Nach dem frühen Tod von Ulrich Schacht fiel mir ein kurzes Interview ein, das ich als Korrespondent der FAZ 1994 mit dem Schriftsteller geführt habe. Vier Jahre nach der Wiedervereinigung hatte er einen „Berliner Appell“ initiiert, der vor der „Wiederkehr“ des Sozialismus in Deutschland warnte.
„Große Teile der Medien und der Intellektuellen“, hieß es darin, „versagen sich der Notwendigkeit einer konsequenten Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur. Vor allem steht aber die westdeutsche Vergangemheitsbewälrtigung aus, also die kritische Auseinandersetzung mit der über Jahrzehnte betriebenen Verharmlosung und Schönfärberei der SED Diktatur durch Politiker, Medien und Intellektuelle der alten Bundesrepublik.“ Statt dessen würden „konservative Intellektuelle, Journalisten und Politiker zunehmend ausgegrenzt und in die Nähe von Rechtsextremisten gerückt“: „Unter der Parole des ‚Antifaschismus’ wird eine Hexenjagd auf Konservative und demokratische Rechte betrieben.“
Unterzeichnet war der Aufruf von 181 Persönlichkeiten, Schriftstellern, Politikern, Künstlern, Ärzten, Unternehmern und Publizisten, darunter die sächsischen Minister Arnold Vaatz und Steffen Heitmann, der Historiker Michael Wolffsohn, die Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der langjährige Leiter des ZDF- Magazins Gerhard Löwenthal, die Schriftsteller Walter Kempowski und der vielfach ausgezeichnete Hans Joachim Schädlich. Auch der heutige Achgut-Autor Chaim Noll stand auf der Liste.
Einige bekamen dann aber schnell kalte Füße, wollten es nach der Diffamierung des Appells als „salonfaschistisches Dokument“ plötzlich nicht mehr gewesen sein. Die Lyrikerin Sarah Kirsch und der Dichter Kurt Drawert behaupteten gar, sie seien gegen ihren Willen als Unterzeichner aufgeführt worden. Daraufhin führte ich das am 10. Oktober 1994 in der FAZ erschienene „Gespräch mit Ulrich Schacht“ und fragte ihn:
"Übereinstimmend erklären Sarah Kirsch und Kurt Drawert, den "Berliner Appell" nicht wirklich unterzeichnet zu haben. Der Text, sagen sie, hätte ihnen nie vorgelegen. Was ist geschehen?
Die Erstunterzeichner, zu denen Sarah Kirsch gehört, wurden von den Initiatoren – in diesem konkreten Fall von mir – per Telefon vom Wortlaut des Textes in Kenntnis gesetzt und um Zustimmung gebeten. In diesem ersten Telefonat schon stimmte Sarah Kirsch zu und fragte zugleich nach weiteren Unterzeichnern. Als ihr die bis dahin bekannten Namen genannt wurden, darunter der von Hans Joachim Schädlich, stimmte sie nochmals zu. Was Kurt Drawert betrifft, so wurden ihm der Text und die komplette Unterschriftenliste am 23. September, fünf Tage vor dem Erscheinen, in Neubrandenburg übergeben.
Das heißt, es steht niemand unter dem Text, der ihn nicht wirklich unterzeichnen wollte?
Selbstverständlich nicht.
Gab es überhaupt Absagen?
Natürlich. Jeder Kenner der Szene wird einige Namen vermissen, Reiner Kunze und Jürgen Fuchs zum Beispiel. Auch sie wurden gefragt, hatten aber partielle oder prinzipielle Einwände oder Wünsche, die nicht berücksichtigt werden konnten. Also sind sie nicht als Unterzeichner genannt. Auch das versteht sich von selbst.
Wie aber erklären Sie sich dann das Zurückweichen von Kirsch und Drawert?
In letzter Konsequenz kann ich mir diesen bedauerlichen Rückzug, der mich außerdem in Widerspruch zu zwei mir wichtigen Autoren bringt, nicht erklären. Aber es gibt Indizien, die auf ein bedrückendes Klima verweisen, das seit der Veröffentlichung des Appells gegen PDS und linke Restauration auf den beiden lastet. Sowohl Sarah Kirsch als auch Kurt Drawert riefen mich an und bedeuteten mir erregt, daß sie unter Druck stünden. Ihre Kritik am Appell bezog sich in diesen Gesprächen auf mehrere CDU-Politiker in der Unterschriftenliste. Was mich auch deshalb überraschte, weil Sarah Kirsch erst im vergangenen Jahr einen Kulturpreis der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung entgegengenommen hat.
Wie hat man sich den Druck vorzustellen, können Sie dazu Genaueres sagen?
Ja, auch Helga Schubert (eine weitere der unterzeichnenden Schriftstellerinnen) wurde unterdessen bei einem Interview bedeutet, daß sie sich mit ihrer Unterschrift, zu der sie weiter steht, in einen angeblich rechtsradikalen Zirkel begeben habe. Und dem gleichen ungeheuerlichen Vorwurf wurden die anderen ausgesetzt.
Unterdessen hat es aber auch Kritik an dem Aufruf selbst gegeben, insbesondere daran, daß er vor einer "Wiederkehr des Sozialismus" glaubt warnen zu müssen. Wo sehen Sie derzeit Anzeichen für eine solche Gefahr?
Wenn man den Begriff Sozialismus stur systemlogisch oder historisierend deutet, scheint eine solche Formulierung natürlich übertrieben. Wenn man mit ihr aber die politische Mentalität im Westdeutschland der letzten dreißig Jahre und die politische Mentalität der DDR charakterisiert, dann ist der Begriff äußerst genau und erklärt die praktischen Folgen dieser doppelten Sozialismusmoral. Das Beispiel Magdeburg - die zwar heftig geleugnete, aber höchst erfolgreiche Zusammenarbeit von SPD und PDS - ist keine Fiktion, sondern Realität. Und die inzwischen immer öfter bekundete Nähe von Bürgerrechtlern in den neuen Ländern zur PDS, bei gleichzeitiger Totaldistanz zu den demokratischen Parteien, zur CDU vor allem, zeigt, daß der Sozialismus offenbar nicht mehr im Zusammenhang mit seinem real existierenden Schrecken gesehen wird. Ich erkenne in diesem Prozeß eine Bedrohung unserer Demokratie. Von dem Affront gegen die Opfer der SED-Diktatur ganz zu schweigen.
Sie selbst sind in der DDR aufgewachsen, waren jahrelang inhaftiert und haben dann im Westen immer wieder davor gewarnt, sich von der sozialistischen Utopie täuschen zu lassen. Gleichwohl aber waren Sie viele Jahre Mitglied der SPD. Heute dagegen sehen Sie sich als einen eher konservativen Demokraten. Was verbinden Sie mit den Wörtern konservativ und rechts?
Die sozialistische Ideologie operiert seit langem mit einem verführerisch positiven Menschenbild. Wer sich selbst aber in seinem Werden betrachtet, wird seine Fehler und Schwächen, sein eigenes Negativpotential nicht übersehen können und über solche Selbsterkenntnis ein kritischeres Bild gewinnen. Ich möchte es heute ein realistisches nennen. Und der Konservative ist für mich einer, der in diesem Sinn über die realistischere Anthropologie verfügt. Rechts sein heißt, den Menschen und seine Geschichte vor der Versklavung durch den Fortschritt in Schutz zu nehmen, also an Traditionen zu erinnern, an beständige Werte, die uns nicht in Sinnleere und Beliebigkeit fallen lassen, sondern geistigen Überlebensgrund vermitteln."
Als ich dieses Interview vor bald 25 Jahren führte, wurde Ulrich Schacht von der Mehrheit als ein Hysteriker abgetan. Einer, der aus dem Feuer kommt, meinte man, sollte nicht in der Asche stochern. Dabei hatte die eigene Biographie, von der Geburt im ostdeutschen Frauengefängnis Hoheneck bis zu jahrelangen Inhaftierung wegen „staatsfeindlicher Hetze“, seinen politischen Blick in einer Weise geschärft, die ihn voraussehen ließ, was wir heute erleben.
Lange bevor Angela Merkel, die einstige FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda, das Zepter in die Hand bekam, konstatierte Ulrich Schacht die faktische Abschaffung der Meinungsfreiheit, ihre Einengung auf das linke Spektrum. Durch die politisch und medial befeuerte Ausgrenzung rechter Überzeugungen, ihre längst landläufige Gleichsetzung mit rechtsradikalem Denken, verkommt die Demokratie zu einer Farce. Dass das nicht vorhersehbar gewesen sei, kann niemand behaupten. Ulrich Schacht hat „das bedrückende Klima“ schon vor einem Vierteljahrhundert kommen sehen. Er wusste, was uns droht, wenn es den Linken gelingen sollte, sich wieder mit ihrem totalitären Wahrheitsanspruch durchzusetzen, Angst vor abweichenden Vorstellungen zu schüren.