In seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ erzählt Egon Friedell folgende Anekdote: Henrik Ibsen sprach in einer Gesellschaft einmal begeistert über Otto von Bismarck. Die Anwesenden wunderten sich: Ibsen galt als politisch fortschrittlich, Bismarck als erzkonservativ. Wie konnte der norwegische Dramatiker einen solchen Staatsmann bewundern? Ibsen, so erzählt Friedell, soll nachsichtig gelächelt und mit einer Gegenfrage geantwortet haben: „Ja, haben Sie denn noch nie bemerkt, dass bei jedem Gedanken, wenn man ihn zu Ende denkt, das Gegenteil herauskommt?“
Friedells Anekdote fiel mir bei der Betrachtung der derzeitigen Ereignisse im Nahen Osten ein. Zuerst begrüßte ich den Umsturz in Tunesien und Ägypten vehement. „George W. Bush hatte recht“, schrieb ich an dieser Stelle (http://bit.ly/hBybH3), die Ereignisse in Nordafrika zeigten, dass die neokonservative Idee, wonach die Demokratie weltweite Verbreitung finden könne und solle, eben doch nicht so naiv sei, wie europäische Kommentatoren glaubten. Ich denke nicht, dass ich diese Ansicht widerrufen möchte – zumindest hat sich gezeigt, dass es auch in der arabischen Welt eine nicht allzu geringe Anzahl von Menschen gibt, welche eine Demokratie nach westlichem Vorbild fordern. Die Frage ist nur, wie groß diese Gruppe tatsächlich ist – insofern war meine Euphorie vielleicht ein wenig voreilig. Niemand weiß, wer nach Mubarak kommt – und der war zwar ein Diktator, aber er stand eben auch dem Westen relativ freundlich gegenüber.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse lohnt es sich, den Unterschied zwischen einer neokonservativen und einer klassisch konservativen Außenpolitik einmal näher zu betrachten. Unter einer konservativen Politik klassischer Prägung versteht man ein Vorgehen, das sich an den eigenen Interessen orientiert und dabei hehre Ideale außer Acht lässt (auch in Amerika verwendet man hierfür das deutsche Wort „Realpolitik“). Als typische Vertreter dieses Ansatzes gelten Richard Nixon und sein Berater und zeitweiliger Außenminister Henry Kissinger. „Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn“, soll Nixon über den nicaraguanischen Diktator Somoza gesagt haben (und er zitierte dabei, was schon Franklin Roosevelt über Somoza Senior gesagt hatte). Von neokonservativer Seite wird nun argumentiert, eine solche Politik sei unmoralisch, weil sie dazu führe, dass man gegebenenfalls einen Bund mit dem Teufel eingehe. Das ist richtig – und trotzdem ist es nicht so einfach, wie manche denken: dass Nixon und Kissinger 1973 Augusto Pinochet an die Macht brachten und dabei die demokratische Entscheidung des chilenischen Volkes für den Sozialisten Allende missachteten, wird heute – außer vielleicht von Margaret Thatcher – in allen politischen Lagern verurteilt. Andererseits hält man es rundherum für einen genialen Schachzug, dass sich der Präsident und sein Berater in Peking mit dem Massenmörder Mao Zedong an einen Tisch setzten – man verschaffte sich dadurch schließlich strategischen Spielraum im Kalten Krieg und trug zu der politischen und wirtschaftlichen Öffnung Chinas bei, die unter Maos Nachfolger Deng Xiaoping fortgesetzt werden sollte.
Im Gegensatz zur klassisch konservativen Politik, die Pragmatismus über Ideologien stellt, könnte man hinsichtlich der neokonservativen Position fragen, ob diese überhaupt konservativ ist. Verschiedentlich wurde sogar behauptet, George W. Bush sei eigentlich ein Linker, schließlich sei er doch ein Idealist, der unterdrückten Völkern Freiheit bringen wolle. In der Tat sind nicht wenige Vordenker des Neokonservatismus frühere Linke – etwa Irving Kristol, Norman Podhoretz und Nathan Glazer. Und Bushs engster Verbündeter, Tony Blair, ist als Mitglied der Labour-Partei nominell noch immer ein Sozialdemokrat. Kein Wunder, dass die wachsende Macht der Neokonservativen während der Bush-Ära in traditionell konservativen Milieus zu einigem Unbehagen geführt hat. Den Aufstieg der Tea Party muss man auch vor diesem Hintergrund sehen: viele Tea-Party-Aktivisten sind der Meinung, in den letzten zehn Jahren habe eine feindliche Übernahme der Republikanischen Partei durch die neo-cons stattgefunden. Ein Held dieser Graswurzelbewegung ist Ron Paul, ein Isolationist, der von den Neokonservativen spöttisch als „Paläo-Konservativer“ bezeichnet wird. Dass die „Paläo-Konservativen“ die Neo-Konservativen als dominierende Strömung innerhalb der Republikanischen Partei ablösen werden, ist nicht auszuschließen – eine Aussicht, die ironischerweise gerade die Europäer beunruhigen sollte, die sich doch so lautstark über den „schießwütigen Cowboy“ Bush beklagt haben: die Bereitschaft der paleo-cons, ihre Steuergelder für die Verteidigung Europas herzugeben, dürfte jedenfalls eher gering sein.
Was ist nun besser, „Realpolitik“ oder neokonservative Politik, Pragmatismus oder Idealismus? Wer hat recht, Nixon oder Bush? Vielleicht keiner ganz und beide ein bisschen. Anders gesagt: ein militärisches Eingreifen des Westens in Libyen ist angesichts der Brutalität des Regimes dringend geboten; die kommunistischen Machthaber in Peking durch eine Militäroperation stürzen zu wollen könnte dagegen nur einem Wahnsinnigen einfallen. Im ersten Fall wäre es notwendig, idealistisch zu handeln, im zweiten Fall wäre es Selbstmord. Das Beispiel China zeigt uns nebenbei bemerkt noch einen weiteren Unterschied zwischen beiden Ansätzen: im Gegensatz zur pragmatischen Politik ist eine neokonservative Politik reinsten Wassers in der Realität unmöglich – auch ein neokonservativer Politiker muss Kompromisse eingehen: Bush und Blair stürzten zwar einen Diktator, Saddam Hussein, aber sie arbeiteten mit anderen Diktatoren, etwa Mubarak, zusammen (ein Gewaltherrscher, mit dem sich der britische Premier ganz gut verstand, war übrigens Muammar al-Gaddafi). Man kann eben nicht alle autoritären Regime auf der ganzen Welt stürzen – selbst dann nicht, wenn man Oberbefehlshaber der größten Militärmacht ist. Dieser unvermeidliche Konflikt zwischen Idee und Handeln hängt damit zusammen, dass der Neokonservatismus im Gegensatz zur „Realpolitik“ eben eine Ideologie ist: „Realpolitik“ wurde und wird von Strategen wie Kissinger im Oval Office ausgeheckt; neokonservative Politik dagegen basiert auf Ideen, die in Think Tanks von Akademikern erdacht wurden. Und jede Theorie ist bekanntlich grau. Wie sagte der kolumbianische Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila so schön: „Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten.“
Hansjörg Müller schreibt auch für „El Certamen“, eine kolumbianische Online-Zeitschrift (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/