Von Wolfgang Kolb.
Viele Nigerianer fliehen wegen der Zustände im Land ins Ausland. Die Führer Nigerias spüren etwas und fürchten es – Wind of Change. Eine Entwicklung, die, einmal in Bewegung gesetzt, nicht mehr aufzuhalten oder zu kontrollieren ist.
Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, hat im Laufe seiner Geschichte viele Hochs und Tiefs erlebt, nach einer euphorischen Wachstumsphase im Zuge der Unabhängigkeit über einen verheerenden Bürgerkrieg, dessen Wunden noch nicht geheilt sind, zu einem stabilen Aufschwung in den 1990er Jahren, der bis in die Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts anhielt. Während dieser Zeit wuchs Nigerias Wirtschaft zur stärksten ökonomischen Macht Afrikas an, welches dem Land den Titel ‚Giant of Africa‘ einbrachte.
Diese Tage sind längst Vergangenheit, ausradiert durch Missmanagement, falsche politische Entscheidungen und den Umstand, dass Herrscher den Ratschlägen der eigenen Clan-Mitglieder mehr vertrauen als externen Beratern, egal ob diese über entsprechende Qualifikationen verfügen.
Neben Rohöl, Flüssiggas, Kunstdünger und Kakao, Kokosnüssen, Cashewnüssen und Ölsamen ist Gold eines der wichtigsten Exportgüter des Landes. Eine weitere, oft unterschätzte, aber wichtige Einnahmequelle für Nigerianer ist der Online- oder Liebesbetrug. Entweder umschrieben als 409er, benannt nach dem Paragrafen des nigerianischen Strafgesetzes, oder einfach Yahoo Boy, dem Betrug sind fast keine Grenzen gesetzt.
Die größten Erdölreserven Afrikas
Verständlich wird dies, wenn man sich die durchschnittlichen Gehälter von Arbeitern und Angestellten vor Augen führt. Ein Lehrer einer weiterführenden Schule verdient ca. 43 Euro pro Monat, das Gehalt eines Ingenieurs liegt bei ca. 800 Euro pro Monat, und ein Doktor verdient ca. 200 Euro pro Monat. Demgegenüber stehen inflationsbedingt hohe Ausgaben. Expatistan, eine Seite für Auswanderungswillige, beziffert die monatlichen Lebenshaltungskosten für eine vielköpfige Familie mit ca. 1.100 Euro.
Kultstatus errangen Emmanuel Nwude, der Brasiliens Banco Noroest Brazil davon überzeugte, 242 Millionen US Dollar in einen Flughafen zu investieren, oder Ramon Olorunwa Abbas, gemeinhin bekannt als Hushpuppi, dem man „Romance Scam“ zum Schaden hunderter geprellter Männer sowie Geldwäsche in Höhe hunderter Millionen US Dollar vorwarf. Während Ersterer nach Absitzen der Hälfte einer 25-jährigen Gefängnisstrafe zur Zeit auf freiem Fuß ist, verbüßt Letzterer zur Zeit eine elfjährige Gefängnisstrafe in den USA.
So paradox es klingt – Nigeria hat die größten Erdölreserven Afrikas, und der Export von Rohöl macht den größten Teil der Staatseinnahmen aus, aufgrund von Überalterung der vorhandenen Raffinerien jedoch eine vergleichsweise geringe Produktion von Kraftstoff für die heimische Wirtschaft. Das Land importierte in der ersten Hälfte des Jahres 2023 ungefähr 2,83 Millionen Kubikmeter Diesel sowie 12 Millionen Kubikmeter Benzin, eine Steigerung von ca. 49 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Privatwirtschaftliche Initiativen
Um den omnipräsenten Engpass an Benzin und Diesel zu bekämpfen, hat der Industrielle Aliko Dangote, bekannt als der reichste Mann Afrikas, eine eigene Raffinerie gebaut und in Betrieb genommen. Gelobt für sein Engagement, angefeindet aufgrund seines Erfolges, hat er schlussendlich frustriert der nigerianischen Erdölunternehmung NNPC angeboten, seine Raffinerie zu übergeben. 75 Prozent der nigerianischen Stromerzeugung erfolgt durch Dieselgeneratoren, in einem Land, in dem mehrtägige Stromausfälle zur Tagesordnung gehören. Der bisher subventionierte Kraftstoffverkauf diente auch der Versorgungssicherheit von Unternehmen und Privathaushalten, die auf eigene Stromgeneratoren setzen.
Heute rangiert Nigerias Wirtschaft auf einem bescheidenen vierten Platz, überholt von Südafrika, Ägypten und Algerien. Neben der Entkoppelung des Naira vom US Dollar und strikter Austeritätsmaßnahmen zur Reduzierung der Staatsausgaben, eingeführt unter Präsident Tinubu, gehört auch das Ende der Subventionierung von Treibstoff und Flüssiggas, welches vor allem die Armen trifft – wird doch traditionell mit Gas gekocht. Daneben kämpft Nigeria immer noch mit ausufernder Korruption auf allen Ebenen sowie den Rebellen, Banden und muslimischen Milizen im Norden des Landes.
Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Situation im Land und der geringen Aussichten auf eine schnelle Besserung versuchen viele Nigerianer, das Land zu verlassen. Neben der ehemaligen Kolonialmacht England ist Deutschland ein beliebtes Ziel. Wie Deutsche Welle und Schengen.News übereinstimmend berichteten, leben allein in Deutschland ca. 14.000 Nigerianer ohne gültigen Aufenthaltstitel, welche die Abschiebung erwartet. Kanzler Scholz hat daher Präsident Tinubu im Oktober 2023 in Abuja besucht, um Details zu besprechen. Da ca. 12.500 davon keine nigerianischen Papiere besitzen, weigert sich Nigeria, diese Personen die Einreise zu genehmigen, für den Rest erwartet Nigeria eine enge Zusammenarbeit und Investitionen von Deutschland.
Falsche Versprechungen
Nach Zahlen, die ATL Money, ein Unternehmen welches international Zahlungsdienstleistungen anbietet, vorliegen, befinden sich die fünf größten nigerianischen Diaspora in den USA, England, den UAE, Saudi Arabien, Italien – sowie Deutschland an sechster Stelle. Überweisungen in die Heimat tragen wesentlich zum Sozialprodukt Nigerias bei, diese betrugen nach Informationen der World Bank im Jahr 2020 ca. 17 Milliarden US-Dollar.
Leider werden viele Migranten mit falschen Versprechungen auf Arbeit, Wohnung und Wohlstand als Illegale nach Europa gelockt, viele Frauen enden in Zwangsprostitution als den für sie einzigen Weg, das Geld, welches die Familie für die Migration nach Europa aufgewendet hat, zu verdienen und zurückzuzahlen. Diese Themen wurden in den Dramen „Òlòtūré“ des nigerianischen Filmemachers Kenneth Gyang sowie „Joy“, der österreichisch-iranischen Filmemacherin Sudabeh Mortezai, eindrucksvoll filmisch verarbeitet, welche nationale und international Preise erringen konnten.
Stephan Fagbemi, anglikanischer Bischof der Owo Diözese, hat den Präsidenten öffentlich dazu aufgerufen, eine Lösung der andauernden wirtschaftlichen Probleme und ständigen Überfälle auf die Bauern im Norden des Landes zu finden. Die Sicherheit der Bevölkerung im Norden des Landes ist nicht gewährleistet, trotz gegenteiliger Beteuerungen von Militär und Gouverneuren. Organisierte Banden überfallen, berauben und töten regelmäßig Reisende; Boko Haram, Islamic State West Africa Province (ISWAP), Fulani Milizen sowie muslimische jihadistische Banden verüben Gräuel an der christlichen Landbevölkerung, was zu Fluchtbewegungen in Richtung Süden führt.
Opfer, für die niemand im Westen demonstriert
Nach vorsichtigen Schätzungen von Genocide Watch sind seit 2000 circa 62.000 Christen in Nigeria ermordet worden. Neben den Überfällen und dem Massakrieren ganzer Dörfer machen Entführungen von Schulkindern immer wieder Schlagzeilen. Laut der in Nigeria ansässigen SBM Intelligence Group wurden allein zwischen Juli 2022 und Juni 2023 mehr als 3.600 Menschen entführt, im März 2024 wurden in Kaduna State und Sokoto State über 300 Kinder entführt.
Viele dieser entführten Kinder werden an Söldner der Milizen zwangsverheiratet, als Haussklaven gehalten oder für Waren eingetauscht. Daneben gibt es auch sinistre Absichten. Human Rights Pulse spricht von Child Harvesting – einem wachsenden Markt, der den Wunsch nach Adoptiv-Babies ohne lästige Schwangerschaft bedient. Shola Ogundipe fasst für Vanguard in einem Report den wachsenden Schwarzmarkt des Organhandels zusammen, die National Agency for the Prohibition of Trafficking in Persons (NAPTIP) konnte in 2017 ein illegales Netzwerk von Spendernieren für den internationalen Organhandel aufdecken, was nur die Spitze des Eisbergs darstellt.
Für diese Opfer demonstriert im Westen niemand, es gibt keine Solidaritätsbekundungen, besetzte Universitäten oder Straßenblockaden. Anders als für Klimaflüchtlinge, für die medienwirksam in westlichen Ländern ein Recht auf Klima-Asyl gewährt wird, interessiert sich für die Unterdrückten und Verfolgten, häufig Frauen und Kinder als die Wehrlosesten, niemand.
Kindersoldaten als Nachschub endloser Kriege
Für diese Opfer gibt es keine gutorganisierten PR Kampagnen von westlichen Agenturen oder Unterstützergruppen, keine Bekundungen von motivierten Omas oder einer feministischen Außenpolitik geschweige denn westlicher NGOs, nicht zu reden von finanziellen Hilfen für Opfer oder Prävention. Diese Opfer sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt.
Nach einer Reportage in Reliefweb wurden nach Ansicht der UN allein zwischen 2013 und 2017 3.500 Kinder als Söldner verpflichtet. Theirworld, eine NGO welche sich den Schutz von Kindern verpflichtet fühlt, berichtet von Kindern, die von Boko Haram zum Kampf gegen Christen im Norden Nigerias zwangsverpflichtet werden. Es ist davon auszugehen, dass nigerianische Kinder gegen Waffen eingetauscht werden, um im Jemen oder Libyen zu kämpfen.
Eindrucksvoll thematisiert hat dies der Filmemacher Cary Joji Fukunaga in dem international gelobt und beachteten Film ‚Beast Of No Nation‘, in dem Idris Elba als Führer einer Milizengruppe und Abraham Attah als das Opfer einer Entführung und anschließender Zwangsverpflichtung als Söldner, zusammen mit vielen afrikanischen Laienschauspielern, das Grauen und die Aussichtslosigkeit einer Söldnerarmee einem breiten Publikum nahebringt.
Ein Rütteln an den Säulen der Macht
Selbst die bisher zurückhaltenden Monarchen in Nigeria, allen voran der mächtige Ooni von Ife, Oba Adeyeye Enitan Ogunwusi, drängen auf schnelle und tiefgreifende Änderungen in der Struktur des Landes. Die Zeit von Reden und Versprechungen sei vorbei, so Ogunwusi, es müssen nun Taten folgen. Zu stark sind der Druck und der soziale Sprengstoff, der sich in Nigeria entwickelt – und unvergessen die ‚End SARS‘-Proteste im Oktober 2020 gegen ungerechtfertigte Polizeigewalt, die von der Regierung unter Buhari brutal mit Hilfe der Armee niedergeschlagen wurden. Wie Africanews berichtete, wurden über 100 Tote auf Seiten der Protestierenden gezählt, die tatsächlichen Opferzahlen sind wahrscheinlich höher.
Nigeria kämpft auf vielen Ebenen einen aussichtlosen Kampf. Neben einer ausufernden Inflation, keiner oder geringen wirtschaftlichen Aussichten für die Jugend, vernachlässigter Bildung, einer zerfallenden Infrastruktur, einer immer wieder aufflammenden Unabhängigkeitsbewegung in Biafra und einer desolaten medizinischen Grundversorgung für weite Teile der Bevölkerung versucht, die nigerianische Regierung, dem Auseinanderfallen der Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS entgegenzusteuern.
Burkina Faso, Mali und Niger haben nach dem Militärputsch in ihren Ländern gemeinsame Erklärungen abgegeben, dass sie das Bündnis verlassen werden. Dies trifft das wirtschaftlich angeschlagene Nigeria besonders, exportiert es doch laut Vanguard im ersten Quartal 2024 in ECOWAS-Staaten Waren und Dienstleistungen im Wert von ca. 1 Million Euro.
Was wird die Zukunft bringen
Die Führer Nigerias spüren etwas und fürchten es – Wind of Change. Eine Entwicklung, die, einmal in Bewegung gesetzt, nicht mehr aufzuhalten oder zu kontrollieren ist. Ibrahim Traoré, Abdourahamane Tchiani und Assimi Goita sind die Helden Westafrikas. Nicht nur haben sie die Macht von korrupten Führern übernommen, den Armen ihrer Länder eine bessere Zukunft versprochen und Lebensbedingungen verbessert. Sie haben es auch erfolgreich gewagt, die große Militärmacht Frankreich aus dem Land zu werfen und den USA die Stirn zu bieten.
Bisher konnten die Präsidenten Buhari und Tinubu sich auf ihre Stammwähler aus ihren Ethnien, zusammen mit reichlich geschmierter motivierter Unterstützung bei den Wahlen, verlassen. Ein „Weiter so!“, wie noch vor Monaten starrsinnig von Tinubu verkündet, zusammen mit einer Stellungnahme, dass er keine Kursänderung seiner aktuellen Politik vornehmen wird, stößt bei den Eliten auf immer mehr Widerstand. Ireti Bakare-Yusuf, eine bekannte nigerianische Radio- und Fernsehmoderatorin, hat öffentlich die Eliten kritisiert und dazu aufgerufen, in Nigerias intellektuelle und wirtschaftliche Zukunft zu investieren und auf neue gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren.
Etwas, was noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wäre.
Wolfgang Kolb (*1969) hat abgeschlossene Lehren als Handelsfachpacker in Bayern und Büchsenmacher in Hessen, war an der FOS Bamberg und studierte Betriebswirtschaft in Coburg. Er wohnt seit 2008 im Ausland und ist seit 2022 in Auckland, Nordinsel als Product Manager für Health New Zealand – Te Whatu Ora, im staatlichen Gesundheitswesen, tätig. Mit seiner nigerianischen Frau ist er seit 12 Jahren zusammen, wodurch sein Interesse an diesem Land geweckt wurde.