Zu den ewigen Konstanten deutscher Wahlberichterstattung gehört es, dass Politiker und Journalisten eine ständig sinkende Beteiligung der Bürger beklagen. Nur noch 59 Prozent Wahlbeteiligung bei der Hamburger Bürgerschaftswahl – beim letzten Mal waren es immerhin noch 63. Im internationalen Vergleich scheint das politische Interesse der Deutschen noch vergleichsweise hoch zu sein: in Amerika und der Schweiz gehen für gewöhnlich nur um die 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. „Ich interessiere mich nicht für Politik, das ist mein gottverdammtes Recht als Amerikaner“, lässt der Romancier John Updike seinen Helden Harry „Rabbit“ Angstrom sagen.
Doch was ist eigentlich so schlecht an einer niedrigen Wahlbeteiligung? Nichtwähler wendeten sich ab von unserer Demokratie, behauptete der damalige Parlamentspräsident Wolfgang Thierse anlässlich der Bundestagswahl 2002. Doch tun sie das wirklich? Vielleicht ist ihnen auch einfach nur egal, wer regiert. Wenn es keinen attraktiven Kandidaten gibt, warum sollte man dann wählen gehen? Um das berufliche Fortkommen von mittelmäßigen Karrieristen zu unterstützen?
Der ein oder andere mag nun einwenden: zumindest sollte man sich für das geringere Übel entscheiden. Das mag in bestimmten Situationen richtig sein: der liberale italienische Journalist Indro Montanelli, ein großer Antifaschist und Antikommunist, schrieb einmal im Mailänder „Corriere della Sera“, er wähle jeweils die Democrazia Cristiana, aber er tue dies mit der geballten Faust in der Tasche. Montanelli sah, wie korrupt und verkommen die Christdemokraten waren, aber er wusste auch, dass sie die einzige Alternative zu den Kommunisten darstellten, die das Land ruiniert und die Demokratie abgeschafft hätten. Heute würde er vielleicht zähneknirschend für die Linke stimmen, um Berlusconi aus dem Amt zu jagen. Aber Angela Merkel ist kein Berlusconi und Sigmar Gabriel kein Kommunist. Abgesehen von der Linkspartei gibt es kein Übel, das so schlimm wäre, dass es unbedingt verhindert werden müsste.
Vielleicht ist eine niedrige Wahlbeteiligung sogar ein gutes Zeichen: die Demokratie ist für die Bürger selbstverständlich geworden; man muss sich nicht unbedingt für Politik interessieren. In der Endphase der Weimarer Republik waren die Deutschen hoch politisiert. Kurz darauf ging es mit der Republik zu Ende. Anders in England und Amerika: als Sebastian Haffner 1938 ins englische Exil ging, wunderte er sich, dass es in London keine politischen Aufmärsche wie in Berlin gab. Ähnlich erging es Thomas Mann in den USA: während in Deutschland Nazis und Kommunisten durch die Straßen marschierten und sich Saalschlachten lieferten, galt es bei den Paraden in den Straßen New Yorks, Baseballmeisterschaften der Yankees zu feiern. Die politischen Verhältnisse waren vergleichsweise stabil, also konnten sich die Bürger um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Heute ist die Wahlbeteiligung in der Schweiz und den USA besonders niedrig – dennoch sind gerade diese Länder die ältesten und stabilsten Demokratien.
Vor einigen Wochen veröffentlichten Forscher der Universität Zürich und des Wissenschaftszentrums Berlin eine Rangliste der europäischen Demokratien. Belgien, ein Land, das seit Monaten keine Regierung hat und möglicherweise vor dem Zusammenbruch steht, erreichte einen hervorragenden dritten Platz. Die urdemokratische Schweiz landete dagegen abgeschlagen auf Platz 14. Grund: die niedrige Wahlbeteiligung. (Außerdem beklagten die Wissenschaftler, in der Schweiz gingen vor allem gut Ausgebildete und gut Verdienende wählen – so als sei es Sache des Staates, bestimmte Teile der Bevölkerung zum politischen Engagement zu motivieren). Angesichts dieser mit Schweizer Steuergeldern geförderten Studie geriet selbst Helmut Hubacher, als früherer Vorsitzender der Schweizer Sozialdemokraten sicher kein Nationalist, in patriotische Wallung: es gebe halt auch gescheite Dummköpfe, schrieb er in einem Gastbeitrag für die „Basler Zeitung“ und außerdem gehöre es zur Demokratie eben auch, abseits stehen zu dürfen. Von dieser Erkenntnis sind deutsche Politiker und Journalisten weit entfernt – gibt es bei ARD oder ZDF eine Diskussion der Spitzenkandidaten, so kann man sicher sein, mit welchen Worten die Sendung enden wird: „Egal, wie Sie sich entscheiden, gehen Sie wählen, verschenken Sie Ihre Stimme nicht“, wird der Moderator am Ende sagen. Das ist nun, mit Verlaub, eine Unverschämtheit, die wir Fernsehgebührenzahler uns verbitten sollten. In einer freien Gesellschaft haben Journalisten dem Bürger nicht zu erzählen, was er tun oder lassen soll.
Hansjörg Müller schreibt auch für „El Certamen“, eine kolumbianische Online-Zeitschrift (http://www.elcertamenenlinea.com). Eine vollständige Übersicht über seine Veröffentlichungen finden Sie unter: http://thukydidesblog.wordpress.com/