hat.
Drei junge Menschen im Alter von 20 bis 23 halten sich fest umarmt in den Fluten des Flusses Natisone, im norditalienischen Veneto. Sie wollten auf einer Insel des Flusses ein Examen feiern.
Eine Flutwelle schnitt die drei vom Ufer ab, Rettungsversuche der Feuerwehr blieben erfolglos, obwohl sich einer der Männer selbst der Gefahr des Hinweggespültwerdens aussetzte. Aus Telefonaten ergab sich, dass eine junge Frau nicht schwimmen konnte. Die anderen sind solidarisch bei ihr geblieben, obwohl sie sich vermutlich hätten retten können. Alle drei sind ertrunken.
Hermann Schulte-Vennbur, geb. 1952, Studium der Soziologie und Philosophie in Bonn, Bielefeld und Bologna. Promotion zum Dr. rer.soc. in Bielefeld. Nach dem Studienjahr in Bologna bis heute regelmäßige und längere Aufenthalte in Italien, Beschäftigung mit ital. Politik und Kultur. 2020 Veröffentlichung von „Ein Weg nach Rom“ (Amazon Verlag, auch E-Book). Beruflich lange Zeit in der Politikberatung tätig, u.a. als Referent für Heiner Geißler, später Interessenvertretung und politische PR-Beratung für Unternehmen. Ab 2008 Ausbildung zum Coach und Therapeuten. Heute Praxis für Coaching & Psychotherapie in Hennef (Sieg).